4.

[90] Zu Heidelberg fand ich Arbeit in einer Zigarrenfabrik. Bei fieberhaftester Tätigkeit konnte ich im Stücklohn 1,50 Mark täglich verdienen. Dabei mußte ich alle Nebenarbeiten machen: die Einlagen strippen und trocknen, Umblatt und Deckblatt bereiten, Wickel machen und einrollen,[90] alles für 5,50 Mark das Tausend. Das Material taugte nichts. Dabei herrschte eine Arbeitstyrannei, gegen die Gefängniszucht Erlösung bedeutet hätte. Wir durften nicht sprechen, geschweige singen. Den Kopf fortdauernd gebeugt bis zur Erstarrung, die Brust eingedrückt, den Leib mit angespannten Bauchmuskeln eingezogen, die Beine zur Erde gestreckt, den Fuß gekrümmt, die Zehen eingebogen, so hockten wir und fronten täglich elf bis zwölf Stunden in einer verpesteten Luft. Die Ausdünstungen der Tabake, die Schweißabsonderung der Menschen benahmen den Atem. Nach einigen Stunden pochte es mir in den Schläfen, ich spürte, wie meine Nerven blitzartig auf der Stirne spielten. Luft, Luft! Hinaus auf die Landstraße!

Siebzig Sklaven, davon vier Fünftel Frauen, richteten sich in dieser Hölle zugrunde. O ihr bedauernswerten Opfer der Akkordarbeit, Proletarier, ihr meine Brüder und Schwestern! Denk' ich euer, durchschwemmt meine Seele ein Meer leidenschaftlicher Liebe und Erbarmung zu euch und euern Kindern. Aber durch seine Tiefen rast auch ein Golfstrom siedenden Hasses gegen eure christlichen und jüdischen, eure kapitalistischen Quäler und Mörder!

Von Heidelberg dampfte ich über Darmstadt nach Frankfurt. In meinem Abteil saßen zwei deutsche Jungfrauen, eine hübscher als die andere. Sie sahen beide müde und übernächtig aus. Wie überrascht war ich, als sie plötzlich auf italienisch miteinander plauderten. Sie kamen, wie ich ihrem Gespräche entnahm, vom Lago Maggiore, und begaben sich, ihren Herrschaften vorauf, nach Breslau. Ich lehnte teilnahmslos in der Ecke und suchte möglichst gleichgültig vor mich hinzublicken. Ich hatte auf meiner Wanderfahrt italienisch genug gelernt, um die gewöhnliche Unterhaltungssprache zu verstehen.

Auf den Zwischenstationen stiegen Leute ein und aus. Die Mädchen hatten offenbar Spaß daran, durch die fremde Sprache die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Es reizte mich, sie zu überraschen.[91]

Auf der nächsten Station wollten die Damen, wie ich hörte, ein Glas Bier trinken. Ich legte mir einen kleinen Kriegsplan und eine Ansprache zurecht. Der Umgang mit Fräulein Sannchen wirkte in mir nach. Eben stoppte der Zug und die Kellner liefen mit den Bierbrettchen die Wagenreihe entlang.

Die Mädchen standen hinter mir. Ich nahm drei Glas Bier, bezahlte, kehrte mich um und drückte jeder ein Glas in die Hand. Sie standen wie versteinert, hielten das Glas krampfhaft fest, staunten erst sich und dann mich an. Ich lachte und sagte. »Bevano, Signorine, alla loro fortuna! Io sono stato in Italia. Vivano le belle signorine! viva l'amore!« Und ich stieß mit ihnen an. Eine jähe Röte überflog die hübschen Gesichter. Aber dann taten sie mir Bescheid, was mich recht freute. Das deutsche Bier löste ihre deutschen Zungen und unter lustigem Plaudern liefen wir in Frankfurt ein. Ich half den allerliebsten Schäkerinnen die Koffer lösen und weiterschicken und begleitete sie zu ihrem Abteil. Schon sollte der Zug abgehen, da sprang ich schnell aufs Trittbrett und nahm meinen Lohn in Empfang, der mir gern gereicht wurde. Sie küßten beide gut und warm. Besonders die eine, Minna, die Blonde. Dem abfahrenden Zug schwenkte ich den Hut nach. Es war Mitternacht.

Über Mainz und Bingen schlug ich mich über den Hunsrück nach Trier und von dort nach Luxemburg.

Spät abends kam ich in der kleinen Stadt an. Ich fand ein gutes Bett, morgens gutes Brot und Kaffee. Die Preise schienen mir teuerer als irgendwo in Deutschland. Ich fragte nach dem Herrn Professor Reh, den ich jedenfalls aufgesucht hätte. Zu meinem Schrecken hörte ich von der Wirtin, der Professor sei im September zu Ancona gestorben. Er war, wie ich berichtet habe, nach Griechenland übergesetzt, an der Ruhr erkrankt, auf der Heimfahrt in Ancona ausgeschifft worden und trotz bester Pflege dort verschieden. In Ancona hat man ihn auch begraben, in[92] Ancona, wo ich selber krank gelegen war und so gerne geblieben wäre. Diese Kunde griff mich sehr an. Ich hatte meinen gelehrten Reisebegleiter aufrichtig verehrt. Er ward auch von seinen Landsleuten allgemein geschätzt und betrauert.

Ich besah die Stadt. Die Straßen lagen still, aber nicht gerade sauber. Die letzten Überreste der Festungswerke, Tore und Türme und Bastionenwinkel und Kasernen, ermöglichten noch eine Ahnung von dem »Gibraltar des Nordens«, dessen Mauern dem Naturfels für die Ewigkeit aufgesetzt zu sein schienen.

Sie erinnerten mich an die Zeit, wo preußische Truppen diese Stadt besetzt hielten, die einem von Deutschland politisch unabhängigen Lande zugehörte. Zu jener Zeit konnten die Bauern der umliegenden Dörfer ihre Gartenschätze gewiß leicht an den Mann bringen, denn die Preußen haben was weggefüttert. Dafür mußten aber auch Bürger und Bauern gegen den »innern« Feind bei Tag und Nacht scharf ausspähen und den Knüppel nicht aus der Hand lassen, denn diese Kriegshelden litten schwer an Mondsucht. Gewiß haben die Mütter erleichtert aufgeatmet, als die letzte preußische Hose um die Ecke verschwunden war.

Seither ward der enge Festungsgürtel gesprengt; die losgeschnürte Stadt reckt die Glieder und dehnt die Brust in jugendlicher Kraft. Aus einem Bollwerk des Völkerhasses und der Zerstörung wird sie zu einer Heimstatt des Friedens, zu einem Herde des Fortschritts, der im Sattel der Lokomotiven über die riesigen Höhen und zielverknüpfenden Brücken rollt.

So liegst du nun vor mir im Glanze der Oktobersonne, kleines Luxemburger Land! Um die Felsen deiner Hauptstadt ist das Blut aller kriegerischen Nationen Europas emporgedampft. Aber die Eifersucht der Großmächte ward dein Heil; sie gab dich dir selbst zurück und damit dem Glück im Winkel. Wohl bleibst auch du nicht behütet vor den Kämpfen der Zeit. Auch innerhalb deiner[93] Grenzen wird gefroren, geduldet und gehungert. Doch der Moloch Militarismus frißt dir noch nicht die besten Kräfte weg. Dir bleiben Mittel und Arme zu den Werken der Erziehung, der Menschenliebe, der Kunst.

Dies eben ist der große Vorzug kleiner neutraler Staaten. Sie denken friedlich und urteilen gerecht. Sie empfinden international, also menschlich im höchsten Sinn. Sie predigen nicht den Haß aus Vaterlandsliebe. Zwischen den eisenstarrenden Riesen liegen diese Kleinen eingeklemmt, hilflos wie Kinder, aber doch Lieblinge des guten Geistes, denn in ihrem Gefühl verdichtet sich das Gewissen der Menschheit. In ihren Ansichten über Geschichte und Entwicklung sind sie den sogenannten Großmächten um Jahrzehnte vorauf. An dem Tage, wo der letzte dieser Kleinen der Kriegslist und Eroberungsgier eines Großen zum Opfer fällt, traure die Menschheit, denn sie ist in ihrer Seele ärmer geworden.

In den Luxemburger Zigarrenfabriken fand ich nicht die erhoffte Beschäftigung. Da wollte ich es mit Belgien versuchen.

Noch am Abend brach ich auf und verließ die liebgewonnene Stadt, die heute als ein Markstein an meinem Schicksalswege steht.

Eine prächtige Eschenallee leitete mich hinaus. Die Luft war kühl, die Straße breit und gut. Das Dunkel brach herein. Rechts von meinem Wege hob eine Windmühle ihre Riesenflügel wie ein riesiges Kreuz über die Erde empor. Ein langes Dorf verfolgte mich mit Hundegebell. Dann umfing mich die weite Leere der Spätherbstflur. Dicht am Wege lag eine einsame Hütte. Aus dem kleinen Fenster fiel ein Lichtschein auf die Straße. Der goldige Schlagbaum hemmte meinen Schritt. Ich schlich behutsam zum Fenster hin und äugte hinein. Um den Tisch saß eine zahlreiche Familie. Die Mutter trug eben Suppe und Kartoffeln auf. Eltern und Kinder schienen schweigsam und ernst; aber hinter dem Fenster lag mir doch im[94] Verklärungsschimmer die Poesie des eigenen Herdes, der Zauber der Familie.

Erinnerungen aus der Kindheit suchten mich heim, aus Tagen, wo der Abend auch mir ein ähnliches Zusammensitzen brachte bei Eltern und Geschwistern. Seither fand mein Fuß keine Stütze mehr, wo er weilen, meine Seele keinen Grund mehr, wo sie dauernd wurzeln konnte. Mein Herz ward voll Schwermut und Sehnsucht. Der arme Bauer drinnen schien mir der Glücklichste aller Sterblichen.

Ein unwiderstehlich plötzlicher Drang ließ mich gegen die Scheiben pochen.

Das Elternpaar und die jungen Schwalben wurden aufgeschreckt, sie blickten nach meiner Richtung. Ich starrte bewegungslos hinein. Da sprangen die Kinder von den Stühlen, redeten erregt auf den Vater ein und wiesen mit den Löffeln nach meiner Richtung. Nun kam auch Leben in den Mann. Schwerfällig erhob er sich, als hätte er Blei in den Gliedern, trat langsam und schwankend in den Flur und öffnete die Haustüre. »Wer ist da? Was wollt Ihr?« Seine Stimme klang rauh und etwas unsicher. Ich grüßte und sagte, meine Absicht sei gewesen, die Nacht bis Arlon durchzumarschieren, aber es werde kalt, daher wäre ich so frei und bitte um eine Streu im Stall oder auf dem Schuppen.

Der Mann hieß mich mit einigem Zögern, doch freundlichen Tons, eintreten. Neugierige Äuglein umkreisten mich beim Eintritt in die Stube wie kleine Nachtschmetterlinge. Die Frau fragte, ob ich gegessen habe. Mein Magen zog stark, aber ich sagte, ich sei satt, denn aus allen Winkeln der Stube sah die Dürftigkeit hervor und ich schämte mich, den blassen Kindern die Kartoffeln so mir nichts dir nichts vor den hungrigen Mäulern wegzufressen. Die Frau wies mir einen Platz an der Tischkante beim Ofen an, denn ich sei gewiß kalt. Nun aß die Familie weiter; dabei streifte mancher Kinderblick über den hin und her wandernden Löffel zu mir herüber. Aber der Ton und die Miene,[95] womit ich meine Ablehnung vorgebracht hatte, schien nicht überzeugt zu haben. Nach einigen Augenblicken stand die Frau auf, holte eine Schüssel, löffelte ein Häuflein Kartoffeln hinein und schob mir sie zu mit der bestimmten Aufforderung »mitzumachen«, denn der Hunger sehe mir ja aus den Augen. Da griff ich zu und kaute tüchtig. Nun wich auch die peinliche Stille, die bis dahin in der Stube gelastet hatte, und die Gemütlichkeit erhob ihre laute Stimme.

Nach dem Essen beteten die armen Leute ein schlichtes Vaterunser; die größeren Kinder setzten sich an ihre Schularbeiten, die jüngeren wurden zu Bett gebracht. Auch zu mir kamen sie, sagten: »Gute Nacht!« und reichten mir die zarten Händchen, was den armen Vagabunden mit seliger Weichheit ergriff.

Aus den Schularbeiten ersah ich, daß diese Kinder nach einem besseren Lehrverfahren unterrichtet wurden und mehr wußten, als ich im gleichen Alter. Sollte eine luxemburgische Landschule wirklich höher entwickelt sein als die Volksschule in Preußen, dem Lande der Erziehungslehre, als in Königsberg, der Stadt der reinen Vernunft? Das wäre wieder ein Beweis für den kulturfeindlichen Einfluß des Militarismus.

Des andern Tages, in der Morgenfrühe, erreichte ich Arlon. Auch hier keine Arbeit.

Da machte ich kehrt, überschritt wieder die luxemburgische Grenze, kam über Diekirch, durchs Ösling nach St. Vith, durch die Eifel über Eupen nach Aachen.

In Aachen verkaufte ich Fräulein Sannchens Bild, um für einen Tag und eine Nacht unterzukommen. Alle sonstigen Geschenke hatte ich schon früher zu Geld gemacht. Mit dem Bilde war die letzte sichtbare Erinnerung an das schönste Abenteuer meines Lebens von mir gegangen. An mich aber trat gebieterisch heran die Pflicht, dem haltlosen Burschenleben ein Ende zu machen.

Quelle:
Bergg, Franz: Ein Proletarierleben. Zweite Auflage, Frankfurt a. M. 1913, S. 90-96.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Nachkommenschaften

Nachkommenschaften

Stifters späte Erzählung ist stark autobiografisch geprägt. Anhand der Geschichte des jungen Malers Roderer, der in seiner fanatischen Arbeitswut sich vom Leben abwendet und erst durch die Liebe zu Susanna zu einem befriedigenden Dasein findet, parodiert Stifter seinen eigenen Umgang mit dem problematischen Verhältnis von Kunst und bürgerlicher Existenz. Ein heiterer, gelassener Text eines altersweisen Erzählers.

52 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon