Charakter

[194] Charakter. (Schöne Künste)

Das eigenthümliche oder unterscheidende in einer Sache, wodurch sie sich von andern ihrer Art auszeichnet.

Die schönen Künste, welche Gegenstände aus der sichtbaren und unsichtbaren Natur zur Betrachtung darstellen, müssen jeden so bezeichnen, daß die Gattung, zu der er gehört, oder auch das besondre, wodurch er von jedem andern seiner Art unterschieden wird, kann erkennt werden. Demnach ist die genaue Bemerkung des Charakteristischen, ein Haupttheil der Kunst. Der Mahler muß jedem Gegenstand [194] in allem, was an ihm sichtbar ist, den Charakter seiner Gattung, oder auch, (wie in Portraiten) den einzeln Charakter, wodurch er sich von allen Dingen seiner Art auszeichnet, zu geben wissen, und so muß jeder andre Künstler die Charaktere der Dinge bezeichnen können.

Es gehöret demnach vorzüglich zu dem Genie des Künstlers, daß er in Gegenständen der Sinnen und der Einbildungskraft, das Charakteristische bemerke. Dazu aber wird ein überaus scharfer Beobachtungsgeist erfodert, den man für sichtbare Dinge besonders, ein scharfes mahlerisches Aug nennt. Wie der Mahler, sobald er einen Gegenstand recht in das Auge gefaßt hat, so gleich die wesentlichen Züge desselben durch die Zeichnung darstellen kann, so muß jeder Künstler in seiner Art das unterscheidende der Sachen schnell fassen und ausdrüken können. Und in dieser Fähigkeit scheinet die Anlage des Genies für die schönen Künste zu bestehen; so daß vielleicht aus der Fähigkeit, die Charaktere der Dinge zu bemerken, der richtigste Schluß auf des Künstlers Genie könnte gemacht werden.

Unter den mannigfaltigen Gegenständen, welche die schönen Künste uns vor Augen legen, sind die Charaktere denkender Wesen ohne Zweifel die wichtigsten; Folglich ist der Ausdruk, oder die Abbildung sittlicher Charaktere das wichtigste Geschäft der Kunst, und besonders die vorzüglichste Gabe der Dichter. In den wichtigsten Dichtungsarten, der Epopee und dem Drama, sind die Charaktere der handelnden Personen die Hauptsache. Wenn sie richtig gezeichnet und wol ausgedrukt sind, so lassen sie uns in das Innere der Menschen hineinschauen, und verstatten uns, jede Würkung der äussern Gegenstände auf sie, vorher zu sehen, die daher entstehenden Empfindungen, die Entschliessungen, jede Triebfeder, woraus die Handlungen entstehen, genau zu erkennen. Sie sind eigentliche Abbildungen der Seelen, die wahren Gegenstände, davon die gemahlten Portraite nur die Schattenbilder sind. Der Dichter, der die Gabe hat, die sittlichen Charaktere richtig und lebhaft zu zeichnen, lehret uns die Menschen recht kennen, und führet uns dadurch auch zu der Kenntnis unser selbst. Aber noch wichtiger ist die Würkung, welche wolgezeichnete Charaktere auf unsre Seelenkräfte haben. Denn, wie wir uns mit den Traurigen betrüben, so geschieht eine solche Zueignung aller andern Empfindungen, wenn sie lebhaft geschildert sind.1 Jede lebhafte Vorstellung von dem Gemüthszustand andrer Menschen, läßt uns das, was in ihnen vorgeht, eben so fühlen, als wenn es in uns selbst vorgienge; dadurch werden die Gedanken und Empfindungen andrer Menschen einigermassen Modificationen unsrer Seele, wir werden heftig mit dem Achilles, vorsichtig mit dem Ulysses, und unerschroken mit dem Hektor.

Also können die Dichter durch die Charaktere der Personen, mit ungemeiner Kraft auf die Gemüther würken. Diejenigen, die wir für gut halten, haben den stärksten Reiz auf uns; wir nehmen alle Kräfte zusammen, um eben so zu empfinden, wie die Personen, für deren Charakter wir eingenommen sind. Diejenigen, die uns mißfallen, erweken den lebhaften Abscheu, weil eben dadurch, daß wir gleichsam gezwungen werden, die Empfindungen derselben auch in uns zu fühlen, der innere Streit in dem Gemüthe entsteht.

Die vornehmste Sorge des epischen und dramatischen Dichters, muß also auf die Charactere der Personen gerichtet seyn. Deswegen können nur grosse Kenner der Menschen sich an diese Gattungen wagen. Der epische Dichter hat wegen der Menge und Verschiedenheit der Begebenheiten, Vorfälle und Personen, die seine weitläuftige Handlung ihm an die Hand giebt, Gelegenheit, die persönlichen Charaktere seiner Hauptpersonen ganz zu entwikeln; der dramatische Dichter hingegen, dessen Handlung nur auf einen sehr bestimmten Gegenstand eingeschränkt ist, hat vornehmlich einzele Züge in den Charakteren der Menschen, Tugenden, Laster, Leidenschaften zu schildern: denn es ist selten möglich, in einer so kurzen Zeit, als die ist, auf welche die Handlung des Drama eingeschränkt wird, und bey einer einzigen Gelegenheit, den ganzen Charakter des Menschen kennen zu lernen.

Es giebt Menschen, die in ihren Handlungen und in ihrer Art zu denken, gar keinen bestimmten Charakter zeigen, die einigermassen den Windfahnen gleichen, die für jede Wendung und Stellung gleichgültig sind, und sich also nach allen Gegenden gleich herumtreiben lassen. Es scheinet, als wenn es solchen Menschen an eigener innerlichen Kraft fehlte, aus welcher ihre Gedanken, Entschliessungen und Handlungen entstehen. Sie warten ganz gleichgültig auf das, was geschieht, empfangen davon augenblikliche Eindrüke, die sich sogleich wieder [195] auslöschen, wenn die Ursache derselben zu würken aufhört. Mechanische Wesen von dieser Art sind für den Dichter unbrauchbar; er sucht diejenigen Menschen aus, in deren Art zu denken, zu empfinden, zu handeln, sich etwas merkwürdiges findet; solche, in denen herrschende Triebe, und ein eigenthümlicher sich auszeichnender Schwung des Geistes oder des Herzens ist, welche Bestandtheile des Charakters sich bey jeder Gelegenheit auf eine ihnen eigene Art äussern.

Menschen von solchen Charakteren in mancherley Umstände und Verbindungen gesetzt, sind die Seele derjenigen Werke der Kunst, die Handlungen zum Grund haben, besonders des epischen Gedichts. Dadurch kann eine sehr einfache Handlung interessant werden, und einen Reiz bekommen, den bey dem Mangel guter Charakter keine Verwiklung, auch keine Mannigfaltigkeit der Begebenheiten und Vorfälle ersetzen kann. Die Wahrheit dieser Anmerkung recht zu fühlen, darf man nur die meisten Trauerspiele der Griechen betrachten, die größtentheils bey einer sehr grossen Einfalt des Plans durch die Charakter höchst interessant sind. Die ganze Fabel des Prometheus vom Aeschylus, kann in wenig Worten ausgedrukt werden, und dennoch ist dieses Trauerspiel höchst interessant. Unter den Werken der neuern geben die empfindsamen Reisen des Sterne den deutlichsten Beweis, wie die gemeinesten und alltäglichsten Begebenheiten, durch die Charaktere der Personen im höchsten Grad interessant werden. Wer für Kinder und für schwache Köpfe schreibt, der mag immer sein Werk durch tausend seltsame Begebenheiten und Abentheure unterhaltend zu machen suchen; aber für Männer müssen die Charakter den vorzüglichsten Theil des Werks ausmachen. Dieses sey auch dem Historienmahler gesagt. Will er nicht blos dem Pöbel gefallen, so suche er den Werth seines Werks nicht in der Weitläuftigkeit seiner Erfindung, nicht in der Menge seiner Figuren und Gruppen, sondern in der Stärke und Mannigfaltigkeit der Charakter. Wem es nicht gegeben ist, die Menschen zu ergründen, eines jeden besonderes Genie, Temperament, seine Gemüthskräfte (in dem, was sie eigenthümliches haben) genau zu beobachten, auch die besondere Schattirung derselben, die von der Erziehung, von den Sitten der Zeit und andern besondern Umständen herkommen, darin zu unterscheiden; dem fehlet die vornehmste Eigenschaft eines epischen und dramatischen Dichters. Dessen Hauptwerk bleibt allemal die Darstellung der Charakter: hat er sich dieser versichert, so ist bald jede Begebenheit gut genug, und jede Lage der Sachen bequem sie zu entwikeln; wenigstens ist eine mittelmäßige Einbildungskraft hinreichend, ein Gewebe der Fabel zu erdenken, das zu interessanten Ausserungen der Charakter Gelegenheit giebt.

Jeder Charakter, der wolbestimmt und psychologisch gut, das ist, wahr und in der Natur vorhanden ist, dabey sich von dem alltäglichen auszeichnet, kann von dem Dichter mit Nutzen gebraucht werden. Nur vor willkührlichen, blos aus der Phantasie zusammengesetzten Charakteren, muß der Dichter sich hüten, weil sie nie interessant sind. Wer seinen Personen gute oder schlechte, hohe oder niedrige Gesinnungen beylegt, so wie es ihm bey den vorfallenden Gelegenheiten einfällt, der hat darum keinen Charakter gezeichnet. Wer den Charakter eines Menschen vollkommen kennte, müßte daraus dessen Empfindung, Handlungen und ganzes Betragen, in jedem bestimmt gegebenen Fall vorhersehen können; denn die Bestandtheile des Charakters, wenn man sich so ausdrüken kann, enthalten die Gründe jeder Handlung oder jeder Aeusserung der Gemüthskräfte. Alle würksamen Triebe der Seele zusammen genommen, jeder in einem gewissen Maasse, jeder durch das Temperament des Menschen, durch seine Erziehung, durch seine Kenntniß, durch die Sitten seines Standes und der Zeiten modificirt, machen den Charakter des Menschen aus, aus welchem seine Art zu empfinden und zu handeln bestimmt kann erkennt werden. Läßt man die Personen Gesinnungen, Reden oder Handlungen äussern, deren Entstehung aus ihrem Charakter sich nicht begreifen läßt; oder solche, aus denen, wenn der Charakter noch nicht bekannt ist, die Grundtriebe oder die würklich vorhandenen Ursachen, aus denen sie entstanden sind, sich nicht erkennen lassen, so haben die Personen keinen würklichen Charakter; ihre Handlungen sind etwas von ungefehr entstandenes. Es hat mit den Gemüthskräften eben die Bewandniß, wie mit den Kräften der körperlichen Welt, daß Würkung und Ursache in dem genauesten Verhältniß der Gleichheit sind. Ein Mensch, der es allezeit mit einer Menge andrer Menschen aufnähme, und ganze Heere in die Flucht schlagen würde, könnte uns niemals, als ein höchsttapferer Mensch vorgestellt werden; [196] er wär ein Unding, etwas, das nur in der Phantasie des Dichters entstanden ist. Und wenn man uns in einem Roman einen Menschen abbildete, der überall, wo er hinkommt, königliche Geschenke austheilet, der ganze Familien reich machet, so würde uns dieses gar wenig rühren, da wir die Quelle nicht erkennen, aus welcher aller dieser Reichthum fliesset. So wie würkliche Wunderwerke am wenigsten wunderbar sind, weil wir von den Kräften, wodurch sie bewürkt werden, gar nichts erkennen, so ist es auch mit jeder Aeusserung menschlicher Kräfte, sie seyen auf das Gute oder Böse gerichtet, deren Grund und Quelle wir nirgend entdeken können.

Es ist also eine sehr wesentliche Sache, daß man sich in dem, was handelnden Personen zugeschrieben wird, vor dem willkührlichen, romanhaften und abentheuerlichen in acht nehme; denn diese Sachen sind in keinem Charakter gegründet. Wie der Mahler sich lediglich an die Natur halten, und z. E. jedem Baume, nicht nur die Art der Blüte oder Frucht zueignen muß, die ihm natürlich ist, sondern sie auch nur an denjenigen Arten der Zweige, an denen sie würklich wachsen, nicht aber an willkührlichen Stellen, anbringen darf; so muß es auch der Dichter mit jeder Aeusserung des Gemüths halten, die eben so natürliche Würkungen des Charakters sind, als Blüten und Früchte, Würkungen der besondern Natur eines Baumes.

Ueberdem müssen alle Gesinnungen, Reden und Handlungen, die den Personen zugeschrieben werden, nicht nur allgemein wahr seyn, sondern nach allen, den Personen eigenen Modificationen, genau abgemessen werden; denn niemand hat blos den allgemeinen Charakter seiner Art. Der Dichter muß nicht nach Art derer, die ehemals die Ritterbücher geschrieben haben, arbeiten, wo alle Ritter gleich tapfer sind, sondern so wie Homer, bey welchem die Tapferkeit des Achilles eine andre Tapferkeit ist, als die, die man am Hektor, oder am Ajax, oder am Diomedes sieht. Wie man den Löwen aus einer Klaue erkennt, so muß man aus jeder besondern Rede einer Person, ihren Charakter erkennen, weil in der That jedes, was ihr eigen ist, etwas zu gänzlicher Bestimstimmung derselben beygetragen hat.

Jeder Charakter aber wird durch dreyerley Gattungen würkender Ursachen bestimmt. Durch das, was der Nation und dem Zeitalter, darin man lebt, eigen ist; durch den Stand, die Lebensart und das Alter, und endlich durch das besondre persönliche jedes Menschen, nämlich sein Genie, sein Temperament, und alles übrige, was ihn zu einer besondern Person macht. Mithin muß jede Aeusserung des Charakters mit allen den würkenden Ursachen auf denselben genau übereinkommen. Wer also Personen aus einem entfernten Zeitalter, aus einer ganz fremden Nation, zu behandeln hat, dem wird es nothwendig sehr viel schweerer eines jeden Charakter zu treffen. Oßian mahlte Personen seiner Zeit, seiner Nation, seines Standes und zum Theil seiner eigenen Familie, und fand also in der genauen Bezeichnung derselben die wenigsten Schwierigkeiten. Auch Homer hat seine Personen von einem nicht sehr entfernten Zeitalter, und aus einer ihm nicht fremden Nation genommen. In der Aeneis ist es schon stark zu merken, daß der Dichter sich nicht ganz in die Zeiten, Sitten und den Stand seiner Personen hat setzen können. Kein Dichter hat darin mehr Behutsamkeit nöthig gehabt, als der Dichter des Noah, da er seine Handlung aus dem entferntesten Zeitalter und den fremdesten Sitten genommen hat. Dennoch ist er in seinen Charakteren sehr glüklich, und auch da, wo er mit gutem Vorbedacht Begebenheiten der spätern Welt in jene entfernte Zeiten hinaufgesetzt,2 hat er ihnen den Anstrich jenes entfernten Weltalters zu geben gewußt. Mit bewundrungswürdiger Geschicklichkeit hat sich Klopstock ganz in die Sitten und Sinnesart der Zeiten setzen können, in welche seine Handlung fällt.

In grossen epischen Handlungen, wo viel merkwürdige Personen vorkommen, muß auch eine grosse Mannigfaltigkeit der Charakter erscheinen. Diese muß aber nicht blos in derjenigen Verschiedenheit gesucht werden, die in dem wesentlichen Charakter liegt, wie etwa beym Homer die Charakter des Achilles, des Nestors und des Ulysses sind, da keiner einen Zug mit dem andern gemein hat; sondern auch einerley wesentliches muß durch Genie, durch Temperament, durch Alter und andre zufällige Bestimmungen, in den verschiedenen Personen eine angenehme Mannigfaltigkeit erhalten.

Von denen, die durch die Hauptzüge sich unterscheiden, kann man einen sehr guten Gebrauch machen, wenn man entgegen gesetzte Charakter bey einerley Vorfälle neben einander stellt, damit sie einen Gegensatz [197] oder Contrast ausmachen; denn dadurch werden sie desto lebhafter bezeichnet. Wenn ein Mann von geradem, offenherzigen und freyen Wesen, neben einen zurückhaltenden, ein verwegener und hitziger, neben einem vorsichtigen und bedächtigen Mann erscheinet, so werden unstreitig alle Aeusserungen des einen, durch das, was man von dem andern sieht, besser bemerkt werden.

Eine besonders gute Würkung kann dadurch erhalten werden, daß unter den handelnden Personen solche sind, die unser Urtheil über das Betragen der Hauptpersonen unterstützen, oder lenken. Dieses geschieht z. B. wenn bey einer ganz wichtigen Lage der Sachen, wo die handelnden Personen alle in Leidenschaften gerathen, auch solche eingeführt werden, die bey etwas kaltem Geblüte bleiben, und alles was vorgeht, mit grosser Richtigkeit und scharfer Beurtheilungskraft einsehen. Denn niemal würken starke und recht entscheidende Urtheile der Vernunft mehr auf uns, als wenn wir sie neben hitziger Bewundrung oder lebhafter Verabscheuung sehen. Wenn wir in Shakesspears Richard jederman in der heftigsten Verabscheuung der wüthenden Bosheit dieses Tyrannen sehen, so fehlet es an einem gelassenen Menschen, der durch nachdrükliche Aeusserungen überlegter Urtheile, den Empfindungen der andern, noch mehr Kraft auf uns mittheilte.

Inzwischen muß das, was hier von dem Gegensatz der Charakter, und besonders von dem Gegensatz der Leidenschaft und der Vernunft angemerkt wird, nicht so verstanden werden, daß jeder Charakter beständig einen entgegengesetzten, so wie der Körper einen Schatten, neben sich haben soll. Dieses würde zu gekünstelt und zu gezwungen seyn. Nicht jeder Charakter darf einen entgegengesetzten neben sich haben, und wo man Personen von entgegengesetztem Charakter einführt, dürfen sie eben nicht unzertrennlich beysammen seyn. Ein Dichter von gesundem Urtheil, wird die Contraste so zu behandeln wissen, daß weder Zwang noch Kunst dabey zu merken sind, und daß nur die wichtigsten Eindrüke, die man von den Charakteren zu erwarten hat, in der größten Stärke und im hellesten Licht erscheinen.

Einer der scharfsinnigsten Kunstrichter unter den Neuern3 will, man soll im Drama den Contrast nicht in den Charakteren unter sich, sondern in dem, entgegengesetzten der Charakter und der Umstände, in welche die Personen versetzt werden, suchen. Er sagt ungemein viel Gutes und Gründliches von der Unschiklichkeit der gegen einander gesetzten Charakter. Im Grund aber scheinen seine Anmerkungen nur den Mißbrauch und das übertriebene in dieser Sache, zu widerrathen, worauf auch unsre vorhergehende Anmerkung abzielt. Freylich muß der Dichter die Entwiklung und den Eindruk der Charakter dadurch zu erhalten suchen, daß er dieselben in mancherley und in einander entgegenstehende Umstände bringt; auch muß er sich hüten, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen Hauptcharakter, durch einen eben so interessanten ihm entgegengesetzten, zu schwächen. Allein dieses hindert ihn keinesweges, einen Hauptcharakter durch einen ihm entgegengesetzten, in ein helleres Licht zu setzen, wenn er nur Verstand genug hat, dieses auf eine gute Art zu thun.

Einige Kunstrichter haben vollkommen gute Charakter, sowol für das Drama, als für die Epopee, als etwas ungereimtes gänzlich verworfen.4 Wenn man eine solche Vollkommenheit versteht, die kein Mensch erreichen kann, und die doch einem Menschen zugeschrieben wird, so hat man vollkommen Recht, sie zu verbieten; denn das Gedicht muß nichts unmögliches auch nichts unwahrscheinliches enthalten. Wollte man aber auch nicht haben, daß die höchste menschliche Vollkommenheit, so wie sie zu erreichen möglich ist, einer handelnden Person sollte zugeschrieben werden, so würde man schwerlich einen guten Grund für ein solches Verbot anführen können. Die Furcht, daß ein solcher Charakter nicht interessant genug sey, weil die Leidenschaften dabey zu wenig ins Spiel kommen, ist nicht gegründet. Man stelle sich vor, daß ein Dichter den Tod des Sokrates zum Inhalt eines Drama nähme. Um bey der genauen historischen Wahrheit zu bleiben, könnte er dem Sokrates bey dieser Handlung keine menschliche Schwachheit beylegen; denn sein Betragen war in der That dabey vollkommen. Wie wenig aber diese Vollkommenheit der Rührung schade, sieht man aus der Art des Drama, das Plato und Xenophon davon gemacht haben. Kein Mensch von Empfindung kann sie ohne die höchste Rührung lesen. Es ist also nicht abzusehen, wie man vorgeben könne, vollkommen tugendhafte Charakter seyen nicht interessant genug. Freylich muß man nicht solche Charakter willkührlich zusammen setzen; die Vollkommenheit muß die Würkung solcher Ursachen seyn, die [198] in dem Menschen möglich sind; man muß sehen können, aus was für Grundsätzen, aus was für Gemüthskräften sie entstanden ist. Man findet in der Lebensbeschreibung, die Plutarch vom Marcus Antonius gemacht hat, hin und wieder Züge von Großmuth und Vernunft, die gar nicht aus dem Charakter des Antonius zu folgen scheinen, so daß man gar nicht weiß, wie sie bey einem solchen Menschen möglich gewesen sind. So wahr sie auch seyn mögen, so wäre keinem Dichter zu rathen, sie so, wie Plutarchus thut, anzuführen. Man müßte nothwendig diesen Mann vorher von einer Seite zeigen, woraus bey seinem schlechten Charakter, die Möglichkeit solcher einzeln grossen Züge deutlich erkennt würde. Eben so müßte ein Dichter, der einen vollkommenen Charakter vorstellen wollte, die Bestimmung der näheren, nicht blos metaphysischen, Möglichkeit desselben nicht verabsäumen, sonst würde er keinen Glauben finden, und dadurch würde der Charakter uninteressant werden.

Man sollte denken, daß die Epopee und das Drama blos deswegen ausgedacht worden, damit man Gelegenheit habe, die Charakter der Menschen in ein völliges Licht zu setzen. Wenigstens scheinet es nicht möglich, zu dieser Absicht etwas bequemeres zu erfinden. Die Geschichtschreiber haben hiezu bey weitem die Bequemlichkeit nicht, die die Dichter haben; denn es schikt sich für sie nicht, ihren Lesern jeden besondern Umstand der Geschichte so abzumahlen, als ob sie alles mit Augen sähen, und jede Rede selbst anhörten; dieses ist den Dichtern eigen. Vorzüglich aber ist die Epopee zu völliger Entwiklung der Charakter dienlich; denn das Drama leidet die Mannigfaltigkeit der Begebenheiten und Vorfälle nicht, die bey ihr statt haben; die Personen des Drama werden nicht so, wie in der Epopee


Per varios casus, per tot discrimina rerum


ans Ende der Handlung gebracht.

Daher sieht man in Drama nicht sowol den ganzen Charakter einer Person, als besondere Züge desselben, besondere Leidenschaften oder Gesinnungen entwikelt. Der epische Dichter hingegen hat Gelegenheit uns seine Hauptpersonen völlig und nach allen Theilen ihres Charakters bekannt zu machen. Es giebt aber zwey Wege die Charakter zu bezeichnen. Der eine ist unmittelbar die würkliche Abbildung derselben, so wie der Geschichtschreiber Sallustius es gethan hat; der andere ist mittelbar durch die Handlungen, Reden, Stellung, Gebehrden, so wie dieselben bey jeder Gelegenheit sich äussern. Dieser Weg ist dem Dichter eigen und dem ersten weit vorzuziehen. Der erste giebt uns eine abstrakte Beschreibung von einer Sache, die wir selbst nicht sehen; der andre aber stellt uns die Sache selbst nach allen ihren besondern Bestimmungen vor Augen, und dadurch empfinden wir würklich, was wir auf die andre Art durch den Verstand uns vorstellen. Wir lernen dadurch die Menschen so kennen, als wenn wir würklich mit ihnen gelebt hätten.

Es erhellet hieraus, daß der wichtigste Theil der Kunst des epischen und des dramatischen Dichters der ist, daß sie Begebenheiten, Vorfälle und Situationen erfinden, bey denen die handelnden Personen ihren Gemüthszustand, und jede Triebfeder ihrer Seelen entwikeln.

Also ist auch nur dem epischen Dichter vergönnet, den ganzen Charakter der Personen zu entfalten. Man ist durchgehends darüber einig, daß in diesem Theile der Kunst dem Homer noch niemand gleich gekommen ist. Es ist auch zu vermuthen, daß kein Dichter neuerer Zeiten, wenn er auch dem Homer an Genie gleich wäre, hierin eben so glücklich, wie er, seyn könnte. Zu den Zeiten des Vaters der Dichter handelten die Menschen noch freyer, und äusserten jeden Gedanken und jede Empfindung ungehinderter, als es gegenwärtig geschieht. Wir fühlen nicht nur mancherley Arten von Banden, die eine völlige und ganz freye Entwiklung der Triebfeder des Geistes hemmen, wir liegen auch noch unter dem Druk der Mode und bilden uns ein, daß wir so handeln, so reden, uns so stellen müssen, wie gewisse andre Menschen, die gleichsam den Ton angeben, nach dem sich alle andre richten müssen. Man sieht überaus wenig freye Menschen, die blos nach ihren eigenen Empfindungen handeln, und sich unterstehen, keine andre Richtschnur, als ihre Einsichten und ihre Gefühl anzunehmen. Bey einem von allen Seiten her so sehr eingeschränkten Wesen, ist es höchst schweer den natürlichen Menschen kennen zu lernen und zu sehen, wie weit seine Kräfte reichen.

Diese Schwierigkeit müssen besonders auch die Mahler und Bildhauer empfinden, die ebenfalls nöthig haben Charakter zu bezeichnen. Es wird ihnen ungemein schweer die Natur zu beobachten, [199] die aus dem ansehnlichsten Theil der menschlichen Gesellschaft, als etwas unschikliches verbannt ist, wo der Traurige sich zwingen muß die Mine des Vergnügten anzunehmen, und wo es nicht erlaubt ist, das, was man innerlich fühlt, auch äusserlich zu zeigen. In dem ehmahligen Griechenland, wo jeder Bürger die Freyheit nahm, sich gerade so zu zeigen, wie er war, und keinen andern Menschen für sein Muster hielt, war es dem Zeichner leicht, jede Empfindung in den Gesichtern der Menschen und in ihren Gebehrden zu sehen. Daher kommt es ohne Zweifel, und nicht von einem geringern Maaße des Genies, daß die zeichnenden Künste unter den Händen der Neuern, die Vollkommenheit des Ausdruks nicht mehr haben, die man an den Alten bewundert. Auch ist ohne Zweifel darin die Ursache zu suchen, warum man auf der deutschen und französischen Schaubühne so wenig originales, sowol in den Charakteren, als in der Art, wie sie vorgestellt werden, antrift. Daß dieses auf der englischen Schaubühne weniger selten ist, rühret daher, daß die Britten in der That in ihrem ganzen Leben sich weniger Zwang anthun, als die meisten andern Nationen, und daß sie weniger Ehrfurcht für das Gewöhnliche und Uebliche haben, als andre.

1S. Theilnehmung.
2S. Wielands Abhandlung über den Noah S. 15.
3Diderot. de la poesie dramatique.
4Shafftesbury's characteristicks Tom. III. S. 260. u. s. f. Briefe über die neueste Litteratur VII. Theil S. 117. f. f.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 194-200.
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