Selbstbewußtsein

[561] Selbstbewußtsein könnte 1. im theoretischen Sinne eigentlich nur die unmittelbare Erfassung des eigenen Ichs durch[561] das Bewußtsein heißen. Wir erfassen uns aber nur in unseren wechselnden Bewußtseinszuständen und psychischen Vorgängen. Doch was dahintersteht, erfassen wir nicht. Die Einheit des Ichs ist eine Bedingung der Erkenntnis überhaupt, aber keine Tatsache, die wir beobachten können. Alle Selbstbeobachtung liefert uns kein apriorisches Element des Wissens, das von der Erfahrung unabhängig wäre oder über derselben stände. (Vgl. Kant, Kr. d. r. V. S. 341-405. Von den Paralogismen der reinen Vernunft.) Das Selbstbewußtsein gibt uns also nur immer bruchstückweise unser empirisches Ich. In diesem empirischen Bewußtsein liegt aber 1. eine Summe von wechselnden Vorstellungen, 2. die Kontinuität der Ichvorstellung und 3. die Identität beider. Aber es liegt nicht unmittelbar in diesem empirischen Bewußtsein die Idee einer für sich selbst bestehenden einfachen und immateriellen, denkenden Substanz. Platon (427-347) faßt das Selbstbewußtsein im ethischen Sinne als Selbsterkenntnis, aber Aristoteles (384-322) schreibt dem Verstande die Fähigkeit zu, sich selbst theoretisch zu erkennen (hauton de noei ho nous kata metalêpsin tou noêtou. Metaph. XI, 7 p. 1072b, 20; estin hê noêsis noêseôs noêsis Metaph. XI, 9, p. 1074 b, 34). Ähnliches sagt der Stoiker Epiktetos (2. Hälfte des 1. Jahrh. v. Chr.). Erst Plotinos (205-270) spricht, das Wort Selbstwahrnehmung gebrauchend, vom Selbstbewußtsein (synaisthêsis hautês) und nennt es die Identität des Erkennens, seines Aktes und seines Objekts (nous, noêsis, noêton). Auch Thomas v. Aquino (1225-1274) nennt dieselben drei Seiten des Selbstbewußtseins. Die folgende Zeit hat wenig über das Problem nachgedacht. Kant (1724-1804) hat die Unmöglichkeit des Selbstbewußtseins, sofern es sich um die Erfassung des reinen Ichs handelt, nachgewiesen (siehe oben). J. G. Fichte (1762-1814) dagegen hält sie für möglich und läßt das Selbstbewußtsein durch eine Reflexion der absoluten Tätigkeit des Ichs auf das reine Sein entstehn. Das Reflektierte ist die in einem Punkte angehaltene, fixierte Tätigkeit, das Reflektierende die aus ihrer Begrenzung in ihrer Unendlichkeit sich wiederholende Tätigkeit selbst. Auch Hegel (1770-1831) hält das Selbstbewußtsein für möglich und erklärt: »Die Wahrheit des Bewußtseins ist das Selbstbewußtsein und dieses der Grund von jenem.« Lotze (1817-1881) dagegen bezeichnet das Selbstbewußtsein als bloße theoretische Ausdeutung des Selbstgefühls. Weder die Selbstbezeichnung[562] mit »Ich«, die aus äußerlicher Nachahmung entspringen kann, noch die Unterscheidung der eignen Glieder, noch die Wiedererkennung des eigenen Spiegelbildes ist ein Zeichen des Selbstbewußtseins im Kinde. Es entspringt vielmehr allmählich teils aus Vorstellungen, teils aus Willenshandlungen und Gefühlen. Die Spuren davon beginnen wahrscheinlich schon in den ersten Lebenswochen. Wundt (geb. 1832) erklärt das Selbstbewußtsein mit Recht als das Erzeugnis psychischer Prozesse, nicht als ihre Grundlage, und als eine Realität, die nicht von den Vorgängen, aus denen es besteht, verschieden ist, sondern auf den Zusammenhang dieser Vorgänge schlechterdings hinweist. Das Selbstbewußtsein ist in den Anfängen seiner Entwicklung durchaus sinnlich und mit der Vorstellung des Leibes verwachsen. Erst durch die Selbstauffassung des Willens wird es abstrakter; aber »selbst der spekulative Philosoph vermag sein Selbstbewußtsein nicht loszulösen von seinen körperlichen Vorstellungen und Gemeingefühlen«. (Wundt, Grundz. der phys. Psych. II, S. 259f.; Grundriß d. Psych. S. 269). Vgl. Ich. – Selbstbewußtsein bedeutet 2. im praktischen Sinne soviel als Selbstgefühl (s. d.).

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 561-563.
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