Determinismus

[141] Determinismus (nlt.) (auch Prädeterminismus) heißt diejenige ethische Ansicht vom Wesen des menschlichen Willens, welche diesen in seinen Äußerungen durch, bewußte oder unbewußte Ursachen bestimmt sein läßt, während der Indeterminismus unseren Willen für frei erklärt, mithin annimmt, daß er auch eine den bestimm enden Ursachen entgegengesetzte Richtung einschlagen oder zum absoluten kausalitätslosen Anfang eines Geschehens werden könne. Der Indeterminismus hat seine bestimmteste Ausprägung in der Lehre Kants von der intelligiblen Freiheit (s. d.) gefunden. Der Determinismus hat verschiedene Formen angenommen. Seine roheste Form ist der Fatalismus (s. d.), der die Willensakte, wie alles andere Geschehen, von einer allgemeinen, blind wirkenden Notwendigkeit, dem Schicksal, beherrscht werden läßt. Einen solchen Fatalismus schließt der Islam in sich ein. Einen mechanischen Determinismus dagegen lehrt der Materialismus der Naturalisten, der den Menschen bloß als eine Maschine betrachtet. Der theologische Determinismus hingegen, den z.B. Paulus, Augustinus (430) und Calvin (1509-1564) vertreten, läßt die menschlichen Handlungen von einem unbedingten Ratschluß Gottes abhängen (vgl. Prädestination). Einen metaphysischen Determinismus lehrte Spinoza (1632-1677): Alles Geschehen ist kausal begründet durch die göttliche Natur, aus der mit mathematisch-logischer Notwendigkeit aller Wille[141] seine Bestimmung empfängt. – Ähnlich nimmt Leibniz (1646 bis 1716) an, daß der Wille durch innere Beweggründe, die von Gott begründet sind, bestimmt wird. Der psychologische Determinismus endlich, den Locke (1632-1704) begründet und auch Herbart (1776-1841) vertreten hat, hebt die praktische menschliche Freiheit und die Verantwortlichkeit keineswegs auf; denn er betrachtet das Wollen nicht als Folge äußerlich und mechanisch wirkender Ursachen, sondern als Ausdruck und Folge der inneren Gesetzmäßigkeit des geistigen Lebens selbst, einer psychologischen Kausalität, für die freilich das Prinzip der quantitativen Äquivalenz von Ursache und Wirkung nicht gilt. Die Willensregung hängt mit der Apperzeption zusammen, wobei sowohl äußere Eindrücke wie reproduzierte Vorstellungen und die ganze durch Erziehung, Leben und angeborene Eigenschaften entwickelte Persönlichkeit des Wollenden mitwirken, so daß für den Beobachter oft der Schein eines freien ursachlosen Handelns entstehn kann, weil oft der direkte Zusammenhang mit einer äußeren Ursache fehlt. Für die Existenz einer psychologischen Kausalität spricht die Stetigkeit des gesamten Seelenlebens, die durchgängige Abhängigkeit des Wollens von Motiven, ferner der Umstand, daß gerade das entschiedenste Wollen sich seiner Beweggründe am deutlichsten bewußt ist, und daß der Begriff der Kausalität auf den Willen nicht minder angewendet werden muß als auf sonst irgend eine Kraft. Und der Satz des Indeterminismus: »Ohne Freiheit keine Zurechnung« kehrt sich gegen ihn selber. Denn die Zurechnung, indem sie den Faden der Kausalität verfolgt, hört da auf, wo dieser abgerissen wird; bestände zwischen dem Ich und seinem Endwollen kein Zusammenhang mehr, d.h. wäre dem Ich dieses Wollen ebenso willkürlich als ein anderes, so hörte jede Verantwortlichkeit des Ichs für dieses Wollen auf, und ein von allen Motiven unabhängiger Wille müßte als von sittlichen Motiven unabhängig, d.h. als unfrei gelten. Ohne die deterministische Gesetzmäßigkeit unserer Handlungen wäre die Rechtspflege wie die Erziehung unmöglich; jene allein begründet den historischen Pragmatismus, die exakte Auffassung individueller Entwicklung und die Moralstatistik. Vgl. Wundt, Gr. d. phys. Psych. H 478-487, vgl. auch Freiheit.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 141-142.
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