Urteil

[670] Urteil (lat. iudicium, gr. apophansis, als Glied des Schlusses, propositio, protasis genannt) heißt die sich im Denken vollziehende Verbindung zweier Begriffe, bei welcher der eine Begriff durch den anderen bestimmt wird. Alles Denken ist Urteilen, sowohl das Unterscheiden der Merkmale, wie das Bilden der Begriffe und Schlüsse, mag man seinen Gedanken in einem Satze aussprechen oder nicht. Jedes Urteil besteht aus 3 Stücken: dem Subjekt (S), dem zu bestimmenden Begriff, dem Prädikat (P), dem Begriff, durch welchen das Subjekt bestimmt wird, und der Kopula, d.h. der Verbindung zwischen beiden. Beilegen, Unterscheiden, Zusammenfasen, Unterordnen und Gleichsetzen sind die wesentlichen Akte des Urteilens.

Platon (427-347) definierte das Urteil (logos) als diejenige Verbindung von Substantiven und Verben, die der Verbindung von Ding und Handlung entspräche, Aristoteles (384[670] bis 322) als eine Vorstellungsverbindung (apophansis), in welcher Wahrheit oder Nichtwahrheit sei, oder als einen bejahenden oder verneinenden Satz, der eins auf das andere bezieht. Ähnliche Definitionen finden wir bei Leibniz (1645-1716) und Wolf (1679 bis 1764). Kant (1724-1804) sagt, ein Urteil sei die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen. Herbart (1776-1841) sieht das Urteil als die Entscheidung darüber an, ob zwei Begriffe zueinander passen oder nicht. Nach Hegel (1770-1831) soll es die Urteilung, d.h. Selbstdiremption des Begriffs selbst, d.h. ein objektiver Vorgang der Dinge sein. Schleiermacher (1768-1834) betonte die Beziehung des subjektiven Elements im Urteil auf das Objektiv-Reale. Dem Urteil soll das System der gegenseitigen Einwirkung der Dinge entsprechen. Ähnliches lehren Ritter, Trendelenburg, Lotze und Überweg. Das Urteil als formal-logische Funktion braucht allerdings mit dem Inhalt, d.h. der Wahrheit der Aussage, nichts zu tun zu haben, es bleibt formell richtig, auch wenn es dem realen Sein widerspricht. Eine Logik, die aber nicht rein formal ist, fordert eine solche bestimmtere Urteilsdefinition.

Eingeteilt werden die Urteile meist nach den Gesichtspunkten der Quantität, d.h. nach dem Umfange des Subjekts, der Relation, d.h. nach der Beziehung von Subjekt und Prädikat, der Qualität, wonach dem Subjekt etwas zu- oder abgesprochen wird, und nach der Modalität, d.h. nach der Beziehung des Inhalts des Urteils zur Wirklichkeit. Kant unterscheidet nach der Quantität: einzelne, besondere und allgemeine, nach der Qualität: bejahende, verneinende und unendliche, nach der Relation: kategorische, hypothetische und disjunktive, nach der Modalität: problematische, assertorische und apodiktische Urteile. Nach der hergebrachten Logik unterscheidet man durch Kombination von Quantität und Qualität 1. allgemein bejahende Urteile (alle S sind P), 2. allgemein verneinende (kein S ist P), 3. partikulär bejahende (einige S sind P), 4. partikulär verneinende (einige S sind nicht P). Indem dann von affirmo die Vokale a und i als Bezeichnungen für allgemeine und partikuläre Bejahung, von nego e und o als solche für allgemeine und partikuläre Verneinung genommen wurden, machte Mich. Psellus um 1050 folgende Gedächtnisverse:

Asserit a, negat e, sed universaliter ambo,

Asserit i, negat o, sed particulariter ambo.

[671] Diese übersetzte Gottsched ( 1766) herzlich schlecht so:

Das a bejahet allgemein, das e sagt zu allem Nein,

Das i bejahet, doch nicht von allen, so läßt auch o das Nein erschallen.

Kant unterschied ferner analytische Urteile (d.h. Urteile, in denen das Prädikat durch Zergliederung der Merkmale des Subjekts gefunden werden kann) und synthetische Urteile (d.h. Urteile, in denen das Prädikat zu dem Subjektsbegriffe etwas noch nicht darin Liegendes hinzufügt) sowie Urteile a priori (d.h. reine Vernunfturteile) und Urteile a posteriori (d.h. Erfahrungsurteile). Eine Logik, die auf den Erkenntniswert der Urteile eingeht, hat mindestens Wahrnehmungsurteile, Subsumptionsurteile, Definitionen, Kausalitätsurteile und mathematische Urteile zu unterscheiden. Die ersten bringen das Tatsächliche zum Ausdruck, die zweiten dienen der Ordnung der Begriffe untereinander, die dritten dienen der Begriffsbestimmung, die vierten verbinden die Tatsachen untereinander, die fünften schaffen die Zahlen- und die Größenbestimmungen. Demgegenüber hat die Einteilung der Urteile in der formalen Logik nur sehr geringen Erkenntniswert. – Der Umfang eines Urteils ist nach der Schullogik gleich demjenigen seines Subjektbegriffs, da hier jedes Urteil in der Subsumption von S unter P besteht. Wo S und P reziproke Begriffe sind, kann ein Urteil umgekehrt werden; solche Urteile heißen reziprokabel oder äquipollent. Zwei Urteile, von denen das eine allgemein, das andere partikulär ist und das eine verneint, das andere bejaht, heißen einander kontradiktorisch entgegengesetzt. Konträr oder diametral entgegengesetzt heißen das allgemein bejahende und allgemein verneinende, subkonträr das partikulär bejahende und das partikulär verneinende; subalternierend heißt das Urteil, welches ein Prädikat auf die ganze Sphäre des Subjektbegriffs bejahend oder verneinend bezieht, und subalterniert das dazu gehörige, welches das Prädikat nur auf einen unbestimmten Teil derselben Sphäre bezieht. Hieraus ergibt sich das Schema:

Urteil

[672] Über die Umkehrung der Urteile vgl. Konversion und Kontraposition. Zusammengesetzte Urteile bestehen aus mehreren koordinierten oder subordinierten Urteilen. Kopulative Urteile haben nur ein Prädikat, aber mehrere voneinander verschiedene Subjekte; ihre negative Form bilden die remotiven Urteile. Konjunktive Urteile haben bei gleichen Subjekten disparate Prädikate. Divisive Urteile zerlegen den Umfang eines Gattungsbegriffs in mehrere Arten. Disjunktive Urteile stellen entgegengesetzte Aussagen gegenüber. – Vgl. Herbart, Einl. i. d. Phil. 1813. Ulrici, Logik. 1852. Schleiermacher, Dialektik. 1839. Lotze, Log. 1874. Sigwart, Log. 1881, 2. Aufl. 1889-93. Drobisch, Neue Darstell, d. Log. 1863. W. Wundt, Log. 1880, 2. Aufl. 1893-95. Überweg, System d. Log. 6. Aufl. Bonn 1882.

Quelle:
Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 670-673.
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