[382] Nativismus ist die Lehre, daß unserem Geiste gewisse Anschauungen, Begriffe, Ideen und Grundsätze angeboren seien, so daß der Mensch sie fertig auf die Welt bringe. Der Nativismus hängt eng mit dein Rationalismus zusammen. Wer das Wissen aus einer beschränkten Zahl allgemeiner Begriffe und Grundsätze ableiten zu können vermeint, kommt auch leicht dazu, das Allgemeinste dem Geist als ursprüngliches Besitztum zuzuschreiben. Den Nativismus vertrat in der griechischen Philosophie namentlich Platon (427-347), für den das Erkennen Erinnerung (anamnêsis, vgl. Menon 13-21) war, in neuerer Zeit Descartes (1596-1650); es bekämpfte ihn Locke (1632 bis 1704), der alle angeborenen Ideen und Grundsätze leugnete, die Seele für ein leeres Blatt ansah, alles Wissen aus der Erfahrung ableitete und der rationalistischen Methode Decartes' die empiristische (genetische) Methode entgegensetzte. Leibniz (1646-1716) nahm eine vermittelnde Stellung ein, indem er nicht fertige Vorstellungen und Grundsätze, wohl aber den Intellekt selbst als angeboren ansah. – Der Nativismus wird sodann Kant (1724-1804) vielfach zugeschrieben auf Grund seiner Lehre von der Apriorität von Raum, Zeit und den Kategorien, und er scheint auf den ersten Blick mit dieser Lehre tatsächlich verwachsen zu sein. Aber Kant versteht unter a priori nicht das Angeborene, sondern das, was zwar aus der Vernunft stammt,[382] aber in und mit der Erfahrung sich entwickelt. Kant ist daher kein Nativist. Er erklärt Raum und Zeit für erworben, aber nicht für angeboren. Der Nativismus ist überhaupt eine den Tatsachen widersprechende Theorie. Alles Bewußte muß erst im Leben erworben werden. Aber der Nativismus empfängt seine Berichtigung durch die Entwicklungslehre. Die von den vorausgegangenen Generationen erworbenen Fähigkeiten vererben sich als Anlagen und müssen als angeboren bezeichnet werden. Die einzelnen Vorstellungen usw. werden dagegen stets erworben.