[65] Wenn die Sonne sinkt, und es ist so gegen sechse rum, und man ist zu Haus, so deutet das[65] auf moralisches Irresein. Zum mindesten auf starke Befangenheit in punkto Hausdrachen! Der richtige Deutsche gehört um diese Zeit auf den bereits von Noah zum Patent angemeldeten, von Sem, Ham, Japhet, den Erzvätern und sämtlichen Propheten weitergebildeten und streng innegehaltenen Dämmerschoppen ins Estaminet, zu deutsch »Kneipe«.
Manche haben das dumpfe, aber sehr anerkennenswerte Gefühl, daß einem Irrtum nie früh genug vorgebeugt werden könne und gehen schon um halb sechs, oder besser noch um fünf hin. Man kann nie wissen, wann frisch angestochen wird. Und wenn man bedenkt, wie lange man dem Dämmerschoppen aus strategischen Gründen hat fernbleiben müssen, dann können einem ja die Haare zu Berge stehn! Das (Feld-) Graun muß einen schütteln, bis man wieder dort ist, um das Versäumte nachzuholen. Auf nach Valencia! Marschrichtungspunkt der Rote Ochse!
Hurra, da wären wir! Was schnüffelst du so, Karl, spürst du linde Lüfte wehen? Ausgefransten Kneipenozon, Marke Hecht? »Ha, Gasmaske –« schreist du? – – Friedrich, bringen Sie dem Manne einen Topf Salvator, aber im Schweinsgalopp, bitte – sind Sie noch nicht wieder da – – –?? Der Herr hat Visionen, flandrische Neurose! Na, nun den ersten Stehschluck für Kaiser und Hindenburg – wird dir jetzt wieder wöhler? Gott sei Dank, du schaust wieder[66] klärchen! – – Und nun ran an die Rampe, wollte sagen Stammtisch!
Da sitzen sie, die Heimkrieger – der dicke Meyer, der lange Klövermann, der fidele Inspektor, der Herr Lehrer und – siehe da, das Bierfaß, der Herr Ochsenwirt in eigenster Person! Hier siehst du noch eiserne Pflichterfüllung! – – Pst, jetzt hat einer was gemerkt – – – Erkennungsarie – – allgemeines freudiges Gesäßheben und –schwenken, Tusch – – – in den Armen liegt Ihr Euch alle neune! Schüttle ihnen die Vorderflossen, tritt sie auf die Hühneraugen – du bist wieder in Deutschland! (Das letztere wird gleich jemand feststellen durch die scharfsinnige Frage: »Na, sind Sie auch wieder im Lande?«)
Nun sitzest du unter ihnen! Dem allgemeinen Gedankengange folgend, wird der dicke Meyer alsbald Ausdruck verleihen durch die Anordnung: »Darauf müßten wir eigentlich 'n Schnaps trinken!« – Es ist statistisch nachzuweisen, daß dies prompt geschieht, worauf sich die Wogen der Empfangsfreude glätten und die vorschriftsmäßige Behaglichkeit wieder einstellt.
Sieh dir die Brüder an, Kamerad! Versäume nicht, den biedern Stolz zu bemerken, der sich um ihren Schnauzbart kräuselt. Du ahnst ja nichts, du sanftes Frontschwein, von den unerhörten Taten der Heimkrieger! – Wundern – Staunen – Glotzen – Junge, laß dir erzählen, schaurig werden dir die Haare starren, dein Bandwurm[67] wird Volten schlagen, du wirst klein und immer kleiner werden und mit Bewunderung und Zähneklappern deine eigene Nichtigkeit erkennen und Meyerns grausige Größe! Oder Klövermanns oder Müllers oder gar des Ochsenwirts! Das Vaterland ist ja gerettet – aber wo warst du während der Zeit, he? Hast du etwa nach Zigarren stehen müssen? Oder Dünnbier saufen und um zehn Uhr zu Hause sein? Komm, steck' dir 'ne Festrübe an, damit dir nicht schwindelt!
Du lieber Gott, Ihr habt da z.B. vor Verdun und Warschau ja auch mit Karten hantiert, aber da war das 'n Dreierwitz, 'n Kinderjokus – da wurde sich ganz einfach nach dem ein für allemal dazu bestellten Polarstern orientiert, und das Fort war gewonnen – hier dagegen, mein Lieber, hier hieß es jeden Tag: »Neuorientierung!« Und dazu Karten von einer Menge und Fruchtbarkeit, die zehn strebsame Karnickel beschämen konnte, und in Farben, die das gerissenste Chamäleon in den Schlagschatten stellten!
Wenn bei Euch draußen mal die Sache mulmig wurde, da setztet Ihr eben alles auf eine Karte; wenn einem aber hier im Lande bzw. im Magen flau wurde, dann mußte man auf 'ne ganze Hetze Karten setzen, von der Brot- über die Butter- bis zur Käsekarte! Wer fror, der steckte sich 'ne Kohlenkarte in die dazu passenden Holzschuhe und meldete sich auf der Kommandantur zum Schneeschippen!Was willst du dagegen sagen von Verdun und Flandern? Trommelfeuer – Gasangriff – Fliegerbomben? Hat ja jeden Tag im Wurstblatt gestanden, – das Allerwichtigste ist jetzt, daß seit drei Tagen die Polizeistunde bis Mitternacht verlängert ist, und daß es endlich wieder ein anständiges Gesöff gibt. Das Salvator ist à la boncör – prost, die Herren!
Prost, Karl, ist das Gegenteil von Flöhetöten. Wenn Ihr draußen mal nach einer Hetzjagd im bloßen Hemde geknackt habt, war der Floh erledigt; wenn hier einer knackt, wird er über die Achsel angesehen (was beim Floh nicht viel nützen würde!). Der Knacker ist ein Tränentier, das gar nicht hierher gehört. (Das Knacken im bloßen Hemde würde hier vermutlich auffallen.) – Aus diesem Abgrunde sagt man lieber »Prost!«, was soviel heißt wie »Meyer, du Schafskopp, wir woll'n mal einen heben!«
Es ist wegen der Kontrolle, wieviel Durst man zur zeit hat (der Stammtisch ist also so 'ne Art bessere Kontrollversammlung); in vorgerückter Stunde entzieht sich der Durst manchmal der Kontrolle, ist aber trotzdem vorhanden (was bei einer militärischen Kontrollversammlung erst mal einer nachmachen soll!)4. Also auch der Stammtisch[71] ist eine Ausgeburt des Militarismus, was ich unsern Feinden und lieben Neutralen hiermit feierlichst verrate!
»Meyer, Prost!« Siehst du, wie er den Biertopf an das Scheunentor reißt? Auf das Wort hatte er schon lange gewartet – alle vom Stammtisch warten drauf. Das haben schon die alten Germanen vor 2000 Jahren so gehalten, und, Gott sei Dank, wir sind konservativ!
Du möchtest gerne 'nen Tambour picken, hast aber dein Schanzzeug vergessen, sagst du? Heldensohn, zu dieser Übung kriegst du das Schanzgerät oder, wie der Heimkrieger es nennt, Messer und Gabel, vom Stubenältesten, wollte sagen vom Wirt, geliefert, mußt sie aber nach Schluß des Gefechts wieder abliefern. (Im Gegensatz zur Garderobe, die man erst abliefert und dann wiederkriegt. Dies ist etwas Elektro-Magnetisches, weil die Gegensätze sich anziehen, die Garderobe sich aber an- und abziehen läßt. Der Kürschner nennt den Pelzkragen daher Elektro-Kamin oder elektrisches Kaninchen, was bei dem ungemein entwickelten Familiensinn dieser Tiere nicht wundernimmt und manches erklärt.) »Pst, Ober, zwei Rollmöpse für den Herrn!« –
Und nun trink' mal dem Inspektor zu, der will dir den neuesten Kalauer versetzen. Kalau ist eine polizeiwidrige Stadt, die in Deutschland von Rechts wegen gar nicht geduldet werden[72] dürfte. Sie ist aber vom lieben Gott extra für die Stammtische geschaffen, »wenn sich Mund um Nase laben, will das Zwerchfell auch was haben«. Es gibt Menschen, die davon Sodbrennen und Pflastersteine – pardon, Blasensteine kriegen (und mit Pflastersteinen schmeißen!); ein anderer Ausdruck dafür ist »Gemütlichkeit«. Alsdann wird an Hindenburg eine Ansichtskarte losgelassen – – –
Hindenburg ist überhaupt nächst dem Ochsenwirt hier die wichtigste Person, was ihn mächtig kitzeln würde, wenn er's wüßte. Sie hätten aber doch damals lieber mehr auf den Ochsenwirt hören sollen, dann wäre Amerika – und Japan – und Liberia – – nun, wir wollen ja nichts weiter gesagt haben, aber der Meyer meint – –
Wie du allmählich bemerken wirst, wachsen am Stammtisch die geborenen Reichskanzler, Heerführer, Diplomaten und Minister wild, aber leider erfolglos. Außerdem kannst du hier Förster lernen, was du an den krummgelogenen Balken an der Decke siehst. Wenn du hier Seegeltung erlangen willst, dann mußt du ihnen Sachen erzählen, daß die Bruder Blut schwitzen, daß ihnen der Angstschweiß zu Berge steht und der Ochsenwirt Schwielen an den Horchlöffeln kriegt – – – »Das ist noch gar nischt, wir haben zu Hause ein Schwein, das priemt!« – – oder »ich hab 'nen Onkel in Amerika, der hat 'nen Blinddarm, der kann sehen – – –« und[73] in diesem oder einem ähnlichen Antönchen weiter. – – – –
Na, ich denke, du bist jetzt wieder im Bilde und kannst hier am Stammtisch das Weitere ohne Hilfsstellung erledigen, bis dir der eigens dazu verliehene Nabel flimmert. Darum beendige ich dieses Kapitel mit dem Ausruf: »Schnell noch einen kurzen Schnaps – noch einen, aber etwas besser eingeschenkt, und dann nach dem dritten
Schluß!«
4 | Wenn man weitersäuft, wird die Sache etwas konfus, man spricht dann von »unkontrollierbat«. Diese verwickelte Geschichte gehört zu den sogen. »Welträtseln«. (Vgl. Kap. 12.) |
Buchempfehlung
Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.
46 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.
430 Seiten, 19.80 Euro