[70] Vom hohen Jaufen stieg ich nieder nach Meran. Hier bedeckten sich meine Alpenschuhe, die erst durch Eis und Schnee getreten waren, mit – Sommerstaub, denn Meran bleibt des Sommers ewige Braut.
Das Etschtal ist steinig und arm; die Armut steigern jährliche Überschwemmungen, deren Höhe mit wagerechten Strichen in den Gebirgsfelsen angedeutet wird.[70]
Von Trient bog ich durch einen östlichen Seitenpaß ab in eine Gebirgslandschaft voll schauerlich-hehrer Majestät. Stundenlang führt der vom Tageslicht nur spärlich erhellte Pfad durch tausend Meter hohe Felsschluchten, deren Wände sich hoch oben zu berühren scheinen und nur noch einen Faden des Himmels erkennen lassen. Dann und wann weichen die Mauern auseinander und ein tiefgrüner See lächelt aus seiner dunkeln Wiege herauf. Die Wirkung, die von der Natur ausgeht, setzt sich bei mir in musikalische Empfindung um. Hier war es gewöhnlich eine wie im Zwiespalt zerrissene Musik, die mein Auge hörte. Die lieblich süßen Klänge waren selten, sie schwebten wie aus weiter Ferne über schimmernde Wasserspiegel zu mir her. Häufig läuteten und rauschten mich ernste, erhabene Weisen an aus dem Falle der glatten Felsflanken, aus den Tiefen der dunkeln Höhlen. Gewöhnlich aber stürmte es mit ungebändigtem Brausen aus zackigen Schluchten, von aufeinander geschleuderten Felstürmen gegen mich ein, wie eine gewaltige Symphonie, deren Klanggewitter sogar die höchsten Leidenschaften in mir aufpeitschten. Entschlossenheit, Ausdauer, Kampfesmut, Verwegenheit, Trotz, Ingrimm, Haß: das waren die Höhengesänge, die mir aus den Gebirgswänden von Trient nach Primolano in die Augen klangen.
Als ich bei Primolano die italienische Grenze überschreiten wollte, gab es vorher ein kleines Scharmützel mit italienischen Karabinieri. Ohne Geld und ohne Paß wollte es mir nicht gelingen, mich bei den Verbündeten durchzusetzen. Glücklicherweise gesellte sich mir ein österreichischer Handelsjude, der den Dolmetsch machte, hilfreich zur Seite, und so trat der Dreibund zu einer feierlichen Besprechung zusammen.
Die Tagesordnung umfaßte nur den einen Punkt: Soll die Allianz an dem Tag gekündigt oder aufrecht erhalten bleiben? Italien stellte die Vertrauensfrage: »Hat Deutschland Geld?« Österreich erwiderte: »O ja, gewiß.[71] Zwei Kreuzer.« Italien wurde nachdenklich. Schließlich meinte sein Bevollmächtigter mit Bedauern, zwei Kreuzer sei eigentlich wenig. Zudem trage Deutschland geflickte Hosen; unter den Umständen könne Italien unmöglich ... Hier fiel Österreich dem Verbündeten in die Rede und führte aus, die Bundespflicht gebiete, daß Italien und Österreich dem armen Genossen mit ein paar Kreuzern unter die Arme und mit einem besseren Paar Hosen auf die Beine helfe. Italien wies nach, daß es sich durch den Dreibund nicht weiter belasten dürfe; wenn aber Österreich sich Deutschlands annehmen wolle, so ... Damit war jedes Bedenken gehoben. Der erschütterte Dreibund war aufs neue besiegelt.
Vorher aber hatte Deutschland noch folgende Schlußfolgerung zur Annahme stellen lassen: »In Anbetracht der heimlichen Annektionsgelüste, die das verbündete Italien verrät, indem es alljährlich seine Armeekorps von Bahn- und Tunnelpionieren, Minierern und Sappeuren über Deutschlands Grenzen hinüberwirft, unter der elektrisierenden Führung seiner Orgeldreherkapellen, darf es nicht als unbillig erscheinen, daß Italien seine Grenzen dem einen friedliebenden Manne aus Deutschland frei gebe.« Was denn auch endlich geschah.
Ohne Sang und Klang, mit zusammengerollten Fahnen, betrat Deutschland italienisches Gebiet und marschierte seiner vielhundertjährigen, romantischen Sehnsucht nach.
Venedig mußte ich links liegen lassen. Ich verfügte nicht über den halben Lire Einfahrtsgeld. Und ich schämte mich auf einmal, in dem fremden Lande zu betteln. Es war nämlich ein Sonntag. Die Menschen gingen so heiter und so festlich geschmückt. Der Tag lag so sonnighell. Ein Bettler durfte seine Feierstimmung nicht entweihen. Ich begnügte mich also schweren Herzens, die berühmte Lagunenstadt aus der Ferne zu grüßen und zu bewundern.
Durch die lombardische Tiefebene wandte ich mich nach Genua. Der März war lieblichmild. Üppig blühten Felder[72] und Wiesen. Bei Piacenza kam ich an den Po. Eine Schiffsbrücke führte hinüber. Aber der Wächter forderte den Zoll: Zehn Centesimi.
Kurz entschlossen ging ich ans Wasser, kleidete mich aus, band die Kleider zusammen, knüpfte sie an meinem Kopfe fest und warf mich in den Strom. Die Strömung riß mich schräge fort. Die beim Schwimmen gebotene zurückgeworfene Kopfstellung hatte ich nicht berechnet, als ich mir die Kleider um den Hinterkopf band. Ich ermüdete daher schnell. Die Last ward zu groß. Ans Umkehren war nicht zu denken; ich befand mich schon in der Mitte des Stromes. Meine Kräfte schwanden. Ich fühlte, daß ich ertrinken müsse. Verzweiflungsvoll maß mein Auge die Entfernung bis zum Ufer. Ich schwamm nicht mehr mit langen, gleichmäßigen Stößen, sondern mit ungleichen Bewegungen, wie instinktmäßig; von der Brücke her klang ein dumpfes Geräusch in mein Ohr; die Wasserstrudel dröhnten wie Kanonenschüsse. Plötzlich spürte ich Erleichterung. Das Kleiderbündel war vom Kopfe ins Wasser gerutscht und schwamm. Ich brauchte es nur noch zu lenken. Ich raffte meine letzten Kräfte zusammen. Einige kräftige Stöße ... Da spürte ich Grund ... das Wasser reichte bis an die Brust. Ich war gerettet. Am Ufer brach ich zu Tode erschöpft nieder und verlor das Bewußtsein. Aber ich kam rasch wieder zu mir, trocknete meine Kleider in der Sonne und hatte schon die Gefahr vergessen.
Ein Gutsbesitzer, der meiner Schwimmprobe zugesehen hatte, lud mich zu sich ein. Ich verweilte bei ihm acht Tage und ward behandelt wie ein Wundermann. Ich wette, noch heute erzählen die Leute dieser Gegend von dem jungen »Tedesco«, der den Po durchschwamm.
Mit etwas Geld und neuer Wäsche nahm ich Abschied. Genua fesselte mich drei Wochen. Ich arbeitete im Hafen auf deutschen Kauffahrteischiffen und stärkte mich wieder an deutscher Kost. Dann brach ich nach Süden auf.
Pisa verwirrte mich von weitem mit seinem schiefen[73] Turm. War die Welt schräg geworden oder ich? Der Anblick war mir anfangs wirklich peinlich.
Zwischen Pisa und Livorno traf ich einen Wald. Italien hat keine Forste. Seine schönen Landstraßen laufen schattenlos.
Ein Gewaltmarsch von 16 Stunden brachte mich an die Tore Roms. Vor Grossetto übernachtete ich auf einem großen Gut. Tausende von Ochsen und Kühe gehörten dazu. Die Arbeiter erhielten 1 bis 11/2 Lire den Tag, ohne Kost und Kleidung. Ich fragte, wie es ihnen möglich sei, von dem Hungerlohne zu leben. »Evviva la malaria,« riefen mir einige zu und erklärten mir: Alle Jahre in den Monaten Juli und August herrscht hier die Malaria. Ganze Strecken Land liegen tiefer als der Meeresspiegel. Das Wasser dringt ein, bleibt stehen und entwickelt giftige Gase, die manchmal Tausende von Menschen niederlegen. Dann ist gerade Erntezeit und Arbeitskräfte sind sehr gesucht. Der Lohn steigt bis auf 7 und 8 Lire. Wer gesund bleibt, verdient; wer krank wird, muß es eben dulden. Aber da niemand vorher weiß, wer krank wird, freut sich alles auf die Zeit des Sumpffiebers. Daher »Evviva la malaria.«
Gleich beim Eintritt in die »ewige Stadt« ward ich wundersam ergriffen. Die Menschen kamen mir doppelt anziehend vor. Der Bauer, der gerade ein Fuder Stroh einführte, schien mir mit einem unbekannten Adel bekleidet. Um Dinge und Menschen wob sich für meine Augen ein Gespinst von Schimmer und Weichheit. Das tat die geschichtliche Erinnerung, die so ungeheuer über dieser Erde lagert. Mich durchdrang es als Hochgefühl: Löse die Schuhe von deinen Füßen. Hier wandelst du auf weltgeschichtlichem Grund.
Ich mietete mich in einem bürgerlichen Hause ein. Mein Geld konnte ich sparen. Rom hat mancherlei Hilfsquellen. Konsulat und Vereine nehmen sich der Deutschen an; auch reiche Landsleute geben den Bittstellern gerne. Die Klöster spenden Kleider und gutes Essen. Ich verlebte[74] in Roms Mauern einen Monat frei von Sorgen und Ungeduld.
Merkwürdiger als durch seine bedeutende Vergangenheit ward mir Italiens Hauptstadt schließlich durch die Gegensätze, die sich zwischen ihren Mauern in der Arena der Weltanschauungen schroff herausfordern.
In einem päpstlichen Palaste hat sich ein weltlicher Herrscher, der Eroberer, niedergelassen, wie früher das Christentum seine Heiligen in heidnische Tempel einführte. Die Hauptstadt der katholischen Christenheit wird durch einen freidenkerischen Stadtrat verwaltet. Auf dem Platze, wo vor dreihundert Jahren Giordano Bruno als lebendige Fackel loderte, erhebt sich heute sein Denkmal, von dem modernen Gedanken dem mittelalterlichen Glauben kecktrotzig vor die Stirne gesetzt. Und wer nach fünfzig Jahren diese Straßen durchwandelt, den grüßen gewiß die Denkmäler Imbrianis, Cavalottis und mancher anderen, die den heutigen Machthabern noch ein Greuel sind und ihre Liebe zum Volke mit Kerker und Verbannung büßen müssen.
Durch die pontinischen Sümpfe suchte ich meinen Weg über Gaeta, Capua, Caserta nach Neapel. Hier blieb ich fünf Wochen und könnte allein über diese Stadt ein dickes Buch schreiben. Welch ein himmlisches Rundbild erschließt sich von der Höhe des Vesuvs dem schwelgenden Auge! Aber welche Armut drunten in dem Gassengewirr! Welche Orgien des Lasters! Welch unerhörte Ausbeutung des Kindes und des Weibes, die sogar nicht vor dem Leib des zehnjährigen Mädchens halt macht!
In Marmorpalästen jauchzen hier Lieder
und »Tränen Christi« schenkt man ein;
doch wieviel Tränen rieseln hernieder
im Weinberg und auf Marmorgestein.
Auch Pompeji besuchte ich. Ich hatte das Glück, dort einen Professor aus Luxemburg, Dr. Reh, anzutreffen, dem ich mich anschließen durfte. Unter seiner Leitung besuchte[75] ich die tote Stadt. Alte Einrichtungen und Sitten, Gesellschafts- und Kulturzustände wurden mir lebendig. Was ist doch Bildung und Gelehrsamkeit für ein göttliches Geschenk!
Mein liebenswürdiger Führer äußerte den Wunsch, mit mir Unteritalien zu Fuß zu durchstreben; er liebte es auch, abseits der vielbefahrenen Straßen seine Reiseentdeckungen zu machen. So brachen wir denn selbander von Neapel auf, um über Tarent nach Brindisi zu gelangen und von dort nach Griechenland überzusetzen.
Süditalien ist so ganz verschieden von dem Rest der Halbinsel. Ein richtiges Eisenbahnnetz gibt es noch nicht. Die Landstraßen sind schmal und wenig befahren, überwuchert von hohem Gras und Unkraut. Die Postwagen, denen je zwei Carabinieri als Spitzenreiter vorauffliegen, muten an wie ein letztes Stück fahrenden Mittelalters und beschwören die ganze Brigantenromantik herauf.
Es war gegen Ende August. Eben wurden die Stoppelfelder abgebrannt, um dem Boden den gehörigen Aschegehalt zuzuführen. Während der Nacht boten die flimmernden und schwelenden Felder ein seltsames Bild.
Manches Gewitter ging über uns nieder. Einmal mußten wir uns vor den Wolkenstürzen in einen Kanal flüchten, durch dessen Höhlung die Gebirgswasser einem nahen Flüßchen zurauschten. Wir hockten auf dicken übereinander gewälzten Steinen und drückten den Katzenbuckel gegen das Gewölbe. Die Wasser gurgelten unter uns mit zornigem Aufschäumen fort. Die Blitze schienen Leuchtkugeln durch den Kanal zu schießen. Endlich hörte der Aufruhr auf. Wir waren erlöst und krochen ins Freie. Draußen der Boden war aufgeweicht. Jeden Schritt glitschten wir um die halbe Länge zurück. Ein rasches Vorwärtsschreiten gab es an dem Abend nicht mehr. Die nasse Erde war auch nicht einladend zum Nachtlager. Wir stapften schweigsam dahin. Mein Begleiter seufzte dann und wann, wenn sein Schuh sich unter besonders fettem[76] Gelatsch von dem Lehm löste; ich empfand das alles als ein göttliches Elend.
Plötzlich tauchten am Wege die Umrisse eines Hauses auf. Wir hielten darauf zu und pochten an die Haustüre. Eine junge Frau öffnete. Beim Anblick der Fremden trat sie erschreckt zurück und wollte die Türe zuwerfen. Unsere Bitten beruhigten sie. Wir durften ihr ins Innere folgen und setzten uns ans Herdfeuer. Die Italienerin blieb bei uns. Unsere Aufklärungen verscheuchten ihre letzte Furcht. Ja, es tat ihr auf einmal wohl, nach dem Gewitter, das sie beängstigt hatte, den Abend in Gesellschaft zu verbringen, denn sie war allein im Haus. Es ward allmählich ganz gemütlich. Ich stopfte meine Pfeife und rauchte. In der Meinung, mein Gefährte wolle auch rauchen, holte sie ihm einige Pfeifen zur Auswahl. Der Professor fragte, ob das die Pfeifen ihres Mannes seien. Dieses unschuldige Wort ließ die junge Frau auf einmal laut aufklagen. Dann erklärte sie unter häufigem Tränentrocknen, daß ihr Mann erst vor einigen Tagen gestorben sei; nun führe sie mit ihrem Bruder die kleine Wirtschaft, der sei eben nach Tarent zum Markte gefahren; vom Gewitter überrascht, werde er wohl die Nacht in der Stadt verbringen. Sie bereitete uns eine Abendsuppe und Polenta. Es schmeckte uns vortrefflich; wir saßen noch lange plaudernd zusammen und gingen dann zu Bett. Seit geraumer Zeit hatte ich nicht mehr den Vorzug reinen Linnens genossen. Ich schlief herrlich.
Als wir herunter kamen, trat uns die Wirtin entgegen. Ihre Schönheit spiegelte sich in der neuen Sonne. Wehmut beschattete ihr dunkelbewimpertes Auge, als wir, mit gerührter Seele dankend, Abschied nahmen.
Wir waren ungefähr zwei Meilen in der Richtung nach Tarent marschiert, da begegnete uns ein junger Bauer mit einem Eselsgefährt. Gewiß war das der Bruder der freundlichen Witwe. Er erwiderte unseren besonders herzlichen Gruß mit verwunderter Freundlichkeit.[77]
Dann kamen schwüle Tage. Der Durst quälte mich oft und ich trank das Wasser aus den sumpfigen Lachen. Häufig feuchtete ich auch meine Kopfbedeckung an zur Abwehr der brennenden Pfeile. In Ancona ward ich vom Fieber erfaßt. Dr. Reh holte einen Arzt. Der verbot mir die Weiterreise und brachte mich ins Krankenhaus. Hier nahm der Professor Abschied von mir.
Er fuhr nach Korfu, um von dort nach Griechenland überzusetzen. Ich mußte meine schönen Träume, die Erde des Sophokles und des Perikles zu betreten, aufgeben und meines leiblichen Menschen warten. Es ging langsam besser. Schließlich konnte ich meine Reise fortsetzen, aber mit durchaus verändertem Kurs. Ich erhielt vom deutschen Konsul freie Fahrt nach Norden und etwas Taschengeld. Viel lieber wäre ich in Ancona geblieben. Ich mußte mich aber der Heimat zuschieben lassen, wo andere Pflichten auf mich warteten, denn ich hatte noch nicht gedient und das Soldatspielen ging mir schwer gegen das Gemüt.
In Lugano half mir der italienische Konsul, dem ich empfohlen worden war, freundlichst weiter. Meine Lungen waren inzwischen in der reineren Luft des Nordens gekräftigt und auch die Schwermut wich von meiner Seele.
Der Bahnhof von Lugano liegt auf steiler Höhe. Von seiner Terrasse genießt man einen reizvollen Anblick auf die Stadt und den segelüberwimpelten See. Der Steig stand an dem Tage voll fremden Volks. Den Deutschen merkte man von weitem. Er gibt sich nämlich so, als wenn er allein auf der Welt wäre, und hält darauf, gehört zu werden. Vielleicht schwatzt er auch nur so laut, weil sein Ohr sich am Klang der eigenen Stimme ergötzt, und glaubt in seiner »Deutschen Michel«-Gutmütigkeit oder in seiner persönlichen Gotendummheit, daß derselbe angenehme Kitzel sich auf den Nebenmenschen weiterpflanzen müsse. Sind eine ganze Anzahl dieser unheimlich Gutmütigen zusammengetroffen, so folgen sich die Ausrufe laut, als wäre die Gesellschaft nur aus Tauben oder Schwerhörigen zusammengesetzt.[78] Hocken diese Biedermänner wieder daheim und sollen von ihren Reiseerlebnissen erzählen, so können sie nichts wiedergeben als das, was ihre Ohren selbstergötzend gekitzelt hat. Sie sind da und dort gewesen, gesehen haben sie nichts; denn die überlaute Inanspruchnahme des Ohres lenkte ihre geistige Tätigkeit ab, genau in dem Augenblicke, wo das Auge das Sehenswürdige ungestört auffangen sollte.
Berauscht von ihrer eigenen Rede, betäubt von dem Wortmischmasch verwandter Seelen müssen sie ihr armes Gehirn, statt an die Eindrücke der Netzhaut, auf das Ohr verweisen und bei diesem erst fragen, was der Mund am Vierwaldstättersee oder auf dem Rigi Großes geschwatzt hat. Das Ohr schnarrt dann seine Erinnerungen ab wie eine Phonographenwalze und im Gehirnkasten klingt, summt, gellt, schreit, dröhnt es bald einzeln, bald schrill durcheinander: »Schön! Reizend! Lieblich! Köstlich! Herrlich! Entzückend! Wunderbar! Großartig! Erhaben! Himmlisch! Kolossal! Pyramidal! Göttlich!« Zusammensetzungen wie: »Überaus schön! Großartig schön! Merkwürdig, wunderbar!« machen es dem angestrengt lauschenden Gehirn doppelt schwierig in dem Gezirpe, Geflöte, Getute, die einzelnen Klänge klar zu unterscheiden und mit ihrer Hilfe das oberflächlich geschaute Bild wiederzugeben.
Was soll z.B. die Berliner Schlächtersfrau (für einen solchen Wurstkessel hielt ich den Fettklumpen im Weiberrock vor mir) von Lugano anders erzählen können! Ihre Blut- und Leber »wurscht« mag ja ganz gut und ihre »Wurscht«-suppe köstlich sein, aber beim Mischen und Stopfen, beim Einwickeln und Aushändigen ihrer klebrigen, schmierigen Portionen pflegt sie jeden Griff mit Ausrufen zu begleiten wie: »Jeschmackvoll! Brachtvoll! Wunnervoll scheen!« und wird dadurch ganz bequem an Lugano erinnert, wo sie zur Zeit in diese unerhörten Offenbarungen ihrer schönheit-hungernden Seele ausgebrochen war.
Ein kleiner Italiener schlüpfte durch die Gruppen der[79] Reisenden und bot Wachsstreichhölzer feil. »Niente bisogno, signore?« fragte er, auch an mich herantretend. »Mio ragazzo! Anche io sono un povero diavolo senza danaro,« antwortete ich dem Knaben, dessen kindliches Gesicht bereits männlichen Ernst zeigte. Der Junge dankte mir mit aufrichtigem Blick, trotzdem ich nichts gekauft hatte, und ging weiter.
Ein feingekleideter Herr im grünen Gemsbarthut hielt ihn an, nahm ihm eine Schachtel ab, zog die Börse und reichte dem Knaben einen – Sou. Das Kind blickt enttäuscht das Kupferstück an und fordert schüchtern 10 Centesimi, denn es hatte beim Ausbieten laut genug geschrien: »Fiammiferi fulminanti della Venezia, dieci centesimi!«
Bei der Bemerkung des Kindes rief die neben dem Herrn stehende Dame im feinen Staubmantel entrüstet: »Alfred, du gibst die Schachtel wieder zurück, sie ist zu teuer. Bei uns zu Hause bekommt man drei Schachteln für zehn Pfennig.«
Alfred, der Fügsame, tat nach dem höheren Befehl. Er reichte die Wachsstäbchen, die in Italien 20 Cent., also das Doppelte kosten, zurück, nahm dem Kleinen den Sou wieder ab, barg ihn in seiner Börse, klemmte seinen Kneifer zurecht und wandte sich mit der Gnädigen dem Landschaftsbilde zu. Hier bewaffnete die Dame ihre Augen mit einem Feldstecher und suchte die Gegend ab. Dabei entschlüpften ihr Hochseufzer des Genusses wie: »Ach, Alfred, wie herrlich! Welch eine wunderbare Aussicht! Sieh doch, Alfred!« Und Alfred, der Fügsame, stimmte begeistert zu: »Janz verflucht scheen! Verdeibelt jroßartig! Janz niederträchtig wunderbar!«
Die Schweiz ließ ich in raschem Fluge hinter mir. Zu Konstanz nahm ich meine Fußwanderung wieder auf, berührte Säckingen, bereiste den Schwarzwald und kam nach Stuttgart. Hier harrte meiner eine niegehoffte Überraschung.[80]
Ich hatte nach Haus gemeldet, ich sei wieder auf deutschem Boden und werde in Stuttgart Arbeit suchen. Da erschien eines Tages auf meinem Zimmer eine feine junge Dame, die mich mit lauter Freude begrüßte. Es war meine älteste Schwester Sophie. Sie hatte sich, mit einer schönen Stimme begabt, der Brettlbühne zugewandt und war vor einigen Monaten als Konzertsängerin nach Stuttgart verpflichtet worden. Sie war glücklich, als sie sah, daß ich mit heiler Haut »vom Ende der Welt« zurückgekehrt sei. Sie schenkte mir siebzig Mark zu einem neuen Anzug und richtete mir ein Zimmer auf dem von ihr bewohnten Stockwerk ein. Die übrigen Zimmer teilte sie mit ihrer Freundin Sannchen, die ebenfalls Sängerin war, und zwar hatten die Damen einen gemeinschaftlichen Salon und jede ihr eigenes Schlafzimmer.
Anderthalb Jahre war ich auf der Wanderschaft gewesen. Über sechs Monate hatte ich in Italien zugebracht. Der Aufenthalt meiner Schwester in Stuttgart sollte noch drei Wochen dauern.
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