Charakter

[115] Charakter (gr. charaktêr v. charassô prägen = Gepräge) heißt in anthropologischer Hinsicht die bleibende Willensart des Menschen. Im weiteren Sinne hat jeder Mensch einen Charakter, auch der Charakterlose, dessen Eigentümlichkeit es ist, unbeständig zu sein. Im engeren Sinne heißt Charakter soviel als Willensstärke. Charakter im engeren Sinne ist also das Wesen des Menschen, wie es sich auf Grund angeborener Individualität durch Gewöhnung und selbsterworbene Fertigkeit zu vernünftiger, zusammenhängender und fester Selbstbetätigung entwickelt. Der feste Charakter zeigt sich in der Entschiedenheit und Konsequenz des Handelns nach Grundsätzen. Diese Konsequenz kann Entschiedenheit im Guten oder Bösen sein. Einen guten Charakter besitzt nur der Mensch, der seinen Willen durch sittliche Grundsätze leiten läßt. Nur er bleibt von Zerrissenheit des Gemüts, Zerfahrenheit des Begehrens und Unschlüssigkeit im Handeln verschont. Bei ihm vereinen sich Einsicht und Wille zur wahren sittlichen Freiheit. »Charakter im Großen und Kleinen ist, daß der Mensch demjenigen eine stete Folge gibt, dessen er sich fähig fühlt«, sagt Goethe (Spr. in Pr. 587). [115] Kant (1724-1804) lehrt: »Von einem Menschen schlechthin sagen zu können: er hat einen Charakter heißt sehr viel von ihm nicht allein gesagt, sondern auch gerühmt; denn das ist eine Seltenheit, die Hochachtung gegen ihn und Bewunderung erregt. Wenn man unter dieser Benennung überhaupt das versteht, wessen man sich zu ihm sicher zu versehen hat, es mag Gutes oder Schlimmes sein, so pflegt man dazu zu setzen: er hat diesen oder jenen Charakter, und dann bezeichnet der Ausdruck die Sinnesart. – Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher du Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die es sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat. Ob nun zwar diese Grundsätze auch bisweilen falsch und fehlerhaft sein dürften, so hat doch das Formelle des Wollens überhaupt, nach festen Grundsätzen zu handeln (nicht wie ein Mückenschwarm bald hierher, bald dahin abzuspringen), etwas Schätzbares und Bewunderungswürdiges in sich, wie es dann noch etwas Seltenes ist. – Alle anderen guten und nutzbaren Eigenschaften (des Menschen) haben einen Preis – das Talenteinen Marktpreis – das Temperament einen Affektionspreis – aber der Charakter hat einen inneren Wert und ist über allen Preis erhaben.« (Kant, Anthropologie S. 264f.) – Die allgemeine Verwendung des Wortes Charakter in seiner jetzigen Bedeutung datiert von La Bruyere's Schrift: Les caracteres de Theophraste et les moeurs de ce siecle 1688 her. Vgl. Smiles, der Charakter. Leipz. 1878. Th. Ribot, die Persönlichkeit, a. d. Frzös. v. E. Papst. Berlin 1894.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 115-116.
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