Anno 1703
§ 51

[121] Ich docirte also dieses 1703. Jahr schon selbst die Philosophie: ich hörte sie noch selber, ich las auch die Philosophos recentiores [modernen Philosophen] darüber, so Herr Olearius uns im Discurse recommendirte [in der Vorlesung empfahl]. Doch dabei ließ ich es nicht bewenden, sondern meditirte auch darneben über alles, was ich las, und hörte, wozu ich von Natur, nach Art der Melancholicorum jederzeit geneigt gewesen, und wodurch ich, wie ich glaube, mehr, als durch Lesen und Hören gelernet habe. Gleichwie man aber durch tiefsinniges Speculiren leicht zu[121] weit gehen kann, so geschahe es, daß auch schon in diesem Jahre diejenigen Skrupel in theologischen Dingen und Religions-Sachen bei mir rege wurden, welche nach der Zeit mein Gemüte nicht wenig beunruhiget. Ich fieng mich schon dazumal an über einige Lehrer zu ärgern, so oft sie den Leuten als ein Geheimnis vorsagten, daß der Glaube, wenn er rechter Art sei, gute Früchte und ein heiliges Leben nach sich ziehen müßte, und darinnen doch keine Demonstration [Darlegung mit Beweisen] machten, noch die Sachen a priori [aus Vernunfts- bzw. Autoritätsgründen] deutlich erklärten, sondern nur mit Gleichnissen von der Sonne, und ihren Strahlen, von einem Baume und dessen Früchten hergenommen, die Zuhörer abspeiseten, und die Sache erläuterten. Dannenhero in dem Tractat, Einfluß der Göttlichen Wahrheiten in den Willen, ich nach der Zeit die genaue Verbindung zwischen Glauben und Gottseligkeit deutlicher zu zeigen mich bemühete; und, ich wünschte, daß ich bloß bei diesem Stücke im ganzen Buche wäre stehen geblieben, und andere unnötige Dinge nicht mit untergemenget hätte, vielleicht würde man mich mit meiner Demonstration noch haben passiren lassen. Durch Hülfe der Meditation, weil ich den Einfluß der practischen Wahrheiten, sie mögen nun formaliter [ausdrücklich], oder, wie die eigentlich sogenannten Glaubens-Artikel, virtualiter [latent] practisch sein, wohl einsahe, kam ich auch in diesem 1703. Jahre auf die Gedanken, daß die Gottlosen alle weder Hölle noch Himmel, noch ein jüngstes Gerichte, noch die wichtigsten Lehr-Punkte von Christo, und der allgemeinen Auferstehung glaubten. Denn wenn dem also wäre, so würden sie diese Wahrheiten unmöglich bei ihrem sündlichen Leben geruhig lassen können. Die Begierde selig zu werden, und die Furcht verdammt zu werden, würde bald alle Farbe und Schmünke ihrer Præjudiciorum [Vorurteile], welche oft Ursache ihres bösen Lebens sind, und womit sie ihre Sünden zu beschönigen suchen, abwaschen und hinweg nehmen. Doch ließ ich die Sache dazumal noch in suspenso [offen]; wie ich denn auch jetzt noch nicht das Herze habe, solches vor eine gewisse Wahrheit auszugeben.

Quelle:
Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. München 1973, S. 121-122.
Lizenz: