4.

[25] Ich war kein eigentlich frommer Knabe. Mit elf Jahren ward ich plötzlich zum eifrigen Kirchengänger. Da erblickte ich auf Pfingsten im Nachmittagsdienst ein kleines Mädchen, und dieses Mädchen tat es mir in der Sekunde an. Was mich zu ihr hinzog, wußte ich nicht; bei ihrem Anblick durchrieselte mich süße Schauer und ich drängte mich beklommenen Atems in ihre Nähe.

Seit dieser Zeit ging ich regelmäßig zur Kirche. Mein Auge suchte gleich beim Eintritt. War die Ersehnte zugegen, so fühlte ich mich im Herzen zufrieden und wählte einen Platz dicht hinter ihr. Auf die Andacht hörte ich nicht hin. Ich sah nur meine liebliche Freundin. Beim Verlassen der Kirche stellte ich mich so, daß sie an mir vorüber mußte, in der Hoffnung, wenigstens einen Blick unter ihren langen Wimpern aufzufangen. Aber ihre Augen blickten immer geradeaus, wie in lockende Ferne, oder suchten den Boden, wie in weltverlorener Andacht. Ich lief beglückt hinter ihr fort nach Haus und wartete auf die Freude des folgenden Sonntags.

Wie ich dieses Erlebnis verrate, kommt mir die Erinnerung an die erste Aufregung, die das Ewig-Weibliche in meinem Gemüte hervorgerufen hat. Ich zählte kaum sechs Jahre. In unserm Hause wohnte für einige Tage ein[25] etwa achtzehnjähriges Mädchen. Eines abends, als ich bereits im Bette lag, aber noch nicht schlief, kam sie an meinem Kissen vorbei, blickte mich freundlich an, neigte sich, fuhr mit der Hand liebkosend über meine Wange und sagte voll Herzlichkeit: »Welch ein hübsches Kind!« Dann schritt sie vorbei und sollte mich später nie mehr berühren. Aber sie ließ meine Knabenseele in jähem Aufruhr zurück. Beim Schmeicheln ihrer Hand durchrieselte mich ein magnetischer Schauer; mich durchzitterte, wie ich heute weiß, zum erstenmal geschlechtliche Lust. Allzu schnell erlosch für mich dieser Blick aus dem erotischen Unbewußtsein. Aber ich schwelgte im Geiste an dieser Erschütterung, ich hütete die Erinnerung als persönliches Geheimnis und suchte, aus unklaren Vorstellungen heraus, mir selbst Ersatz dafür zu schaffen.

Ich war schon damals nicht mehr rein. Schon damals war mir das Kinderlaster vertraut. Eine eigentliche Verführung hatte nicht stattgefunden. Die Natur hatte meinen ahnungslosen Fürwitz darauf gebracht. Wie erstaunte ich daher, als ich zur Schule kam und merkte, daß dieses Spiel von den meisten Kindern geübt ward. Je höher ich in den Klassen stieg, um so mehr konnte ich mich davon überzeugen, daß das »unschuldige Kindervergnügen«, wie ein Arzt das Treiben im unbedachten Leichtsinn genannt hat, allgemein verbreitet war.

Glücklicher Säugling! Die Natur hebt dich in das Reich des Lichts. Die Mutter wiegt deinen traumlosen Schlaf. Schlägst du das ratlose Auge auf, so bricht daraus ein Abglanz höherer Sterne. Deinen hungrig fordernden Lippen wölbt sich entgegen die mütterliche Nährkraft. Müde von Sättigung und Behagen, sinkst du in die Seligkeit des Schlummers zurück. Durch deinen zarten Körper ergießt die Natur ein kostbares Geschenk. Deine Glieder wachsen. Du lösest dich von der Mutter, deine Brust dehnt sich in Breite und Höhe. Du reifest allmählich dem Geheimnis zu, dessen Erfüllung deinen Lebensfrühling heraufführt und[26] dich zum Herrn macht über die Tage der Gegenwart wie der Zukunft, dem Geheimnis der Liebe! O hüte deinen Schatz, du sprossender Knabe! Hüte ihn ehrfurchtsvoller, du geschmeidiger Jüngling! Daß du nicht erröten mußt vor dir und vor denen, die in deinem Samen schlummern! Daß du nicht schuldig wirst gegen dein Leben und die zukünftigen Geschlechter! Aber ach! Nur wenigen bleibt es gegönnt, die himmlische Flamme im ungetrübten Goldglanz der hehren Stunde entgegenzutragen! Wer hat die Schuld an der Sünde? Das Kind? Die Eltern? Die Gesellschaft? Sie alle zusammen. An letzter Stelle und ganz vor allem die Natur. Daher: Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallt! Wenn ihr aber fallt, so verzweifelt nicht. Und seht ihr, daß andere fallen, so richtet nicht.

Gerade der Bibel- und Religionsunterricht bringt dem Kindergemüte sittliche Gefährdung. Unserm Lehrer merkten wir mehr als einmal die Verlegenheit an, wenn er uns aus der Bibel vorlas und zu gewissen Stellen kam. Wir machten uns schon vorher auf die Kapitel aufmerksam, die die Einbildung reizten und bestimmte Vorstellungen weckten. Es gibt auch Lehrer, die gerne und ausführlich, besonders vor höheren Mädchenklassen, bei solchen Abschnitten verweilen. Manche aus ihres Herzens Bosheit hervor, andere unter dem Wunsch, die Wirkung zu beobachten, die solche Zeilen auf die kleinen Zuhörerinnen machen. Und die Folgen dieser Versuche? Das sittlich wurmstichige Kind hört aus dem vielen Neuen gerade das Schlüpfrige heraus und verweilt dabei mit Behagen. Das Unschuldsgemüt horcht in argloser Aufmerksamkeit hin, merkt plötzlich, wie einige Nachbarn bei gewissen Ausdrücken kichern, zischeln oder wichtig lächeln, sitzt auf einmal betroffen und verwirrt, forscht dem Unbekannten nach, und schließlich gehen auch ihm die Augen auf, und zwar wie Bohnenschoten weit und unter Herzbeben.

Was kann z.B. die berühmte Flucht des keuschen Joseph vor der Potipharin dem kindlichen Gemüte sagen und bieten? Und das Abenteuer des heiligen Königs David mit[27] der schönen Betsabe? Und so viele andere? Im Katechismusunterricht ist die Gefahr noch größer. Nicht zu reden von den Verlegenheiten der katholischen Ohrenbeichte, wo, wie ich in späteren Jahren erfuhr, Kinder von 7–9 Jahren sich grundlos der gröbsten Verirrungen anklagen, bis sie durch die eindringlichen Fragen eines Übereifrigen zu Wissenden gemacht werden. Das Schlimmste aber ist, daß sich dadurch zwischen Eltern und Kindern eine dritte Macht drängt, die das größere Vertrauen beansprucht, um das natürlich die Eltern betrogen werden.

Im übrigen habe man vor dem Kinde den Mut der Wahrheit, auch wenn es sich um den Ursprung des Lebens handelt. Die Märchen vom Storch, Kohlkopf und Rosenstrauch sollten endgültig verstummen. Die Wahrheit kann, ohne Entweihung, ohne Eintrag, dem Kinde gereicht werden, allmählich, löffelweise, und es braucht dadurch weder die Liebe noch die Ehrfurcht Schaden zu leiden. Den Mutterschoß, der dem Kind als dunkler, aber rührend traulicher Vorhof zum Tempel des Lebens verraten wird, umschmeicheln Blicke der Verwunderung, Gedanken der Andacht. Die Mutter, als die leid- und todverachtende Mitstreiterin Gottes im Dienste des Lebens, wird zum Mittelpunkte inbrünstiger Dankbarkeit und Verehrung.

Die Wirklichkeit findet ja tausend Gelegenheiten, die Kinder mit rauhem Griff zu mahnen. Ich selbst bin als Kind zweimal dicht an das Geheimnis des Wochenbettes herangestoßen worden. Während meines ersten Schuljahres ward mir eines Tages der Eintritt zur Stube verwehrt. Ich hörte durch die Türe klägliche Notrufe einer bekannten Mädchenstimme. Meiner erschreckten Frage ward irgendeine glaubhafte Ausflucht zuteil. Als ich aber einige Stunden später das Zimmer betrat, entdeckte ich im Bette neben dem blassen Mädchen einen kleinen Fremdling. Der Storch hatte ihn durch den Kamin gebracht. Seine Mutter war darüber so entsetzt, daß sie laut aufschrie und in der Aufregung mit Händen und Füßen um sich geschlagen hatte.[28]

Einige Jahre später bereitete mir eine junge, bei uns wohnende Frau dieselbe Überraschung. Damals aber war ich schon wissend. Die ziemlich gleichlautende Erklärung nahm ich mit einem pfiffigen Lächeln hin und rannte, das Lied vom Adebar summend, auf die Straße, wo ich mich vor Lachen fast wälzte.

Solcherlei waren, in den großen Zügen, meine inneren und äußeren Erlebnisse, als ich, ein zwölfjähriger Junge, mit meinem Schulentlassungszeugnis auf die Straße trat und einem neuen Abschnitt meines Lebens, dem Ausgang meiner Kindheit, entgegenschritt.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 25-29.
Lizenz: