Protestantismus und Philosophie

[463] Protestantismus und Philosophie. Die Geschichte des deutschen Geisteslebens zerfällt im Grunde in zwei große Abschnitte, deren Inhalt ist, wie wir uns in der Kindheit und Jugend unserer Nation selbst verloren haben und im Fremden untergingen, um zum Kulturvolke zu werden, und wie wir uns im reiferen Alter wiederfanden und eigenes deutsches Wesen zurückerwarben. Im Mittelalter' haben alle bahnbrechenden germanischen Persönlichkeiten dazu beigetragen, uns mit der romanischen Kultur, mit der Kultur des Auslandes in Verbindung zu setzen und uns so aus einem Barbaren- zu einem Kulturvolk zu machen; in der Neuzeit haben uns alle deutschen Geistesführer von fremdem Einfluß befreit und auf unsere Eigenart hingewiesen. Der Wendepunkt in der Entwicklung ist die Entstehung des Protestantismus im 16. Jahrhundert. Der Protestantismus ist das von Rom in Lehre und Organisation losgelöste, auf deutsche Art gegründete und mit deutschem Wesen verwachsene, von dem Eingriff veralteter Philosophie befreite, auf eigene Prinzipien (Bibelwort und innere Erfahrung) gestellte Christentum der praktischen Gewissensfreiheit, der sittlichen Gesinnung und Selbstverantwortung des Individuums, unter dessen Herrschaft sich die moderne Kultur entfaltet hat. Nur durch bewußte Wahl, nicht durch Zwang von den Deutschen[463] gewonnen, hat er sie von der Erdrückung durch fremden Einfluß und von der römischen Hierarchie befreit und ihnen das Recht des eigenen religiösen Empfindens und Denkens zurückgegeben; er hat die Religion von der Beimischung einer noch im Altertum steckenden Halbphilosophie losgemacht und den Glauben auf historisches Zeugnis und Lebenserfahrung gestellt. Er hat das Leben mit seinen Forderungen anerkannt, den Deutschen zu einer seiner Natur entsprechenden Lebenshaltung zurückgeführt und intensive geistige und sittliche Selbsttätigkeit des Individuums geweckt. Er begünstigt die Fortschritte der Kultur und verinnerlicht den Menschen durch die Anerkennung der unmittelbaren Beziehung zu Gott und der Selbstverantwortung des einzelnen Menschen. – Der Protestantismus zeigt seinem ganzen Wesen nach in seiner Entwicklung eine Hinneigung zur Philosophie. Luther hat zwar anfangs jede Philosophie zurückgewiesen. Er haßte den Aristotelismus, »die gottlose Wehr der Papisten«. Aber die protestantische Theologie bedurfte philosophischer Waffen, und schon Melanchthon verknüpfte den protestantischen Glauben mit einem gereinigten Aristotelismus. Als dann später die Systeme der neueren Philosophie entstanden, hat es der Protestantismus der Reihe nach mit dem Cartesianismus, mit Leibniz und Wolf, mit Kant, mit Schelling und Hegel versucht; über ein festes Bündnis mit einem der neueren Systeme ist nicht entstanden. Das Dienstverhältnis der Philosophie gegenüber der Theologie ist selbstverständlich in der Neuzeit aufgehoben. Die Wissenschaft geht ihre eigenen Bahnen, und der Protestantismus hat sich auf Grund der Erfahrung und historischer Kritik ebenfalls in seinen eigenen Gleisen fortbewegt. Eine Übereinstimmung zwischen Philosophie und Protestantismus ist darum viel weniger wahrscheinlich und viel schwieriger erreichbar als dies im Mittelalter bei Katholizismus und Scholastik der Fall war. Wenn jedoch nicht eine unheilvolle Kluft zwischen Glauben und Wissen entstehen soll, ist die Verständigung zwischen dem Protestantismus und der Philosophie eine Notwendigkeit. Es besteht auch eine Wahlverwandtschaft zwischen den Grundlehren des Protestantismus und bestimmten Richtungen der Philosophie. Der Protestantismus, der sich auf äußere und innere Erfahrung und auf historische Zeugnisse stützt, ist seiner Methode nach Empirismus. Als theistischer Glaube ist er mit dem erkenntnistheoretischen Standpunkt des Skeptizismus, [464] Positivismus und Naturalismus unvereinbar, aber ebensowenig hat er mit dem rationalistischen Dogmatismus innere Verwandtschaft. Am nächsten steht er erkenntnistheoretisch dem vom Rationalismus befreiten Kerne des Kantischen Kritizismus, indem er mit ihm das Sonderrecht des Glaubens und Wissens anerkennt. Metaphysisch und ethisch ist der Protestantismus Idealismus und berührt sich auch hier mit der Philosophie Kants, obwohl er mit einem rein formalen Sittengesetz nicht auskommen kann; aber er ist ethischer Glaube, wie es im Grunde auch die Kantische Philosophie ist. Paulsen hat deswegen auch Kant den Philosophen des Protestantismus genannt. Doch ist die Übereinstimmung zwischen Kant und dem Protestantismus eine zwar bedeutende, aber doch nicht vollständige. Eine die Gemüter beherrschende, allgemein anerkannte protestantische Philosophie gibt es also noch nicht. Sie kann nur aus einer Verbindung von Empirismus, Kritizismus und Idealismus erwachsen, und Männer wie Lotze und Fechner sind diesem Ziele nicht ferngeblieben. Vgl. Fr. Paulsen, Kant der Philosoph des Protestantismus. Berlin 1899. J. Kaftan, Das Christentum und die Philosophie. 2. Aufl. Leipzig 1896.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 463-465.
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