[494] Sinnestäuschungen bestehen im allgemeinen in der Nichtübereinstimmung unsrer Wahrnehmungsvorstellungen mit der Wirklichkeit. Man unterscheidet die abnormen (pathologischen) und die normalen S. Erstere, die wieder in Halluzinationen und Illusionen eingeteilt werden, beruhen auf krankhaften subjektiven Reizungsvorgängen in den zentralen oder peripherischen Organen der Sinneswahrnehmung und treten deshalb nur vereinzelt auf, letztere haben ihren Grund teils in der normalen Struktur und regelmäßigen Funktion der Sinnesorgane, teils in den psychologischen Prozessen, durch welche die sinnlichen Eindrücke erst zu Wahrnehmungen verknüpft werden, und sind deswegen regelmäßige und nicht zu beseitigende Begleiter aller sinnlichen Wahrnehmung. Sie betreffen entweder die Qualität der Eindrücke (wie die Veränderungen, die Farben- und Geschmacksempfindungen durch den Kontrast erfahren) oder, und zwar in der Mehrzahl der Fälle, deren räumliche und zeitliche Beziehungen. Hierher gehören z. B. die Lokalisationstäuschungen: die Verlegung von Reizungen, welche die durchschnittenen Nerven eines amputierten Gliedes treffen, in gar nicht mehr vorhandene Teile, die Verlegung der optischen Nachbilder nach außen, das Doppelt sehen von Objekten bei bestimmten Augenstellungen etc.; ferner die Täuschungen des Augenmaßes: eine vertikale Strecke erscheint kürzer als eine gleichlange horizontale, eine ausgezogene Gerade länger als eine gleichlange Punktreihe etc. (s. Pseudoskopische Erscheinungen); die Bewegungstäuschungen: nach rascher Drehung des eignen Körpers scheint sich die Umgebung in entgegengesetztem Sinne zu drehen, nach längerm Fixieren eines fließenden Gewässers scheint sich das Ufer entgegengesetzt zu bewegen etc. Alle diese Phänomene, denen auch die körperliche Auffassung perspektivischer Zeichnungen zuzurechnen ist, und deren Erklärung im einzelnen noch nicht durchweg feststeht, sind für die Psychologie deshalb von hervorragender Wichtigkeit, weil sie auf die der sinnlichen Wahrnehmung zugrunde liegenden, aber nicht ins Bewußtsein fallenden physiologischen und psychologischen Vorgänge Rückschlüsse erlauben. Manche sogen. S., z. B. die Verwechselung von optischen Bildern mit wirklichen Gegenständen, die Vorstellung, daß ein benachbarter Eisenbahnzug fährt, während unser eigner sich in Bewegung setzte, sind in Wahrheit Täuschungen in unsrer allerdings in vielen Fällen ganz gewohnheitsmäßig gewordenen Deutung des Wahrnehmungsinhalts, also falsche Schlüsse. Pathologisch kommen S. bei Geisteskrankheiten und überhaupt bei solchen Krankheiten vor, die mit einer gestörten Ernährung und abnormen Erregung des Gehirns verbunden sind, soz. B bei Vergiftungen (Opium, Kokain, Alkohol), bei Fieberzuständen (Fieberdelirien bei Infektionskrankheiten), bei Ernährungsstörungen (schwere Blutverluste). Auch vereinzelte Neurosen (Hysterie, Epilepsie, Chorea) sind zuweilen mit S. kompliziert. Die S. gehören zu den wichtigsten Symptomen der Geisteskrankheiten, da sie häufig das erste Zeichen derselben und auch die eigentliche Quelle der falschen Ideen sind, die unmittelbar aus den Erklärungsversuchen, die der Kranke betreffs seiner S. anstellt, hervorzugehen pflegen. Bisweilen scheinen die S. der Irren sich aus einfachen Illusionen herauszubilden. Diese S. treten in den verschiedensten Formen auf. Soz. B. sieht der Kranke leuchtende Sterne, es erscheinen ihm strahlende Gestalten (dies meist im Dunkel der Nacht; Gesichtshalluzinationen), er hört, mit oder ohne derartige oder ähnliche Erscheinungen, Stimmen, die ihm zuflüstern, Belohnungen verheißen, Schreckliches verkünden, liebliche Gesänge ertönen lassen, andre hören Tierlaute, z. B. Hundegebell u. dgl., und sind so fest von der Anwesenheit des Tieres überzeugt, daß sie nach ihm suchen (Gehörshalluzinationen), noch andre Kranke haben verkehrte Geruchs- und Geschmacksempfindungen, indem dem einen alles, was er genießt, bitter schmeckt oder doch einen ganz bestimmten, charakteristischen Geschmack (z. B. nach Zwiebel) hat, während der andre von einem ebenfalls bestimmten Geruch meist übler Natur verfolgt wird (Geschmacks- und Geruchshalluzinationen). Die Sinnestäuschung ist eine Sinnesempfindung ohne äußern Reiz, sie ist zentral, d. h. im Gehirn ausgelöst (Halluzination). Bei der Illusion wird ein äußerer Reiz wahnhaft umgedeutet. Auch Berührungs- und Bewegungshalluzinationen (als ob die Patienten in die Luft gehoben würden, fliegen könnten) kommen vor. Gewöhnlich ist der Geisteskranke ganz unfähig, seine Sinneswahrnehmungen zu berichtigen, besonders wenn schon mehrere Sinne angefangen haben, ihm Falsches vorzuspiegeln. Der Einfluß der S. auf die Handlungen der Kranken ist unberechenbar. Halluzinierende Kranke erfordern die größte Vorsicht. Am einflußreichsten sind die sogen. imperativen S., d. h. Stimmen, die dem Kranken diese oder jene Handlung befehlen. Vgl. Lazarus, Zur Lehre von den S. (Berl. 1867); A. Mayer, Die S., Halluzinationen und Illusionen (Wien 1869); Sully, Die Illusionen (Leipz. 1884); Hoppe, Erklärung der S. (4. Aufl., Würzb. 1888).