[575] Sinnestäuschungen nennt man mit unzutreffendem Ausdruck falsche Urteile, die auf Grund der Mißdeutung von Wahrnehmungen und Vorstellungen ausgesprochen werden. Die Sinne selbst täuschen nicht, wie schon Aristoteles, Augustinns, Leibniz, Kant anerkannt haben, sondern sie nehmen, wenn sie gesund sind, den Reiz, den sie empfangen, genau auf und erzeugen die demselben entsprechende Vorstellung. Da sie aber nicht nur von außen, sondern auch von innen erregt werden können, und da Reproduktionen mit Empfindungen verwechselt werden können, so liegt oft eine falsche Beziehung der Empfindung oder der Reproduktion auf Ursachen, die nicht vorhanden sind, für uns nahe. Und zwar wird entweder eine reproduzierte Vorstellung abwesender Gegenstände für eine Empfindung genommen und auf ein vermeintliches äußeres Objekt bezogen, oder eine wirkliche Empfindung, die aber durch reproduktive Elemente beeinflußt oder verändert ist, wird falsch lokalisiert und projiziert. Man kann also zwei Arten von Sinnestäuschungen unterscheiden: Jener Vorgang heißt Halluzination (s. d.), dieser Illusion (s. d.). Die Halluzination (Sinnesvorspiegelung) hält eine Vorstellung für eine Empfindung, lokalisiert und projiziert sie. Die Illusion geht zwar von einer Empfindung aus, verfehlt aber ihre richtige Beziehung. »Auf die objektive Wirklichkeit bezogen«, sagt Volkmann, »irrt die Halluzination bezüglich der Substanz, die Illusion bezüglich des Attributes, jene bezüglich des Daß, diese des Was; darum bedarf jene der Zurücknahme, diese der Korrektur.«
So lokalisieren wir oft Schmerzen in Knochen, Zahnkanten, Haarspitzen; Amputierte wähnen im abgetrennten Gliede Schmerz zu haben, Verwundete jede schmerzhafte Berührung ihres Leibes an der wunden Stelle zu empfinden; Reizung der Ellbogennerven wird als Ameisenlaufen in den Fingerspitzen empfunden. Oft werden lokalisierte Empfindungen fälschlich projiziert, z.B. das Knittern vor dem Ohre bei Entzündung des Ohrinnern, ferner die Empfindung des Höckerigen oder Sandigen bei manchen Nervenkrankheiten,[575] die Empfindung des Ameisenlaufens nach dem Genüsse von Mutterkorn. Das Auge veranlaßt zahlreiche Illusionen (optische Täuschungen); so erscheint uns das Weiße, da es mehr Licht erhält, größer als das entsprechende Schwarze, der Zwischenraum zweier durch den leeren Raum getrennter Punkte großer als derselbe zwischen zwei Punkten auf der geraden Linie; Parallelen zwischen konvergierenden Linien erscheinen selbst konvergent; der Himmel erscheint als flaches Hohlkugelsegment, Sonne und Mond erscheinen großer, wenn sie am Rande des Horizonts, als wenn sie hoch am Himmel stehen usf. Eine besondere Art der Halluzination ist die Vision (s. d.). Vgl. Wundt, Grundriß der Psychol. § 18. G. Meyer, Über Sinnestäuschungen. 1866. Preyer, Die fünf Sinne. Lpz. 1870. Purkinje, Physiol. der Sinne. 1823. Sully, Die Illusionen. Lpz. 1884. Hoppe, Erklärung der Sinnestäuschungen, 4. Aufl. Würzburg 1888.