Colonien

[165] Colonien (Coloniae) Ansiedlungen in fremdem Lande. Schon das Colonialsystem der alten Völker war sehr verschieden. Die Phönicier setzten durch C. ihre überflüssige Bevölkerung ab und gewannen so Stapelplätze zum Verkauf und Einkauf an fremden Küsten; solche Emporien konnten sich in der Regel nur durch enge Verbindung mit dem Mutterlande halten, wenn sie jedoch wie Karthago heranwuchsen, so machten sie sich unabhängig. Karthago hielt seine C. in strengster Abhängigkeit; dies machte ein stehendes Heer und eine immer segelfertige Flotte nothwendig, was die karthag. Politik zu einer erobernden umschuf, die sich wohl gegen die zersplitterten Griechen und leicht zu betrügenden Barbaren, nicht aber gegen die Römer behaupten ließ. Ein Hauptmittel der Karthager, sich ihre Colonialstädte zu sichern, bestand auch darin, daß sie einer solchen Stadt einen Grundstock von karth. Bürgern gaben, eine Aristokratie gegenüber der aus der Umgegend herbeigezogenen anderen Bevölkerung; wollte sich diese Aristokratie, der alle Aemter angehörten, behaupten, so mußte sie nothwendig an der Mutterstadt einen Rückhalt haben, also treu bleiben. Die griech. C. blieben in den wenigsten Fällen in Abhängigkeit von ihrer Mutterstadt, da sie in der Regel von unzufriedenen Auswanderern gegründet wurden und griech. Städte von einiger Stärke eigene Republiken sein wollten. Ganz anderer Natur waren die römischen C.; diese wurden nie anders als auf einem eroberten Gebiete angelegt, dessen Einwohner entweder Unterthanen waren oder latinisches oder Municipalrecht erhielten; die röm. Colonie aber bestand aus röm. Bürgern mit röm. Rechte, war also eine röm. Heeresabtheilung, die nicht in einem Lager stand und Sold bezog, sondern eine Stadt inne hatte und Grund und Boden besaß. Die röm. C. waren ein Hauptmittel zur Ausdehnung der röm. Herrschaft, zur Romanisirung und Behauptung eines eroberten Landes. Die C. des Mittelalters waren ausschließliche normannische und deutsche Schöpfungen. Der normann. Heerführer eroberte einen Landstrich oder ein Land und theilte dasselbe unter seine Kriegsgenossen nach dem Lehensrechte; die Colonisten wurden Landesherren, verschmolzen jedoch in der Regel bald mit den Unterworfenen zu einer Nation, die sich politisch neu gestaltete, wie z.B. in Neapel und England. Die deutschen Heereszüge waren größtentheils gegen die Slaven an der Ostsee gerichtet; die Ritter eroberten [165] das Land, machten die Bauern zu Leibeigenen, gründeten aber durch den herbeigerufenen deutschen Bürger Städte, die bei ihren Freiheiten kräftig gediehen und Hauptstützen des ritterlichen Landbesitzes wurden. Mit der Entdeckung Amerikas und der Auffindung des Seeweges nach Ostindien beginnt aber erst die große Colonisation; Portugiesen und Spanier gingen voran, Franzosen und Engländer folgten, nur Italiener und Deutsche blieben aus. Die Grundsätze des neuen Colonialsystemes waren: Unterjochung der Landeseingebornen; diese werden aber mehr durch die aus dem Mutterlande gesandten Garnisonen als durch die angesiedelten Colonisten im Zaum gehalten; die Colonie ist allem fremden Handel verschlossen, Mutterland und Colonie geben und empfangen gegenseitig, die Colonie ist aber dabei auf ihre eigenen Erzeugnisse beschränkt; der Colonialbewohner ist von den höchsten bürgerlichen, militärischen und kirchlichen Aemtern ausgeschlossen; er wird von dem Mutterlande aus regiert und erhält nur Municipalfreiheiten. In letzter Beziehung war die engl. Colonialpolitik die liberalste, indem sie erstarkten C. ein Parlament für Landessachen einräumte und der Krone nur die Souveränitätsrechte vorbehielt. Aber eben deßwegen erfolgte der Abfall der engl. C. früher als der span. und portug. und damit war der Anstoß zu einer ganz veränderten Colonialpolitik gegeben; die Engländer haben es ausgesprochen, daß sie keine Colonie länger in ihrem Verbande mit dem Mutterlande festhalten wollen, als dies Verhältniß von den Colonisten selbst gewünscht wird, d.h. so lange sich diese nicht zu einer eigenen Nation entwickelt haben. Die C. der Franzosen, Spanier und Portugiesen sind seit 1822 verhältnißmäßig unbedeutend; dagegen haben die Holländer auf den Sundainseln in aller Stille ein großes Colonialreich gegründet und regieren dasselbe mit der raffinirtesten Kunst des Aussaugens. Da es indessen nicht von den holländ. Colonisten gehalten wird, sondern durch die von Europa aus gesandte Militärmacht, so hängt das Schicksal desselben ganz von den Wechselfällen der europ. Politik, namentlich dem guten Willen der Engländer ab. In unsern Tagen ist die Colonisation von Europa aus zu einer nie geahnten Ausdehnung herangewachsen; selbst die Auswanderung aus Irland und Deutschland nach der nordamerikan. Union müssen wir hieher rechnen, indem sie den ehemaligen C. immer neue Arbeitskraft zuführen, während England aus Australien ein neues Europa schafft. Diese Ausbreitung der europäischen Menschheit, namentlich der angelsächsischen Race, ist die wichtigste Begebenheit der neuen Zeit und wird in wenig Jahrhunderten die Welt umgestalten.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 165-166.
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