Sollen

[582] Sollen bezeichnet die Abhängigkeit des Menschen von der praktischen Vernunft, also die Nötigung durch moralische Bestimmungsgründe oder die psychische Determiniertheit (vgl. Freiheit). Die Existenz eines solchen Sollens offenbart sich sowohl in dem Vorwärtsstreben als auch in dem Pflichtgefühl, welches das bewußte Gefühl des Sollens ist. Es ist nun eins der schwierigsten Probleme, woher im Menschen das Gefühl und Bewußtsein des Sollens, welches wir doch in jedem Menschen finden, stamme. Das Sollen kommt nicht aus den natürlichen Trieben. Man kann wohl aus Furcht, Hoffnung, Selbstsucht oder Liebe handeln, aber zum Gehorsam verpflichtet[582] fühlen wir uns dadurch nicht, sondern nur dadurch, daß sich das Befohlene irgendwie als Seinsollendes kundgibt. Ein fremder Wille kann uns wohl äußerlich zwingen, aber nicht innerlich binden. Das Gefühl des Sollens setzt aber gerade die Gebundenheit in der Freiheit voraus. Ohne Selbstbestimmung gibt es nur ein Müssen, kein Sollen! Die Existenz des Sollens bekundet sich auch in der Reue, die uns nach einer schlechten Tat lehrt, daß wir anders hatten handeln sollen, als wir gehandelt haben. Auch die Kantische Ableitung des Sollens befriedigt den Empiristen nicht. Kant sieht in dem Sollen einen synthetischen Satz a priori. Über den durch sinnliche Begierde affizierten Willen kommt noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen, reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzu, welche die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält. Das moralische Sollen ist ein eigenes notwendiges Wollen als Gliedes einer intelligiblen Welt und wird nur sofern von ihm (dem Menschen) als Sollen gedacht, als er sich zugleich desselben bewußt ist (Kant, Grundleg, d. Metaphys. d. Sitten, III. Absch. Wie ist ein kategor. Imp. möglich?) Wer aber auch Kant nicht beistimmt, muß doch zugeben, daß das Gefühl des Sollens existiert und die Grundlage für das sich im Individuum allmählich ausbildende Gewissen bildet, d.h. für das Bewußtsein und Wissen von dem, was wir in jedem Falle zu tun und zu lassen haben. Das Gefühl des Seinsollenden begründet sowohl das Recht als auch die Moral, indem es uns unmittelbar durch Mißfallen, Indignation und Abscheu bezeugt, was (nach unserer Meinung wenigstens) widerrechtlich und unsittlich ist, während wir beim Rechten und Guten, mag es an uns oder anderen erscheinen, Wohlgefallen empfinden. Beides kommt daher, daß Recht und Sittlichkeit mit unserem Innersten Wesen harmoniert. Natürlich hängt seine besondere Gestaltung auch von den ethischen und juristischen Vorstellungen ab, die aus der Zeit hervorgehen. – Hiernach entspringt das Gefühl des Sollens in der Menschheit etwa so: Bedürfnisse, Triebe, Begierden, Neigungen, Gewohnheiten bestimmen zunächst das menschliche Handeln. Beim Handeln setzt sich der Mensch Zwecke und strebt mit Bewußtsein diesen Zwecken zu. Durch Übung, Gewohnheit und Sitte werden die den Zwecken dienenden Handlungen, die dem einzelnen und der Gemeinschaft nützlich sind, als gut, deren Gegenteil als schlecht bezeichnet. Die[583] Gesetzgebung, Dichtung und Philosophie fixieren diese Erfahrungen als ethische Grundsätze, und Geschlecht auf Geschlecht lernt sie, wendet sie an, überliefert sie weiter und bildet sie aus. Dadurch entspringt in der Seele der zivilisierten Menschen jenes Gefühl des Sollens, welches sich im allgemeinen als Gewissen, im speziellen als Pflichtgefühl für den einzelnen Fall (Beruf oder Tat) bezeichnen läßt. Das Sollen läßt sich also für den Empiristen nicht aus religiöser Begründung, auch nicht aus äußerem Zwang, wohl aber aus der natürlichen Entwicklung der Menschheit ableiten. Nietzsche (1844-1900) leugnet, daß ein Sollen überhaupt vorhanden und auf irgend eine Weise begründbar sei. Es findet aber tatsächlich seine Begründung aus dem sozialen Leben der Menschen. Aber im einzelnen ist natürlich die besondere Ausgestaltung des Sollens und der Pflichten der Kritik unterworfen und keineswegs für alle Zeiten gleich maßgebend. Vgl. Gesetz, Moralprinzip.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 582-584.
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