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[284] Und wieder eine Weltausstellung! Im Mai 1873 wurde sie in Wien eröffnet und lockte von nah und fern zahlreiche Scharen in die grünen Auen des Praters. Meine geringe Sympathie für Weltausstellungen habe ich schon bei Gelegenheit der Londoner 1862 und der Pariser 1867 offen eingestanden. Eine zu schnelle Aufeinanderfolge derselben wird überdies jeder beklagen, der es mit dem industriellen Zweck solcher Unternehmungen ernstlich meint. Der für die Aussteller unvermeidliche enorme Aufwand von Geld, Zeit und Mühe erzeugt, zusammengenommen mit der Überreizung des Ehrgeizes, der Hast der Produktion, der Jagd nach Orden und Medaillen, einen fieberhaften Zustand, welcher, nur auf längere Zeiträume verteilt, erträglich oder gar heilsam wirken kann. Von andern versteckten oder verfälschten Motiven, welche derlei Ausstellungen als Ableiter politischer Krankheitsstoffe, als glänzendes Spektakelstück oder endlich als ganz gemeine Spekulation auf den Beutel der Fremden benützen, will ich ganz absehen. Vom national-ökonomischen und technologischen Standpunkt sind die Nachteile einer solchen von fünf zu fünf Jahren sich wiederholenden Hetze evident. Kaum hat der Industrielle sich von den Auslagen und Mühen einer Weltausstellung erholt und den geregelten Gang der Arbeit wiedergefunden, so klopft schon eine neue an seine Tür. Nun flattern alle Gedanken wieder dieser Lockspeise zu; man arbeitet nicht mehr um der Sache, sondern der Medaille willen. In den berechtigten Eifer, sich auszuzeichnen, träufelt sofort jener andere giftige Ehrgeiz, welcher mit der eigenen Geltung nicht zufrieden, vor allem den Nächsten unter sich herabgedrückt sehen will. Diese moralischen Mißklänge gehören mit zu den entstellendsten Dissonanzen der großen Industrie-Konzerte. Man kann leider in dem engen Rahmen eines Ausstellungspalastes mehr Neid und Gehässigkeit kennenlernen als sonst in weiten Entfernungen von Zeit und Raum.

Zum mindesten eine Pause von zehn Jahren müßte je zwei Weltausstellungen trennen, wenn wirklich entscheidende Fortschritte ans Licht treten und eine fruchtbare Vergleichung ermöglichen sollen. Bezüglich der Fabrikation von Musikinstrumenten haben wir, kleine Verbesserungen abgerechnet, 1873 in Wien eigentlich kaum etwas anderes gesehen als in London 1862. Epochemachende[285] Erfindungen, wie seinerzeit das double échappement von Erard, das doppelte Harfenpedal, der pneumatische Heber an den Orgeln, die Böhmische Reform der Holz-Blasinstrumente und Steinways kreuzsaitiges System hat die Wiener Ausstellung so wenig wie die letzte Pariser gebracht. Weit erheblicher als die Reformen im Instrumentenbau erschienen die Verbesserungen in der Fabrikationsweise – Methoden zweckmäßigerer, billigerer und ausgedehnterer Produktion; die, allerdings nicht erst seit fünf, sondern seit fünfzehn und zwanzig Jahren bemerkbar, sich immer mehr konsolidieren und ausbreiten: die Anwendung der Dampfmaschinen, die größtmögliche Teilung der Arbeit, die Entlohnung der Arbeiter nach der Stückzahl statt nach den Arbeitstagen u.a.

Von all' dem Schönen und Merkwürdigen, das in der Wiener Ausstellung und um dieselbe herum aufgestapelt lag, will ich nur eine Spezialität nennen, die als neu und lehrreich eigenartig hervorstach: den Pavillon »für Geschichte der Gewerbe und Erfindungen in Österreich«. Den ganzen Tag war diese »Additionelle Ausstellung« belagert von Besuchern, die im ersten Zimmer alle erdenklichen Kleider- und Hutmoden früherer Zeit, in einem zweiten die verschiedensten Möbel und Gerätschaften, in einem dritten eine Auswahl älterer musikalischer Instrumente betrachteten. Professor Wilhelm Exner (gegenwärtig Hofrat und Reichsratsabgeordneter) hatte sein reiches technologisches Wissen und seine außerordentliche Arbeitskraft vollständig dieser schwierigen Aufgabe gewidmet. Die Zusammenstellung des Musikzimmers war mir anvertraut, und ich genoß die Befriedigung, daß die zahllosen Briefe, welche ich dafür nach allen Richtungen der Monarchie ausgesandt, fast durchweg von Erfolg begleitet waren. Museen und Privatpersonen, vom Fürsten bis zum Landschullehrer herab, vertrauten uns wertvolle und seltene Instrumente für die ganze Dauer der Weltausstellung. Der Musikfreund fand hier durch Tonwerkzeuge aller Gattungen die Entwicklung des Instrumentenbaues in Österreich seit hundertzwanzig bis hundertdreißig Jahren versinnlicht. Er erblickte neben einem Spinett von Josef Haydn, die Klaviere Mozarts, Beethovens und Schuberts, dann Geigen und Blasinstrumente der ältesten österreichischen Instrumentenmacher usw. in systematischer Anordnung schön aufgestellt. Zum Präsidenten der musikalischen Jury wurde auf Antrag eines[286] italienischen Mitgliedes der Opernkomponist Petrella gewählt. Der gute Mann – von seinem gedachten Landsmann stets »Unser hehrwürdige Err Präsidente« genannt – konnte nicht Deutsch noch Französisch; ich glaube, er konnte auch nicht recht Italienisch. War das ein verlegenes Stottern und Fragen und peinliches Unvermögen, die Verhandlungen zu leiten! Es konnte so nicht weitergehen. Da hatte das Ministerium, dem unsere Klagen zu Ohren gekommen, die glückliche Idee, einen der Jury gar nicht angehörigen Kunstfreund, Herrn Nicolaus Dumba, als eine Art Neben- oder Ehrenpräsidenten kurzweg in unsere Versammlung zu deligieren. Nun ging alles ganz vortrefflich. Dumbas unvergleichliche Gabe, überall den Nagel auf den Kopf zu treffen, Wesentliches von Unwichtigem zu scheiden, seine im parlamentarischen Leben erworbene Geschicklichkeit, eine Debatte zu leiten und ihr Resultat klar und bündig zusammenzufassen, gedieh uns zu größtem Vorteil, um so mehr, als Dumbas persönliche Liebenswürdigkeit keine Opposition gegen seinen Vorsitz aufkommen ließ. Man freute sich schon an dem Anblick des schönen kräftigen Mannes, dessen große, kohlschwarze Augen und dunkle Gesichtsfarbe seine griechische Abkunft verraten.

Nicolaus Dumba nimmt als eine der hervorragendsten Persönlichkeiten Wiens eine so ganz eigenartige Stellung ein, daß ich in meiner langen Erfahrung mich keiner ähnlichen zu erinnern wüßte. Privatmann ohne Amt oder Titel, wird er doch überall zuerst gesucht und gefunden, wo man einer gewichtigen Stimme und erfahrenen Hand bedarf in politischen oder künstlerischen Unternehmungen. Er »sitzt« nicht bloß, er arbeitet in der Direktion der Gesellschaft der Musikfreunde, des Wiener Männergesangvereins, des Kunstvereins, des Gewerbemuseums – und wo nicht sonst! Handelt es sich um die Konkursausschreibung für ein Monument – Schiller, Grillparzer, Radetzky, Beethoven, Mozart –, überall ist Dumba die organisierende und stetig arbeitende Kraft. Das Schubert- Monument, der Zeit nach das erste Tonkünstlerdenkmal in Wien, verdanken wir der Initiative und größtenteils der Opferwilligkeit Dumbas, des begeisterten Schubertverehrers und Schubertsängers. Seine Künstlernatur hat ihn niemals zu unpraktischen Vorschlägen verleitet, überall repräsentiert er den gesunden Menschenverstand, das richtige Maß, den klaren Ausdruck. Er verschmäht Auszeichnungen, Titel und Würden, die ihm zur Auswahl stünden, und bleibt der bürgerliche[287] Nicolaus Dumba, mit dem einzigen Ehrgeiz, seinem Vaterlande aus allen Kräften nützlich zu sein. Woher der vielbeschäftigte Landtags- und Reichsratsabgeordnete, Fabrikbesitzer und Landwirt noch die Zeit nimmt zu allen jenen freiwillig übernommenen Arbeiten, das ist sein Geheimnis oder richtiger: sein Talent. Im herzlichen Verkehr mit Dumba fand ich stets aufrichtigen Genuß; besonders im Kreise seiner Familie, auf seiner Villa in Lietzen. Vor kurzem befiel ihn auf der Rückkehr aus Italien eine schwere Augenentzündung; der stets arbeitsfrohe Mann mußte mehrere Wochen, eine Binde um die Augen, in völlig verfinstertem Zimmer zubringen. Auch die beiden anstoßenden Zimmer waren ganz verdunkelt. Es kam mir wie eine Opernszene vor, als Dumbas schöne, gemütvolle Frau mich an der Hand durch die finsteren Räume zu meinem armen Freund führte. Wer hat nicht Männer gekannt, die voll mutiger Kampflust im öffentlichen Leben zusammenknicken, sobald sie daheim ein Mißgeschick trifft? Dumba gehört nicht dazu. »Wie kannst Du das nur aushalten?« rief ich erschreckt. Er antwortete gelassen, fast heiter: »Wozu hätte der Mensch sein bißchen Vernunft, wenn er solche Proben nicht bestehen, Unabänderliches nicht geduldig tragen sollte!«

Wie in London und Paris, so waren mir auch in Wien jene Weltausstellungsmomente die genußreichsten, welche mich abseits vom Jurorstische mit guten alten oder lieben neuen Freunden zusammenführten. Zu letzteren gehörte Dr. Julius Rodenberg, den die Weltausstellung nach Wien geführt hatte. Es war ein schöner Sommerabend, den ich mit ihm, seiner geistvollen Frau und Eduard Schön in dem Park »zur Neuen Welt« bei Schönbrunn verlebte. Wir kamen zu einer festlichen Produktion des »Wiener Männergesangvereins«. Eine der beliebtesten Nummern desselben war und ist heute noch der Chor »So weit!« Das gemütvolle Gedicht Rodenbergs mit der reizenden Melodie von Eduard Schön (Engelsberg) entzückte die aus allen Ländern zusammengeströmten Gäste, welche den Chor stürmisch zur Wiederholung verlangten, ohne zu ahnen, daß Dichter und Komponist stillvergnügt unter ihnen saßen. Die duftige, laue Sommernacht in dem von tausend Lichtern widerstrahlenden Park erhöhte das Poetische dieses Eindrucks; wir konnten so recht von Herzen uns freuen, vertraut und freundschaftlich einander mitteilen. Rodenberg hat in Erinnerung an diesen Abend Schön und[288] mir ein wertvolles Büchlein zugeeignet, worin er, aus Anlaß der Weltausstellung, eine Wanderung durch Wien schildert und eine Menge der interessantesten historischen Daten anführt, von denen viele eingeborene Wiener gewiß zum ersten Male Kenntnis erhielten.

Es gab damals kaum eine Produktion irgendeines Männergesangvereins ohne den Namen Engelsberg auf dem Programm. Und doch habe ich lange zu kämpfen gehabt gegen Schöns Bescheidenheit und bürokratische Bedenken, bevor er sich entschloß, etwas von seinen Kompositionen öffentlich aufführen und gar drucken zu lassen. Sobald aber einmal seine ersten Chöre durch den »Wiener Männergesangverein« und den aus Studenten gebildeten »Akademischen Gesangverein« bekannt geworden, konnte man gar nicht genug davon haben. Hatten ihn tagsüber die schwierigsten Arbeiten im Finanzministerium noch so intensiv beschäftigt, des Abends setzte er sich heiteren Mutes hin und komponierte Männerchöre, meist humoristischen Inhalts, zu welchen er sich selbst den Text gedichtet. So entstanden seine köstlichen »Ballszenen«, seine »Narrenquadrille«, sein »Landtag zu Wolkenkukuksheim«, »Doktor Heine« u.a. Selbst ein guter Sänger, schrieb er immer stimmgemäß, wirksam und klangschön. Sein poetischer Sinn und wählerischer Geschmack leiteten ihn auch auf neue Stoffe. So führt er uns in seinem Zyklus »Poeten auf der Alm« mitten in eine Gesellschaft junger Freunde, die auf einer Alpenpartie ihrer Begeisterung, je nach Sinn und Stimmung verschieden gefärbt, in Zitaten aus deutschen Lieblingsdichtern Luft machen. Ein größerer Zyklus, das »Italienische Liederspiel«, ist aus Paul Heyses trefflichen Nachdichtungen toskanischer Volkslieder so sinnreich zusammengestellt, daß wir etwas wie dramatischen Zusammenhang durchfühlen. Hier haben wir die innigste Verschmelzung von Engelsbergs poetischer Textauffassung mit seinem fast unerschöpflichen Melodienreiz. An Großes, Gewaltiges hat er sich nie gewagt; aber viele von zarter Empfindung getragene, ernstere Chöre stehen seinen humoristischen Schöpfungen nicht nach; auch der kleinsten Komposition Engelsbergs fühlt man es an, daß sein Talent durch eine feine allgemeine Bildung hindurchgegangen ist. Komisch berührte mich Schöns immer wache Besorgnis, seine Vorgesetzten im Ministerium könnten von seinen musikalischen Seitensprüngen Notiz nehmen oder die Journale den wahren Namen dieses »Engelsberg«[289] verraten. Aber Schön stand als Beamter in zu großer Wertschätzung, als daß sein Doppelgänger Engelsberg ihm hätte schaden können. Er war ein nur allzu eifriger, leidenschaftlich fleißiger Arbeiter, der sogar während der ihm vorgeschriebenen Kurzeit in Marienbad Stöße von Akten erledigte. Das hat ihn vor der Zeit ins Grab gebracht (1879).

Die Weltausstellung fand einen merkwürdigen Abschluß in einem Festkonzert, das – die chinesische Ausstellungskommission, aus Dankbarkeit gegen die Stadt Wien, veranstaltete. Eigentlich gaben die Chinesen bloß das Geld zu dem Konzerte; arrangiert ward es in fabelhafter Schnelligkeit von Herbeck. Es galt an diesem Abend mit Pomp aufzutischen, was österreichisch, gut und teuer ist. Nachdem Dessoff und Herbeck Schönstes von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert aufgeführt hatten, trat Strauß ans Pult und dirigierte Lanners »Romantiker«, – eine Walzerpartie voll Schwung und Adel, deren Franz Schubert sich nicht geschämt hätte – hierauf den majestätischen »Nobelgarden-Marsch« von Strauß Vater, endlich seinen eigenen »Donauwalzer«. Diese Stücke belebten das bereits etwas müde gewordene Publikum bis zu einem völligen Rausch des Entzückens. Nach dem Konzert setzte ich mich in einer nahen Restauration an einen Tisch mit Herbeck, Dumba und Johann Strauß. Man wird nicht leicht drei so schöne, geistvolle Künstlerköpfe nebeneinander sehen. Mit Strauß bin ich immer gerne zusammengetroffen; er gehört zu den liebenswürdigsten, aufgewecktesten und zugleich anspruchslosesten Persönlichkeiten Wiens. Die Triumphe, die ihn von Jugend auf umbraust haben, konnten seiner echten, gefühlten Bescheidenheit nichts anhaben. Diese unterscheidet sich gar sehr von der gewöhnlichen, bescheiden tuenden Ziererei, welche meistens nur die Maske lobgieriger Eitelkeit ist. Weit entfernt, alles, was er niedergeschrieben, für vortrefflich zu halten, pflegt Strauß auch das Beste anzuzweifeln und gern dem Urteil verschiedener Leute vorzulegen, von denen nur zu oft der Letztgekommene Recht behält. Die schöne Natürlichkeit und Offenheit des genialen Walzerkomponisten gewinnt alle Welt; mich hat sie stets gefangengenommen. Das Konzert, aus dem wir eben kamen, und der ungeheuere Erfolg der Tanzstücke brachte das Gespräch gleich auf den alten Strauß und Lanner. Wer waren von Haus aus diese beiden, welche den Wiener Walzer ganz eigentlich geschaffen haben? Zwei »Lehrbuben« aus der ärmeren Vorstadtbevölkerung[290] Wiens – der eine zum Buchbindergesellen, der andere zum Handschuhmacher bestimmt. Beide blieben ohne regelmäßigen Musikunterricht und trieben heimlich auf dem Dachboden ihre verpönten Violinübungen! Lanner hatte mit einem kleinen, anfangs nur fünf bis sechs Mann starken Orchester begonnen, das er als Vorgeiger in den bescheidenen Vorstadtbällen beim »Sperl« oder der »Goldenen Birn« dirigierte. Unser Strauß erzählte uns nun, wie sein Vater, kaum sechzehnjährig, als Bratschist bei Lanner eintrat. Mit dem wachsenden Erfolg Lanners vergrößerte sich auch sein Orchester; er mußte es, um der vermehrten Nachfrage zu genügen, teilen und Strauß die Leitung der einen Hälfte überlassen. Bei dieser Gelegenheit entdeckte Strauß zufällig sein Kompositionstalent. Ich lasse den Sohn erzählen: »Das Komponieren war offenbar damals eine leichtere Kunst als heutzutage. Zur Hervorbringung einer Polka studiert man jetzt die gesamte Musikliteratur durch. Früher gehörte zum Komponieren nur eines: ›Es mußte einem was einfallen‹, wie man sich populär auszudrücken pflegte. Und merkwürdigerweise ›fiel einem auch immer was ein‹. Das Selbstvertrauen in dieser Richtung war so groß, daß wir Alten häufig eine Walzerpartie für einen bestimmten Abend ankündigten, von welcher am Morgen desselben Tages noch keine Note vorhanden war. In einem solchen Falle erschien zumeist das Orchester in der Wohnung des Kompositeurs. Sobald dieser einen Teil fertiggestellt hatte, wurde er vom Personal für das Orchester hergerichtet, kopiert usw. Inzwischen wiederholte sich das Wunder des ›Einfallens‹ beim Kompositeur bezüglich der übrigen Teile; nach einigen Stunden war das Musikstück fertig, wurde durchprobiert und am Abend vor einem in der Regel enthusiastischen Publikum zur Aufführung gebracht. Lanner, der Leichtblütige, Leichtlebige – produzierte beinahe nie anders. Da widerfuhr es ihm, daß er eines Morgens sich sehr leidend und arbeitsunfähig fühlte, während für den Abend eine neue Walzerpartie angekündigt war, von der natürlich noch kein Takt existierte. Er schickte zu meinem Vater mit der einfachen Botschaft: ›Strauß, schauen's, daß Ihnen was einfallt.‹ – Am Abend gelangten die neuen Walzer – selbstverständlich als Komposition Lanners – zur Aufführung und fanden außerordentlichen Beifall. Dieser Umstand sowie seine in dasselbe Jahr fallende Verheiratung veranlaßten meinen Vater, sich selbständig zu machen. Er organisierte vorerst ein Quintett, aber[291] nach kaum einem Jahre zählte sein Orchester bereits vierzehn Mann.«

Wir baten Strauß, uns etwas von seiner eigenen Jugend zu erzählen. »Daran,« meinte er, »ist nicht viel Gutes. Der Vater war streng, oft hart; wir blieben aber nicht lange bei ihm. Ich und meine beiden jüngeren Brüder Josef und Eduard waren noch Knaben, als der Vater sich von unserer Mutter trennte, der wir nun überlassen blieben. Von einer sorgfältigen Erziehung konnte in so verstörtem Familienleben nicht die Rede sein. Zum Vater, der in einer anderen Vorstadt wohnte, kamen wir nur am Neujahrstag und an seinem Namenstag, um pflichtschuldigst zu gratulieren. Der Vater hat meine musikalische Karrière nicht gefördert, wie man annehmen könnte, sondern eigensinnig verhindert. Ich sollte der Musik fernbleiben und Techniker werden. Allein es ging mir genau so, wie früher ihm selbst, als er seinem Buchbindermeister entlief und Musiker wurde. Des Talentes, das ich vom Vater geerbt, fühlte ich mich sicher: so nahm ich denn mutig die Geige zur Hand und stellte mich an die Spitze eines kleinen Orchesters, mit dem ich im Oktober 1844 meine ersten Walzer ›beim Domeyer‹ in Hietzing produzierte. Die Sachen machten unerwartetes Furore, aber mein Vater hat nichts davon gehört, nichts hören wollen.« Ich fragte nach dem Titel jener ersten Walzerpartien; es waren die »Gunstwerber« und »Sinngedichte«. Wir drei, Dumba, Herbeck und ich, mußten bekennen, nie davon gehört zu haben und sogar die etwas späteren, überaus reizenden »Johanniskäferl« und »Liebesgedichte« nur aus dem Klavierauszug zu kennen. Es überkam mich eine ganz zornige Aufregung: »Warum spielt man diese schönen Sachen nicht mehr, sobald sie zwei oder drei Jahre alt geworden sind? Und müssen erst Chinesen ein Konzert geben, damit wir, wie heute, wieder einmal etwas von Lanner und Alt-Strauß zu hören bekommen? Man kann in jedem beliebigen Badeort des Deutschen Reichs in einem Sommer mehr Strauß und Lanner hören als hier in zehn Jahren. Einmal im Jahr wird allerdings ein ›Strauß- und Lannerabend‹ in irgendeinem Garten veranstaltet, wo man dann vor Gedränge sein Leben riskiert. Aber diese laute Stimme der Bevölkerung bleibt unbeachtet. Es bleibt bei dem einen Abend, an dem die Veranstalter sich mit der unbequemen Pflicht der Pietät abfinden, ungefähr wie die Friedhofbesucher am Allerseelentag. Es sollten aber in jedem Programm eines Wiener Garten-Konzerts Alt-Strauß und[292] Lanner wenigstens eine Nummer haben. In ihrer Art klassisch, haben diese Tanzmusiken den Anspruch auf einen bleibenden Platz in unsern Garten- und Ballorchestern, sowie die Symphonien von Haydn, Mozart und Beethoven in unseren Philharmonie-Konzerten. Seit vierzig Jahren sind ihre Walzer in Wien wie vertilgt und verwunschen. Das gilt auch, lieber Strauß, von den köstlichen Walzern aus Ihrer ersten Periode, die bei uns so verschollen sind, als stammten sie aus der Zeit Friedrichs des Großen. Es ist eine Schande!« Herbeck und Dumba gaben meiner etwas erregten Anklage Recht. Strauß machte zur Entschuldigung der Orchesterdirigenten nur geltend, daß die Musikverleger auf die Aufführung der so massenhaft produzierten Novitäten dringen, und die Komponisten erst recht. Mit dem Axiom »das Publikum will nur Neues«, glaubt man das bessere Alte totschlagen zu dürfen. In dieser Behauptung ist jedenfalls das »nur« falsch. Ich muß in meiner Erzählung um zwölf Jahre vorgreifen, um den schlagendsten Beweis dafür zu erbringen: das kleine Ballett »Wiener Walzer«. Dieses harmlose Divertissement, das in Wien bereits an dreihundertmal gegeben worden ist und seinen Siegeslauf durch halb Europa noch immer fortsetzt – wem verdankt es diesen Erfolg? Den Fragmenten von Lanner und den beiden Strauß, aus welchen die ganze Musik zusammengesetzt ist! Die Leute können sich nicht satt hören an diesen reizenden alten Walzern, die sie eben nirgend anderswo zu hören bekommen. Aus dieser kostbaren Quelle ließe sich noch sehr viel mehr und besser schöpfen.

Herbeck kam abermals auf das Kapitel »Memoiren« zu sprechen: »Was mußt Du, unternehmender und verhätschelter Mann nicht alles erlebt haben in jüngeren Jahren!« Strauß aber meinte: »In jungen Jahren habe ich's sehr toll getrieben, und das kann man nicht drucken lassen. Meine Frau (Henriette Treffz) hat einmal angefangen, meine Erlebnisse niederzuschreiben, ist aber nicht weit gekommen. Mein Petersburger Aufenthalt, der war freilich interessant genug; da habe ich mich so genial aufgeführt, daß die Polizei mich ausgewiesen hat und nur hohe Protektion diesen Befehl annullierte. Davon will ich Euch vielleicht ein andermal erzählen. Mitternacht ist längst vorbei; wir wollen lieber nach Hause gehen!«

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 284-293.
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