III. Menschenspielerei betreffend
(Januar 1901)

[206] In Betreff der sogenannten Menschenspielerei (vergl. Kap. VII und namentlich Kap. XV der »Denkwürdigkeiten«) hat sich seit Niederschrift meiner »Denkwürdigkeiten« der Kreis meiner Beobachtungen nicht unerheblich erweitert. Ich habe seitdem zahlreiche, neuerdings fast alltägliche Spaziergänge und kleinere und größere Ausflüge in die Stadt und in die Umgebung von Pirna unternommen, einige Male das Theater daselbst, sowie die Anstaltskirche zur Beiwohnung bei dem Gottesdienste besucht und einmal sogar eine Besuchsreise zu meiner Frau nach Dresden gemacht. Dabei habe ich natürlich eine große Menge anderer Menschen, in Dresden das ganze Getriebe einer Großstadt gesehen. Es ist mir hierbei unzweifelhaft geworden, daß, was ich auch schon vorher für wahrscheinlich halten mußte, es außer den von Strahlen beeinflußten Lebensäußerungen der Menschen (und Thiere) auch noch Lebensäußerungen giebt, die vom Strahleneinflusse unabhängig sind. (Vergl. Kap. XV der Denkwürdigkeiten, wo ich dies noch eine dunkle Frage bezeichnet habe.)1 Wenn ich z.B. im Theater eine Vorstellung oder in der Kirche eine Predigt mit anhöre, so kann es mir nicht in den Sinn kommen, zu behaupten, daß jedes Wort, das von den Schauspielern auf der Bühne oder von dem Geistlichen auf der Kanzel gesprochen wird, durch wundermäßige Einwirkung auf die Nerven der betreffenden Menschen hervorgerufen worden sei; ich kann selbstverständlich keinen Zweifel darüber hegen, daß die Theatervorstellung oder der Gottesdienst in der Kirche im Ganzen ebenso verlaufen sein würde, wenn ich für meine Person nicht daran Theil genommen hätte. Und doch haben mir meine Wahrnehmungen bei diesen und zahlreichen ähnlichen Gelegenheiten die Gewißheit verschafft, daß meine Anwesenheit in solchen Fällen allerdings nicht ohne Einfluß auf die Lebensäußerungen anderer Menschen bleibt, sondern daß nunmehr, um die für den Rückzug erforderlichen »Störungen« (vergl. Kap. X und XV) hervorzubringen, in irgendwelcher Weise an den in meiner Nähe befindlichen Personen herumgewundert[207] werden muß. Am wenigsten auffällig ist dies gerade bei meinen Besuchen des Theaters und der Kirche geschehen. Der Grund liegt darin, daß Gott bei diesen Anlässen gewissermaßen selbst mit im Theater und in der Kirche war (d.h. im Wege des Nervenanhangs an allen Gesichts- und Gehörseindrücken, die ich während der Theatervorstellung und des Gottesdienstes empfing, Theil nahm) und diese Eindrücke das Interesse der jeder Zeit schaulustigen Strahlen in so hohem Maße erregten, daß die Rückzugstendenz nur in dem durch die äußeren Verhältnisse vielleicht unumgänglich nöthig gemachten Mindestmaße hervortrat. Immerhin ging es auch hier nicht ganz ohne »Störungen« ab, die sich jedoch zumeist nur in einzelnen leisen Worten der in der Kirche oder im Theater anwesenden Personen oder in Hustenanfällen der Schauspieler oder einzelner Personen aus dem Theaterpublikum oder der Kirchengemeinde und dergleichen äußerten.

Die auf Wundern beruhende Ursache war dabei für mich, wie in anderen Fällen in Folge der jedesmal gleichzeitig in meinem Kopfe eintretenden Schmerzempfindung (vergl. Kap. XV der Denkwürdigkeiten) und zum Theil auch des sich anschließenden Stimmengeredes vollkommen unzweifelhaft. Aehnliches erlebe ich ausnahmslos bei jedem Ausgang, der mich in die Straßen der Stadt Pirna oder in deren Umgebung, in Geschäftslokale, die ich dabei etwa betrete, in Restaurationen, die ich etwa besuche, führt; selbst mir völlig fremde Personen, die bei dem Besuche von Wirtschaften in den umliegenden Dörfern zufällig mit in demselben Raume anwesend sind, lassen solchenfalls in ihren Unterhaltungen ganz vorzugsweise solche Worte hören, die in Beziehung zu dem in Kap. IX erwähnten Aufschreibematerial stehen. Allerdings will ich nicht unbemerkt lassen, daß das Aufschreibematerial jetzt vielleicht schon die überwiegende Mehrzahl aller in der menschlichen Sprache vorkommenden Worte umfaßt. Der Gedanke an einen bloßen Zufall scheint daher äußerst nahe zu liegen; immerhin bleibt die beständige Wiederholung gewisser Worte auch jetzt noch auffällig genug, um über die absichtliche Anregung der betreffenden Menschennerven zum Gebrauche dieser Worte keinen Zweifel zu lassen. Ebenso auffällig bleibt die lautlose Stille, die bei gewissen Gelegenheiten (vergl. bereits Kap. XV der Denkwürdigkeiten) in meiner Umgebung einzutreten pflegt, namentlich, wenn ich Klavier spiele und gleichzeitig den Text des betreffenden Musikstückes lese, also die den Inhalt desselben bildenden Worte in der Nervensprache aussage, oder ein Buch, eine Zeitung, ein Stück aus meinen »Denkwürdigkeiten« u.s.w. mit Aufmerksamkeit lese oder wohl auch ausnahmsweise einmal laut singe. Man sollte doch meinen, daß auch während dieser Zeiten z.B. der Verkehr der Pfleger zu ihren gewöhnlichen Geschäften auf dem Korridor, das Heraustreten einzelner Patienten aus ihren Zimmern usw. fortdauern müßte. Dies geschieht aber fast niemals, wohl aber ganz regelmäßig sofort im ersten Gesicht (Augenblick), wenn ich die betreffende Beschäftigung aufgebe, d.h. zum Nichtsdenken übergehe oder die durch die Vereinigung aller Strahlen[208] bedingte Hochgradigkeit der Seelenwollust einen Rückzug und zu diesem Behufe eine »Störung« erforderlich macht. Ich kann mir dies nicht anders erklären, als in der Weise, daß die betreffenden Personen zwar die Fähigkeit zu derartigen Lebensäußerungen auch ohnedies besitzen, dennoch aber im gegebenen Augenblicke eine Veranlassung dazu nicht empfinden würden, sofern nicht durch Strahleneinwirkung der Entschluß zur Vornahme irgend einer Thätigkeit in meiner Nähe, Verlassen ihrer Zimmer, Oeffnung des meinigen (von Seiten der Patienten sehr häufig ganz zwecklos) usw. in ihnen angeregt würde.

1

Daß mir diese Frage früher dunkel erscheinen mußte, sowie überhaupt die ganze obige Ausübung wird vielleicht einigermaßen verständlich werden, wenn man bedenkt, daß ich sechs Jahre lang innerhalb der Mauern der Anstalt eingesperrt gewesen bin, in welcher ich, abgesehen von kurzen, ärztlichen Besuchen und vereinzelten Besuchen meiner Angehörigen, nur geistig gestörte Personen und ungebildete Pfleger gesehen habe.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 209.
Lizenz:
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Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage:
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