Wahrheit

[688] Wahrheit wird theoretisch in doppeltem Sinne gebraucht, im logischen oder formalen und im materiellen oder inhaltlichen Sinne. Die (formale) logische Wahrheit ist die Übereinstimmung unserer Gedanken mit sich selbst und mit den allgemeinen Denkgesetzen (vgl. Richtigkeit). Sie liegt nur in der Form, nicht in dem Inhalt der Erkenntnis. Die materielle (inhaltliche) Wahrheit hingegen besteht in der Angemessenheit unserer Gedanken für die Gegenstände. Daß diese von selbst beim natürlichen Denken vorhanden sei, ist die Ansicht des »gesunden Menschenverstandes«. Das tiefere Nachdenken kommt aber bald auf die Frage nach der Bürgschaft für die Wahrheit, nach ihren Kriterien.[688] Hierbei kann man den skeptischen, kritischen, dogmatischen und den Standpunkt der absoluten Philosophie unterscheiden. Die Skepsis stellt die Möglichkeit eines wahren Wissens überhaupt in Abrede. Der Kritizismus leugnet die Gültigkeit unserer Erkenntnis vor ihrer Prüfung und über die Grenzen der Erfahrung hinaus; die Dinge an sich bleiben uns unbekannt. Der Dogmatismus dagegen setzt ohne weiteres voraus, daß unsere Begriffe dem Wesen der Dinge entsprechen. Noch weiter in der Richtung geht die absolute Philosophie, indem sie, unter Voraussetzung der absoluten Einheit von Denken und Sein, behauptet, der Begriff sei selbst das wahrhaft Reale. – Eine ganz andere Art von Wahrheit tritt uns bei der Gültigkeit der praktischen Ideen entgegen. Hier handelt es sich nicht um die Angemessenheit des Gedankens für das Sein, sondern im Gegenteil um Übereinstimmung des Seins mit der Idee. Das sittliche, ästhetische, religiöse Tun hat sich nach der Idee zu richten. Diese Wahrheit kann man die ideale Wahrheit nennen.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 688-689.
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