[1701] NEMESIS, is, Gr. Νέμεσις, εως, (⇒ Tab. I.)
1 §. Namen. Diesen hat sie von dem Griechischen νέμειν, austheilen, weil sie einem jeden das Seinige mittheilet, Auctor Iibelli de Mundo ap. Voss. Etymol. sub Nemus, p. 395. oder auch von νεμεσάω, ich zürne, weil sie ihren Zorn die Bösen fühlen läßt. Pasor Ind. Hss. in Νέμεσις. Sonst heißt sie auch Adrastea, oder Adrallia, imgleichen Rhamnusia, welche Namen nachzusehen stehen.
2 §. Aeltern. Nach einigen war sie eine Tochter des Erebus und der Nacht, Hygin. Præf. p. 2. nach andern, des Oceans und der Nacht, jedoch so, daß ihrer zugleich mehr, als eine waren, Pausan. Achaic. c. 5. p. 405. nach den dritten, der Gerechtigkeit, Ammian. ap. Voss. Theol. gent. l. VIII. c. 14. und endlich nach den vierten, Jupiters und der Nothwendigkeit. Anonym. ad Callimachi Poëmat. a Catullo Latine reddit. p. 270.
3 §. Wesen. Sie war eine Göttinn, [1701] welche insonderheit die Menschen, wegen ihres Hochmuths, und der daher rührenden Frevelthaten, wie auch ihrer übermüthigen Bosheit halber, strafete. Macrob. Sat. l. I. c. 22. & Pausan. Att. c. 33. p. 62. Dagegen belohnete sie das Gute, und unterdrückete also bald die Stolzen und erhob die Frommen aus dem Staube. Ammian. Marc. l. XIV. c. 39. Sie wird daher für eine strenge Göttinn gehalten; Catull Epigr. 51. und zwar so gar des Krieges, Struv. Synt. A. R. c. 1. p. 171. wie nicht weniger der Todten, Suid. in Νεμεσία, T. II. p. 606. und auch der Verliebten. Paus. Att. c. 33. p. 62. Einige machen aus ihr eine doppelte Göttinn, deren eine machen soll, daß ein Mensch nichts Böses begehe, die andere aber ihn dafür bestrafe, wenn er solches gethan hat. Cleric. ad Hesiod. Theog. v. 223.
4 §. Thaten. Als die Perser ehemals in Griechenland einfielen, und ein großes Stück parischen Marmor mitbrachten, ein Siegeszeichen daraus verfertigen zu lassen, so bestrafete sie deren Hochmuth dadurch, daß sie auf dem marathonischen Gefilde völlig geschlagen, und ihr dargegen von dem Phidias eine Bildsäule aus besagtem Marmor gemacht wurde. Pausan. Att. c. 33. p. 62. Da die Bosheit der Menschen aber allzu groß wurde, so verließ sie die Erde auch wieder, und floh mit der Schamhaftigkeit in den Himmel. Hesiod. ap. Voss. Theol. gent. l. VIII. c. 14.
5 §. Liebeshändel. Es verliebte sich Jupiter in dieselbe, dem sie zu entgehen, sich in eine Gans verwandelte. Allein, Jupiter nahm dargegen die Gestalt eines Schwans an, wurde ihrer also mächtig, und sie gebar davon ein Ey. Dieses fand ein Schäfer im Walde und brachte es der Leda, welche es in einem Kasten verschloß, da denn mit der Zeit die Helena aus demselben hervor kam, welche die Leda auferzog, und für ihre eigene Tochter angab. Apollod. l. III. c. 10. §. 7. & Tzetz. ad Lycophr. v. 87. Einige wollen, daß Castor und Pollux zugleich mit aus solchem Eye entstanden, und der Ort ihrer Zusammenkunft mit dem Jupiter insonderheit [1702] zu Rhamnus, in Attika, gewesen. Schol. ad Callim. Hymn. in Dian. v. 232. Venus mußte sich dabey, auf Jupiters Verlangen, in einen Adler verwandeln, welcher den Schwan verfolgete, der sich dargegen in der Nemesis Schooß flüchtete, die ihn aufnahm, allein so gleich mit einem Schlafe befallen wurde, dessen sich Jupiter nach seinem Willen bedienete, und sodann wieder davon flog. Nemesis gebahr davon ein Ey, welches Mercurius der Leda nach Sparta brachte, aus dem mit der Zeit die Helena hervor kam. Weil aber solche Begebenheit dem Jupiter so wohl gefallen, so versetzete er das Bild des Schwans, wie er von dem Adler verfolget wird, mit an den Himmel. Hygin. Astron. Poet. l. II. c. 8. Andere erzählen dabey noch, es habe sich auch Nemesis, um dem Jupiter zu entgehen, mit in einen Schwan verwandelt. Eratosth. Cataster. 25. Diese Geschichte wird auf einem herkulanischen Gemälde vorgestellet, wo Nemesis dadurch kenntlich wird, daß sie einen Schein um den Kopf hat, welcher sie nicht für die Leda halten läßt. Sie steht ganz nackend und nur auf der linken Seite mit einem weißen Tuche etwas bedeckt, vor einem Bette mit goldfarbichten Füßen, rothem Geländer, und einem weißen Betttuche beleget. Sie hat den Schwan auf dem linken Arme unter den Flügeln, der sie mit gekrümmtem Halse küsset, welchen sie aber mit der rechten Hand davon abzuziehen suchet. Doch scheint sie in einer Stellung, als wenn sie zurückfallen wollte. Der Schwan ist auch in einer Bewegung, die seine Begierde genug anzeiget. Pitt. ant. d'Erool. T. III. tav. 9.
6 §. Bildung. Sie wurde als ein ansehnliches Frauenzimmer gebildet, welches auf dem Haupte eine Krone hatte, auf welcher einige Hirsche und das Bild der Victoria stunden, in der einen Hand aber einen Ast von einem Eschenbaume, und in der andern eine Schaale hielt. Pausan. Att. c. 33. p. 62. Und auf diese Art, jedoch mit einem Zweige von einem Apfelbaume in der Hand, bildete sie Phidias aus dem obgedachten[1703] Stücke Marmor. Hesych. in Ραμνουσία, p. 811. Jedoch wollen andere, daß nicht sowohl er selbst, als vielmehr einer seiner Schüler, solche verfertiget habe, und daß sie anfänglich eine Venus habe werden sollen. Plin. H. N. l. XXXVI. c. 5. Sonst hatte sie auch in der einen Hand einen Zaum, und in der andern das Maaß eines Cubitus, oder einer Elle. Poeta Gr. ap. Vulcan. ad Callim. Hymn in Cerert v. 57. & Suid in Ὑπὸ πῆχυν, T. III. p. 558. & ad eum Kuster. l. c. Mit dieser Elle kömmt sie denn auch vielfältig auf den Gemmen vor. Caus. gem. antiche fig. t. 83. Jedoch soll solche kein wirkliches Maaß seyn dürfen. Winkelm. Mon. ant. p. 30. P. I. Auf den römischen Münzen sieht man sie oft mit einem Diadem auf dem Haupte. Voss. Theol. gent. l. IX. c. 36. Anstatt dessen hat sie auf einer cizicenischen des K. Macrin eine Mauerkrone, wie die veres, auf dem Haupte. Buonar. Osserv. sop. alc. Med. p. 219. Mit dergleichen hat man sie auch auf einer Bildsäule versehen, welches sie vorstellen soll, und sonst kein weiteres Kennzeichen von ihr hat, als daß sie in dem rechten Arme einen Zweig trägt, und mit der linken Hand einen Theil ihres Kleides über die Brust nach dem Kopfe zu aufhebt. Winkelm. l. c. mon. 25. In dieser Stellung kömmt sie denn auf verschiedenen Gemmen vor. Caus. l. c. tav. 83. 84. Lipperts Dactyl. 1 Taus. 711. u. 712. Doch meynet man daselbst, als wenn sie dadurch ihren Busen öffnen wolle; da sie doch ihr Gesicht vielmehr damit bedecken zu wollen scheint; welches die verborgene Macht der Gerechtigkeit anzeigen und zugleich sinnbildlich andeuten solle, daß sie ein Kind der Nacht sey. Die besondere Haltung des Armes soll auch eben das Maaß ausmachen, welches man πυγών, πῆχυς, cubitus, Elle nennet, sie aber nicht wirklich führet. Winkelm l. c. p. 30. Auf der cizicenischen Münze ist sie indessen nicht in solcher Stellung, sondern hat in der rechten Hand ein Steuerruder, und in dem linken Arme ein Horn des Ueberflusses, zu ihren Füßen aber ein Rad liegen. Buonar. l. c. n. XI. p. 219. Dieß ist [1704] ihr besonderes Kennzeichen. Nonni Dion. l. XLVIII. v. 378. Es ist auch ihr gemeinstes, womit man sie beynahe auf allen Münzen und Gemmen sieht. Struv. Synt. A. R. c. 1. p. 171. Auf einigen Münzen führet sie dabey zuweilen in der rechten Hand eine Wage und in der linken eine Geißel. Buon. l. c. p. 244. Frœl. tentam. p. 120. & 294. Zuweilen aber hält sie dafür eine Schale in der rechten; Ib. p. 297. und auch wohl statt der Geißel ein Füllhorn in dem linken Arme. Ib. p. 311. Außerdem wird sie oft mit großen Flügeln auf dem Rücken abgebildet. Causeo l. c. t. 84. Descript. du Cabin. de Stosch. p. 294. Diese Flügel führete sie aber nicht in den ältesten Zeiten, sondern die Einwohner zu Smyrna versahen sie zuerst damit. Pausau. l. c. p. 63. Sonst soll sie auf den geschnittenen Steinen allezeit voll Ekel und gleichsam in ihren Schooß speyend seyn vorgestellet worden. Christ. Dactyl. univ. Milliar. II. gem. 261. p. 29. Jedoch sagen andere dafür lieber, daß sie den Kopf auf die Brust hängen lasse, als ob sie nachdächte, wie sie die Strafen und Belohnungen recht einrichten sollte. Winkelm l. c. p. 31. Auf einem herkulanischen Gemälde hat sie in der linken Hand ein Schwert in der Scheide auf ihrem Arme liegen und ist weiß gekleidet. Doch hebt sie mit der rechten ein gelbes Oberkleid von der Brust auf, und wendet den Kopf, der mit einer gelben Hanbe bedecket ist, mit einem unwilligen Gesichte weg. Le pitt. ant. d'Ercol. T. III. tav. 10.
7 §. Verehrung. Ihre Verehrung scheint von den morgenländischen Völkern gekommen zu seyn, und durch sie sich weit ausgebreitet zu haben. Buonar. l. c. p. 221. Daher giebt man ihr den Berg Taurus zur Wohnung. Nonni. Dionys. l. XLVIII. 376. Den ersten Tempel erbauete ihr Adrastus, daher sie denn von ihm Adrastea genannt wird. Antim. ap. Strabon. l. XIII. p. 588. So dann hatte sie dergleichen zu Rhamnus, in Attica, der gar berühmt war, und den ihr bereits Erechtheus errichtete. Suidas in Ῥαμνουσία, T. III. [1705] p. 251. Ihr zu Ehren wurden auch die Nemesia gefeyert, an welchen insonderheit für die Todten geopfert wurde. Idem in Νεμεσία, T. II. p. 606. Hiernächst verehreten die Römer sie gar höchlich, und zwar hatte sie nicht allein ihren Tempel selbst in dem Capitolio; Plin. H. N. l. XXVIII. c. 2. sondern wurde von ihnen auch insonderheit angerufen, wenn sie in den Krieg zogen, damit sie das Ansehen hätten, als ob sie keine, als gerechte Kriege führeten. Pomp. Lætus ap. Rosin l. II. c. 10.
8 §. Eigentliche Historie. Nach einigen soll sie des Erechtheus, Königs zu Athen, Mutter gewesen seyn, welcher er zu Rhamnus, unter dem Namen der nemesischen Venus, einen Tempel errichtet, weil sie mit ihrem eigentlichen Namen Nemesis geheißen. Suidas in Ῥαμνουσία, T. III. p. 251. Andere wollen dagegen, daß sie niemand anders, als Leda, gewesen. Lactant. Inst. I. c. 21. §. 23. Beydes kann seyn; gleichwohl scheint sie doch nur eine ersonnene Gottheit gewesen zu seyn, womit man die Leute zu fürchten gemacht.
9 §. Anderweitige Deutung. Sie soll ihrem ersten Ursprunge nach ein bloßes Sinnbild der göttlichen Vorsehung und Sorgfalt für die menschlichen und irdischen Dinge gewesen seyn. Buonarotti Osserv. sopr. alc. Med. p. 221. Insgemein wird sie für die göttliche Rache gehalten, und mit Flügeln gebildet, weil selbige geschwind und unverzüglich zu folgen pfleget; mit einer Krone auf dem Haupte, um ihre Herrschaft über alle zu bemerken, auf welchem ein Hirsch steht, weil die sehr furchtsam sind, welche solche Rache einmal betroffen: allein, auch mit dem Zeichen des Sieges, weil ihr nichts widerstehen kann, sondern sie alles besieget, mit einem Zweige von einem Eschenbaume in der Hand, weil von solchem ehemals insonderheit die Schäfte der Spieße gemacht worden, sie aber sich der Kriege zur Bestrafung der menschlichen Bosheit mit bedienet; und es waren ihrer endlich mehr als eine, weil auch Gott mehr als ein Mittel hat, die [1706] Menschen, ihrer Sünde wegen, zu strafen. Nat. Com. l. IX. c. 19. & ex eo Omeis Mythol. in Nemesi, p. 171. Hiernächst führet sie einen Zaum in der Hand, dadurch zu bemerken, daß man seine Zunge sollzäumen lernen, und eine Elle, weil man einem jeden das Seinige geben soll, Voss. Theol gent. l. IX. c. 36. oder auch, weil sie die Unbändigen zähmet, und mit ihrem geziemenden Maaße ausmißt, wobey sie auch wohl ein Rad unter den Füßen hat, um anzuzeigen, daß sie alles Glück der Welt mit Füßen trete. Masen. Spec. ver. occ. c. XXIV. n. 24.
Buchempfehlung
Nachdem Christian Reuter 1694 von seiner Vermieterin auf die Straße gesetzt wird weil er die Miete nicht bezahlt hat, schreibt er eine Karikatur über den kleinbürgerlichen Lebensstil der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«, die einen Studenten vor die Tür setzt, der seine Miete nicht bezahlt.
40 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro