Zöllner und Sünder

Daß ich die Reise nach Pfullendorf nicht in der angenehmsten Stimmung antrat, brauche ich kaum zu sagen. Auf einigen Stationen, wo ich Freunde oder Bekannte hatte, machte ich halt; um mit diesen noch einige angenehme Stunden zu verbringen. Dies geschah namentlich in Lörrach, wo ich mit dem Korpsbruder Elsässer und mit Birkenmayer von den Freiburger Schwaben, den ich später im Reichstag wieder traf, kneipte, sowie in Waldshut bei unserem alten Herrn, dem Bürgermeister Straubhaar. In Konstanz traf ich noch meinen Freund Robert Reitzel, der nachmals in Nordamerika als Dichter und freireligiöser Redner bekannt geworden ist; da er sich in ähnlicher Lage befand wie ich, sprachen wir uns offen gegeneinander aus. Es war rührend, wie er sich bemühte, alle düsteren Gedanken für den Augenblick von mir zu verscheuchen. Und doch mußte ich gerade in diesem Augenblick erfahren, wie schnell man in der Wertschätzung der Menschen sinkt; wenn man Unglück hat. Ein Einjähriger, der mit mir Fuchs gewesen, hielt mich bereits für »verbummelt« und erteilte mir den nach seiner aristokratischen Anschauung wohlgemeinten Rat: »Werde doch Aktuar!« – Es schmerzte mich am meisten, daß man all mein Mißgeschick meinem »Leichtsinn« zuschrieb, während es doch ganz andere Ursachen hatte.

An einem schönen Wintermorgen fuhr ich über den Bodensee, den ich zum ersten Male sah. Die Alpenhäupter schauten ernst auf mich herab. Ich klammerte mich mit meinen Gedanken an Scheffel und seinen »Ekkehard«, an Annette von Droste-Hülshoff, an die ich erinnert wurde, als ich Meersburg vor mir auftauchen sah, sogar an Johannes Huß und die Hussiten – Reitzel hatte mir den Hussenstein gezeigt – und an Friedrich Hecker, der hier seinen romantischen Putsch begonnen. Aber alle diese Gestalten konnten das Gespenst nicht beschwören, das nunmehr drohte – das Pfullendorfer Forsthaus mit dem Büffel von Stiefvater und der lieblosen Mutter, der verhaßte Ort; an dem ich vor fünf Jahren so lange in Hast gewesen. In Meersburg fand ich lustige Gesellschaft bei einer Metzelsuppe und stärkte mich für so ziemlich meine letzte Barschaft durch ein paar vortreffliche Bratwürste und einen Schoppen guten roten Meersburgers. Dann marschierte ich rüstig darauf los und stieg den Heiligenberg empor, wo ich am Nachmittag ankam. Im dortigen Fürstenbergschen Schlosse wohnten Bekannte, die ich aufsuchte. Es war Dr. Schenk, ein Arzt aus Wertheim, der meinen Vater gekannt hatte; seine Frau war eine Tochter meines Taufpaten, des Rechnungsrats Wachs. Sie empfingen mich sehr liebenswürdig. Gegen abend fuhr ich mit dem Postwagen nach Pfullendorf ab und stieg auf der letzten Station[55] vor der Stadt aus. Ich hatte nämlich meiner Mutter meine bevorstehende Ankunft gemeldet und sie hatte mich himmelhoch gebeten, bei meiner Ankunft nicht ins Forsthaus zu gehen, um zunächst eine Katastrophe zu vermeiden. Ich sollte vor der Stadt absteigen und »zur Großmutter« gehen, das heißt zu der Mutter meines Stiefvaters.

Die Nacht sank herab und ich wanderte zwischen kahlen Bäumen auf einsamer, schneebedeckter Landstraße dahin. Eine weite, öde Hochebene, so trostlos, wie es in meinem Innern aussah. Denn ich hatte bemerkt; daß die Wertheimer auf dem Heiligenberg bei aller Freundlichkeit doch auch zurückhaltend gewesen waren. So verlassen hatte ich mich noch nie gefühlt. Alle möglichen Projekte schossen mir durch den Kopf, um auch sämtlich verworfen zu werden. Eine Zeitlang lehnte ich mein Haupt an einen Baum und konnte die Tränen kaum zurückhalten. Jetzt aber tauchten die Lichter der ehemaligen Reichsstadt Pfullendorf auf, ich biß die Zähne zusammen und marschierte hochaufgerichtet an dem Wallfahrtsort Maria-Schrei vorüber in die düsteren, kaum beleuchteten Straßen. In diesem Neste hat der Wittelsbacher Otto I., Herzog von Bayern, sterben müssen, derselbe, der an der Veroneser Klause durch seine Kühnheit den Kaiser Friedrich Barbarossa und sein Heer gerettet hat, dachte ich. Mit Mühe fand ich die Wohnung der »anderen« Großmutter, ein mächtiges altes Gebäude und ehemaliges Kloster.

Dort wurde ich erwartet. Meine Mutter war da und warf sich in Tränen zerfließend an meinen Hals. Sie beschwor mich, ein Zusammentreffen mit dem Stiefvater vorläufig zu vermeiden und mich hier verborgen zu halten. Man werde ja dann sehen, was zu machen sei.

Dies ging einem Korpsstudenten, der auf Schläger, Säbel und Pistolen Satisfaktion zu geben jederzeit bereit sein mußte, natürlich sehr gegen den Strich. Ich lehnte trotzig ab. Aber meine Mutter wußte so sehr Verzweiflung zu spielen, daß ich schließlich nachgab mit dem Vorbehalt, aus der klösterlichen Einsamkeit jederzeit heraustreten zu können. Die Verzweiflung war übrigens zu einem guten Teil echt, denn meine Mutter hatte alle Ursache, eine Auseinandersetzung über mein Vermögen zu fürchten.

Indessen befand ich mich in diesem Kloster vorläufig ganz wohl. Die Großmutter war mir merkwürdigerweise beinahe eben so wohl gesinnt, wie ihr Sohn mich haßte. Sie dachte, anständig genug, einigermaßen wieder gut zu machen, was ihr Sohn an mir gesündigt. Außerdem war sie eine sehr interessante Frau und im weiteren Sinne ein Kind der französischen Revolution, denn sie hatte, aus Enzberg im Württembergischen stammend, einen großen Teil ihrer Jugend im Elsaß zur Zeit des ersten napoleonischen Kaiserreichs zugebracht. Sie hatte den Imperator mehrmals gesehen und schwärmte für ihn. 1814 hatte sie die Belagerung von Straßburg mitgemacht. Sie war noch ganz Empire-Dame und besaß prachtvolle Gewänder aus der napoleonischen Zeit; auch hatte sie das freie Wesen der Damen von damals und liebte sehr die recht pikanten Anekdoten und Witze. Sie mußte blendend schön gewesen sein, wie sich aus ihren Jugendbildnissen[56] ergab. Ihr Mann, Oberhofgerichtsrat in Mannheim, behauptete, eine Zeitlang Sekretär Schillers gewesen zu sein, weshalb wohl er und einer seiner Söhne sich veranlaßt sahen, schlechte Verse zu machen. Herwegh hat sich in seinen »Über zwanzig Bogen« die Mühe gemacht, diese Verse kritisch zu vernichten. Die Großmutter sang manchmal: »partant pour la Syrie« oder: »vive Henry quatre, vive ce roi vaillant« leise vor sich hin. In den Zimmern hingen mehrfach Bilder des »Joppenfürsten« Ernst von Gotha; sie behauptete; daß ihr Sohn dem Herzog sehr ähnlich sei.1

Ich wurde hier vorzüglich bewirtet und in jeder Weise verhätschelt. Die Unterhaltungen mit der alten Frau waren sehr interessant; auch hatte sie eine gute Bibliothek. Indessen kam ich mir doch wie ein Vogel im Käfig vor und stundenlang blickte ich hinaus auf die weite Hochebene. Das waren die Blachfelder, auf denen Erzherzog Karl, Kray, Moreau und Jourdan ihre Heerscharen zu blutigen Schlachten geführt hatten. Wie gerne hätte ich mich draußen umhergetummelt! Aber die Tränen der Mutter! Ich mußte ja diese Tränen für echt halten.

Tag für Tag berieten wir über meine Zukunft. Die Großmutter war großmütig; sie setzte mir eine ansehnliche Summe pro Monat aus, aber mit der Bedingung, daß ich irgendeine »Stelle« annehmen müsse. Ein befreundeter Notar, der ins Geheimnis gezogen wurde, erbot sich, mir eine »Stelle« als Volontär beim Hauptzollamt in Überlingen am Bodensee auszumachen.

Zollamtsschreiber! Das gab mir einen Stoß! Aber schließlich ging ich doch darauf ein, denn ich betrachtete die ganze Affäre als einen Umweg, der auf die Universität zurückführte. Meine liebenswürdige Mama verabreichte mir viele Küsse für den Entschluß. Bevor ich nach Überlingen, mit reichlich gespicktem Geldbeutel, abging, sprach ich im Forsthause vor. Der Stiefvater wußte von dem neuen Arrangement nichts und kümmerte sich auch nichts darum. Er wollte mir Vorwürfe machen wegen der geringen Beträge, die ich in Freiburg schuldig geblieben; als ich dann hervorhob, daß ich mein Geld nicht bekommen, wußte er weiter nichts zu sagen.

Mein Entschluß, die Zollamtsschreiberei nur als eine Episode anzusehen, stand schon von vornherein fest, und da ich Mittel besaß, beschloß ich weiter, diese Episode möglichst vergnüglich zu gestalten, da sie voraussichtlich nur von sehr kurzer Dauer sein konnte. In diesen Entschlüssen wurde ich sehr bestärkt durch einen Leidensgefährten, den ich unterwegs traf. Dieser war bei den Freiburger Schwaben aktiv gewesen und durch mißliche Umstände in die Zollamtsschreiber-Karriere hineingeraten. Er wies mir nach, daß »wir« es in diesem erhabenen Berufe im günstigsten Falle zum »besseren« Schreiber mit 600 Gulden Gehalt bringen könnten.

In Überlingen mietete ich mich in dem Hause eines reichsstädtischen Adeligen mit verblichener Herrlichkeit ein, dessen Frau ein Putzwarengeschäft betrieb, während er selbst mit seinen Saugnäpfen an einer der verschiedenen reichen Stiftungen hing. Es war das Haus, das dem[57] Überlinger Bürgermeister Kessenring gehört hatte. Dieser hat sich im Bauernkriege von 1525 bei der Niederwerfung dieses Aufstandes durch Brutalität und Blutdurst hervorgetan. Immerhin regte er mich nunmehr zum Studium der Reformationszeit und des Bauernkrieges an. Das altertümliche Städtchen Überlingen, dicht am See gelegen, mit seinen stattlichen alten Gebäuden und mit den Resten seiner ehemals so gewaltigen Befestigungen, welche seinerzeit den Stürmen der Schweden getrotzt, zog mich sehr an. Wie gerne wandelte ich träumend in den tief in die Felsen geschnittenen ehemaligen Festungsgräben! Und unweit der Stadt befanden sich die berühmten Heidenhöhlen, die Scheffel im »Ekkehard« so anschaulich beschrieben hat. Auch verschiedenen Sagen kam ich auf die Spur; so sollte in dem Berge, an dem die Stadt emporsteigt; sich eine Höhle mit einem uralten Muttergottesbild befinden, und dort sollten noch alle die Schmuckstücke und Kostbarkeiten aufbewahrt sein, welche die Überlinger Frauen geopfert, um den Beistand der Mutter Gottes gegen die Schweden zu erreichen. Man zeigte mir sogar einen verschütteten Eingang, der zu dem Gewölbe führen sollte. Natürlich war der Schatz von einem Drachen bewacht.

In all meine poetischen Träumereien griff nun das Zollamtsbureau ernüchternd und niederschlagend hinein. Der Zollinspektor – ein ehemaliger Grenzaufseher, der sich gerne »Oberinspektor« nennen hörte – nahm mich leidlich auf. Mir kam dieser Mensch, der sich viel auf seine Stellung zugute tat und von den Überlingern »Sabel-Andres« genannt wurde, weil er gerne mit dem Sarras rasselte, sehr komisch vor. Die meisten »besseren« und »minderen« Schreiber kamen mir, mit wenigen Ausnahmen, gleich feindselig entge gen. Die Streberei, die ich hier sah, kam mir unsäglich widerlich vor.

Zunächst bekam ich die Aufgabe, Tabellen über die Gehälter der Zollwächter und Grenzaufseher anzufertigen. Da saß ich nun von vormittags acht bis zwölf und nachmittags von zwei bis sieben Uhr und schaute hinaus auf den blauen See, der von Schiffen und Nachen durchfurcht und von grünen Höhen umrahmt war, deren Hintergrund der Säntis und andere Alpenriesen bildeten. Aus den nahen Weinschenken hörte man zur Zeit des Früh- und des Dämmerschoppens die Lieder fröhlicher Menschen; namentlich blieb damals das Lied bei mir haften:


»Von der Alpe tönt das Horn

Gar so zaubrisch wunderbar,

's ist doch eine eigne Welt,

Nah dem Himmel schon fürwahr!

Andre Blumen, andre Wolken,

Wie in einem Zauberreich!

Nur mein Lieben, nur mein Leiden

Bleibt sich ewig, ewig gleich!«


Denn der Deutsche singt, wenn er fröhlich kneipt, gerne melancholische Lieder.[58]

Aus dem Walde über dem See ragt die alte Burg eines Minnesängers, an der ich oft in tiefem Sinnen meinen Blick haften ließ. Da kam es denn öfter vor, daß der »Sabel-Andres« plötzlich neben mir stand und mit vorwurfsvoller Stimme fragte: »Nun, wie weit sind Sie?« – Ach, diese Grenzaufseher und Zollwächter mit ihren Gehältern! Ich sah wohl, daß mein Verhalten nicht geeignet war, mir das Wohlwollen meines »Oberinspektors« zu erwerben, aber ich machte mir nichts daraus.

Ganz plötzlich erschien mein Freund Karl Holtz aus Freiburg in Überlingen. Dieser, der viel auf der Rhenanenkneipe verkehrte, war der Sohn eines badischen Offiziers und hatte mit dem Sohn meines Hauswirts in der österreichischen Armee gedient. Beide waren als Leutnants bei Königgrätz von den Preußen gefangen genommen worden und hatten den Abschied erhalten. Als Holtz von mir vernahm, daß sein Waffengefährte daheim sei, kam er herüber. Da ging es toll her; wir exekutierten am hellen Tage einen Salamander auf dem Pflaster des Marktplatzes. Holtz verwundete verschiedene Mädchenherzen in Überlingen schwer, ich aber schwänzte die ganze Zollamtsschreiberei acht Tage lang.

Als Holtz wieder fort war, hatte ich den mir heute unbegreiflichen Mut; mich im Bureau wieder einzufinden, als ob nichts geschehen wäre. Dem »Sabel-Andres« imponierte das so, daß er mich nur fragte: »Sind Sie wieder von den Toten auferstanden?« was ich einfach bejahte. Die »Kollegen« sahen mich von da ab nur noch scheu von der Seite an. Die Großmutter aber schrieb mir, als sie von der Sache hörte: »Es ist ein Unterschied zwischen leichtem Sinn und Leichtsinn!« Da sie Spaß vertragen konnte, so fragte ich sie bei unserem nächsten Zusammensein, ob sie das in der Empire-Zeit auch so genau genommen habe, worauf sie mir lachend mit dem Finger drohte.

Mit der Zöllner-Karriere aber ging es nun rasch zu Ende. Ich hielt noch einige Wochen aus und verließ dann das Bureau unter dem Gebrumm des »Sabel-Andres.«

Am liebsten wäre ich nun wieder nach Freiburg gegangen, aber die Autorisation meiner Großmutter dazu, respektive die Zusicherung eines entsprechenden Wechsels konnte ich nicht erlangen. Ich kam öfter nach Pfullendorf, um mit ihr zu beraten, wobei ich den fünf Stunden langen Weg stets zu Fuß zurücklegte, und verließ das alte Kloster nie ohne gespickten Geldbeutel. Aber zu einem bestimmten Entschluß kam die Großmutter aus Furcht vor ihrem Sohne nicht und so gab es sich von selbst, daß ich eine Zeitlang in Überlingen »privatisierte«.

Ich leugne nicht, daß es ein ausgelassenes wildes Leben war, welches ich damals führte. Man sprach in Überlingen noch längere Zeit von mir. Da fanden sich allerlei Zechkumpane und es ging manchmal etwas wüst her.

In Überlingen gab es damals verschiedene Originale, eine Menschenart, die in unserer nivellierenden Zeit auszusterben droht. Da war der alte Stadtrechner mit einer ungeheuren knallroten Nase, die »Junge« hatte. Ich suchte ihn oft auf in seinem mittelalterlichen Stübchen auf dem[59] »Pfennigturm« und er ließ dann stets ein Krüglein Seewein holen. Er war unerschöpflich an Anekdoten und Schnurren. Manchmal holte er auch die rote Fahne herbei, welche die Überlinger bei der berühmten Belagerung von den Schweden erbeutet hatten. Sie hatte viele Kugellöcher und eines wurde bei einer lustigen Kneiperei so vergrößert, daß ein Besucher nachher boshaft fragte, ob denn da eine Kanonenkugel hindurch gegangen sei.

Ein Überlinger Honoratiorensohn hatte den nordamerikanischen Bürgerkrieg mitgemacht und »privatisierte« nun auch in seiner Vaterstadt. Wenn dieser Biedermann »angeraucht« war, erfaßte ihn die damals sehr verbreitete Mirza Schaffy-Begeisterung und er deklamierte:


»Laß alle frommen Toren

In Nüchternheit versinken;

Kein Tropfen geht verloren

Von dem, was Weise trinken!«


Darauf antwortete ich:


»Becherrand und Lippen

Sind Korallenklippen,

Wo auch die gescheitern

Schiffer gerne scheitern!«


Darauf wieder er:


»Sie meinen ob meiner Trunkenheit

Und gänzlichen Versunkenheit,

Ich fände kein Erbarmen ...

O, ewig möcht' ich betrunken sein

Und ewig möcht' ich versunken sein

In ihren weißen Armen!«


Die zuhörenden Philister hielten uns für verrückt. Mein »trinkbarer« Freund versank zwar in den Armen einer hübschen jungen Frau, ward aber dadurch nicht solider.

Ich machte viele Ausflüge, namentlich nach dem Kloster Salem, dessen durstige Mönche Ignaz Hub so schön besungen hat, nach Meersburg an die Gräber von Annette von Droste-Hülshoff und von Mesmer und an den Untersee, als dieser zugefroren war, so daß man eine herrliche Schlittschuhbahn hatte.

Daß die hübschen Überlinger Mädchen mich nicht gleichgültig ließen, versteht sich von selbst. Bald spann sich mit einer der hübschesten eine Tändelei an, aus der Ernst wurde. Sie war ein hochgewachsenes, schlankes, blondes Mädchen, von vortrefflichem Charakter und guten Anlagen. Ihr Vater war ein kleiner Bodenseeschiffer gewesen, der in einem Sturm mit seinem Schiff untergegangen war. Sie war, davon abgesehen, daß ihre Mutter ein kleines Häuschen besaß, ganz arm. Nach meinen Erlebnissen konnte mich dies nicht stören. Wir verlobten uns.[60]

Das gab ein Aufsehen in Überlingen und die Klatschmäuler hatten vollauf Beschäftigung. Jetzt aber rührte sich der »Sabel-Andres«, der sich ein Aufsichtsrecht über mein »Betragen« zuschrieb und meldete meinen Eltern, daß ich nun auch noch ein »Verhältnis« mit einer habe, »die gar nichts hat«. Daraufhin kam meine Mutter schnaubend nach Überlingen gefahren, um sich über »die Person« zu erkundigen. Ich war gerade abwesend. Sie konnte über »die Person« nichts Nachteiliges erfahren, aber daß sie »nichts hatte«, genügte schon. Als ich die niedrige Denunziation des »Sabel-Andres« erfuhr, schrieb ich ihm einen sackgroben Brief, der ihn ganz aus dem Häuschen brachte. Er wollte eine »Ehrenerklärung«, denn ich hatte mich ziemlich nahe an Götz von Berlichingen gehalten. So erschienen denn eines Morgens früh, als ich noch im Bette lag, ein Zollamtsassistent und zwei bis an die Zähne bewaffnete Grenzaufseher bei mir, um mir eine »Ehrenerklärung« zur Unterschrift vorzulegen. Ich fragte die Herren, ob sie nach zu verzollenden Waren suchten. Sie verneinten verlegen. Ich hieß sie nun, wenn sie mit mir verhandeln wollten, die Waffen hinaustun; andernfalls könnten sie sich zum Teufel scheren. Wenn nicht, würde ich sie wegen Hausfriedensbruchs belangen. Sie wurden sehr kleinlaut, als sie sahen, daß ich mir von der bewaffneten Macht des »Sabel-Andres« nicht imponieren ließ. Die Angelegenheit wurde später friedlich beigelegt. –

Aber diese Episode sollte meinem Leben eine neue Richtung eröffnen. Ich las sehr viel, trieb Geschichte, Literatur und Staatswissenschaften und versuchte mich in politischen Aufsätzen. Aber zunächst ohne Erfolg. Ein Artikel über die Erschießung von Viktor Noir und über Rochefort – die Noir-Affäre hielt damals die ganze Welt in Spannung – wurde mir als »zu republikanisch« zurückgeschickt. Eine Freundschaft, die ich um diese Zeit gewann, brachte mich in Berührung mit der politischen Welt.

Der Rechtsanwalt Adolf Szuhany aus Mannheim hatte 1849 die Revolution mitgemacht und war als Rechtspraktikant von der revolutionären Regierung zum Untersuchungsrichter in Rastatt gemacht worden. Als solcher hatte er den jungen Wilhelm Liebknecht zu verhören, als dieser wegen eines angeblichen Attentats auf Brentano, den unheilstiftenden Chef der revolutionären Regierung, verhaftet und nach Rastatt gebracht worden war. Szuhany hat mir das Verhör sehr ergötzlich geschildert und es machte später Liebknecht viel Spaß, als ich ihm davon erzählte. Nach dem Falle der Festung Rastatt wurde Szuhany zu längerer Gefängnisstrafe verurteilt. Er blieb seinen radikal-demokratischen Anschauungen treu und ging, von Reaktionären und flauen Liberalen gemieden, in trotziger Einsamkeit seinen Weg, da er in Überlingen fast gar keine Gesinnungsgenossen hatte. Er war äußerlich finster, aber, wenn angeregt, von sonniger Heiterkeit und funkelndem Witz. Er hatte die große Niederlage des Bürgertums und deren schlimme Folgen gesehen. Darum sagte er bei jeder Gelegenheit: »Charakter gibts nur noch im Arbeiterstand.« Er machte mich mit seinen demokratischen Anschauungen bekannt, die ich[61] begierig in mich aufnahm. Mir ging mit einem Male eine ganz neue Welt auf. So sehr mich das an mir verübte Unrecht erbittert hatte, so wenig hatte ich über dessen eigentlichen Ursprung nachgedacht. Ich hatte es auf mich genommen als etwas Unvermeidliches, als eine Fügung des Schicksals, gegen die nun einmal nicht anzukommen sei. Das war die Wirkung meiner Erziehung. Die demokratische Weltanschauung ließ mich erkennen, daß solches Unrecht nur möglich ist durch unsere mangelhaften öffentlichen Einrichtungen. Revolutionäre Empfindungen lebten mit einem Mal glühend in mir auf. Die Zauberworte »Freiheit« und »Recht« wirkten auf mich ein und ich legte mir diese unbestimmten Begriffe nach meinen Gefühlen aus. Mit einem Mal erschlossen sich mir ganz neue Ausblicke und ich fand meine Lebensaufgabe darin, mich dem großen Kampfe gegen das alte, ererbte Unrecht zu widmen. Die anerzogenen Vorurteile und den eingetrichterten Respekt vor allem Bestehenden warf ich wie alte, unbrauchbar gewordene Wäsche weg.

Szuhany gab mir vortreffliche Ratschläge behufs meiner weiteren politischen Ausbildung. Dann riet er mir, mich nicht länger auf die Großmutter zu verlassen. Der Stiefvater müsse doch bald dahinter kommen, woher ich meine Subsistenzmittel beziehe. Dann werde die Großmutter, auch wenn sie mir noch so zugetan sei, die Hand von mir abziehen müssen. Denn von einem so bösartigen Menschen, wie mein Stiefvater, sei zu befürchten, daß er versuchen werde, die alte Frau wegen Verschwendung unter Kuratel stellen zu lassen. So weit dürfe ich es schon aus Dankbarkeit nicht kommen lassen. Zum Beamten, meinte er, tauge ich ja doch nicht. »Aber ich weiß, wozu Sie taugen«, setzte er mit Wärme hinzu. »Werden Sie Journalist

Das schlug ein!

Szuhany empfahl mich der Leitung der demokratischen Partei in Konstanz und nach wenigen Wochen ward ich als »Unterredakteur« an das demokratische Blatt, den »Konstanzer Volksfreund« berufen. Dort sollte ich also eine journalistische Lehrzeit durchmachen.

Mit jauchzender Freude stürmte ich in die neue Bahn hinein.[62]

Fußnoten

1 Keine Anspielung.


Quelle:
Blos, Wilhelm: Denkwürdigkeiten eines Sozialdemokraten. 2 Bde, 1. Band. München 1914, S. 63.
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