[82] Montag, 18. April.
Um halb sechs Uhr stand ich auf, wusch mich und ging hinaus, um die Gegend zu sehen; mehrere hohe Pagodentürme erschienen, als wir an Whampoa vorbeifuhren, auch ein Kloster und mehrere kleine Tempel. Viele Mandarinenbäume schmücken den Boden, der links flach, rechts in einiger Entfernung sich zu anmutigen Hügeln erhebt. Auf dem Boote wurde es immer lebendiger, und alle warteten mit Begierde auf das noch in dunstiger Hülle fern sichtbare Kanton. Endlich kam es näher, die Dschunken und Sampans füllten den ganzen Fluß, und ein Geschrei und Lärm und Schwätzen drang von da unten herauf, das Neapel noch übertraf. – Auf das Schiff kamen nun allerhand Leute, unter ihnen Führer, von denen wir einen sehr netten für uns nahmen, da dies unbedingt nötig ist in dieser kolossalen Stadt, wo nur ganz wenige Englisch sprechen können. Wir folgten ihm aus dem Schiff hinaus, und durch ein Gewimmel von Chinesen durchdringend,[82] brachte er uns zu den Sedanstühlen, die man so oft schon abgebildet gesehen hat und nun wirklich benützen sollte. Man kommt sich wie ein Mandarin darin vor, wenn man so von drei Männern getragen wird. Der Anblick der Stadt vom Flusse aus ist nicht gerade schön in unserm Sinne zu nennen; es ist ein tolles Durcheinander von niedrigen Häusern, Dörfern, die in den Fluß auf Pfählen gebaut sind, Sampans, die am Ufer entlang zu Tausenden liegen, dazwischen kleine Tempel, alle überragend die Pfandhäuser, turmähnliche Gebäude, in denen auch die vornehmen Chinesen Sachen im Winter aufheben lassen, um sie dann im Frühjahr wieder zu holen.
Den wahren Eindruck von Kanton sollten wir erst haben, als wir hineinfuhren, und dies war allerdings ein Eindruck, der sich in seiner Eigenart mit gar nichts vergleichen läßt. Obwohl wir doch schon einiges von chinesischem Treiben, von ihrer Bauart und so weiter gesehen haben, so war uns doch alles hier neu, durch die vollständige, von Europa unberührte, kaum je durch andre Einflüsse entscheidend veränderte Ursprünglichkeit; so war diese Stadt gewiß gerade so vor tausend, ja dreitausend Jahren, und wenn auch noch so oft dazwischen ganze Viertel niedergebrannt sind, so wurden sie ebenso wieder aufgebaut. Nachdem wir in das gemütliche Shameenhotel gefahren waren, das auf Shameen, der europäischen Insel, gelegen ist, dort gefrühstückt hatten, ließen wir uns von unserm Führer in den Sedans durch die westliche Stadt führen. Über eine[83] Kanalbrücke hinweg gelangten wir in diesen Stadtteil, und nun begann unser Staunen, Mund- und Augenaufreißen: der Anblick alles dessen, was wir jetzt sehen sollten, war so entzückend, so phantastisch, so harmonisch in seinen grellen Disharmonien, so bunt und doch nie die Augen verletzend, daß man entschieden die Empfindung hatte, das ist in seiner Weise etwa ganz Vollendetes und Unvergleichliches. Die Straßen sind ganz eng, wie in Venedig die engsten Gäßchen, und der Sedan hat Mühe, sich durchzuwinden, besonders an Ecken, wo die zwei Tragstangen meistens vorn oder hinten anstoßen müßten, wären diese Leute nicht so geschickt. Die Häuser sind nur einstöckig, das heißt: nur Parterre; die ganzen Gassen entlang ist ein lustiger offener Laden neben dem andern; den Himmel kann man kaum sehen, da eine Unmenge der länglichen bunten Annoncen, Fahnen, durchbrochener, mit durchsichtigen Muscheln zugedeckter Holzgesimse über der Straße hängen und einen glauben machen, man ginge in einem geschlossenen Raume. Laden an Laden zeigen die herrlichsten, bizarrsten, geschmacklosesten Sachen, alle so originell, daß selbst das Hyperabsurde einem gefallen muß. Die Chinesen sind eines sehr verschiedenen Schlags gegen die in Singapur, und besonders das weibliche Geschlecht präsentiert sich viel hübscher und anziehender als selbst im nahen Hongkong. Wie wir so zum ersten Male durch diese langen Gäßchen getragen wurden, fiel mir auf, daß alle Straßen durch Tore abgeschlossen sind,[84] natürlich ohne Türen, und diese geben immer Gelegenheit, verrückte Stuckfigurenkomplexe anzubringen, auf denen irgendein Gott mit unzähligen Nebengöttern ein Fest abhält oder auf Wolken über Bäumen sitzt; diese erhabenen Reliefs werden durch ein einfaches horizontales Gesimse begrenzt, auf dem in der Mitte gewöhnlich eine schnörkelig stilisierte Blume, an den Seiten, auf diese zukommend, zwei sich windende Schlangen und am Ende je ein ausladendes, gewöhnlich mäanderartiges Ornament angebracht sind. Die kahlen grauen Ziegelwände sind durch eine Unmasse von gelben und roten Zetteln verhüllt, auf denen gute Ratschläge gegen Krankheiten und so weiter enthalten sind. Über den Häusern hoch emporragend steht in jedem Stadtviertel ein hohes Holzgerüst mit kleiner Hütte darauf, von wo aus durch Gongschläge zuerst angezeigt wird, wenn es irgendwo brennt. – Dazwischen begegneten wir in feinen Sedans Mandarinen in schönen Gewändern mit ihrem Doppelschwert in silberner Scheide mit dem kleinen Dolch, an dem die elfenbeinernen Chop-Sticks angebracht sind, und mit dem schwarzen Hut, an dem hinten ein kurzer Pfauenfederbüschel angenäht ist. Es geht hier sehr vornehm zu; die Stadt ist berühmt für ihre vornehmen, reichen Herrschaften, unter denen allerdings auch die Finanzbarone nicht fehlen. – Unser Führer, der ein unglaubliches Englisch spricht und dabei sehr viel von seinem Munde Gebrauch macht, zeigte uns zuerst einen Laden, in dem auf Reispapier gemalt wird;[85] sie bringen feine Bilder zustande, in der Technik und Perspektivlosigkeit an die frühesten Italiener erinnernd, und meistens das Leben eines Chinesen von der Geburt bis zum Tode in zwölf Erlebnissen darstellend; oder man findet auch verschiedene Darstellungen von Buddha und andern Göttern, in ihren verschiedenen Eigenschaften als Sonnenbeherrscher, Krankenheiler, Geburtbegünstiger, als Sturm-und Sterngottheit und so weiter. Clement und ich kauften jeder eines dieser zwei Arten. Beim Heraustreten sahen wir uns umringt von bettelnden und gaffenden Leuten, unter denen besonders die kleinen Bettelkinder einen wie lästige Fliegen verfolgen. Die ärmeren Frauen tragen ihre Kinder auf dem Rücken in einem Kreuzband, so daß die Position dieser Würmer höchst unbequem aussieht, und ich muß ihre Lautlosigkeit bewundern, besonders dann, wenn, wie ich gestern sah, die Mutter dabei flott rudert und das Steuerrad mit dem Fuße lenkt. – Nach einer kleinen Fahrt weiter hielten wir vor einem Laden, in welchem kleine Schmucksachen aus Silber mit den zarten blauen Federstückchen des Fischreihers so fein eingelegt werden, daß man es für Mosaik oder Email halten möchte. Nur ganz besonders schöne Federn dieses Vogels können sie benützen und den größten Teil der mehr weißlich schimmernden müssen sie unverwertet lassen. Da dies eine chinesische Spezialität ist, kauften wir eine kleine Brosche, ich einen Pfau, den ich für Mariechen1 bestimmte. – Von da[86] kamen wir an unzähligen Stoff- und Schuhläden vorbei zu einem Manne, der uns einen hohen Verschluß öffnete, in welchem ein Pompsedanstuhl stand, von oben bis unten mit Figuren und Schnörkeln überladen, blau mit Gold; wir mußten natürlich das verrückte Ding aufs höchste bewundern, und allerdings, es steckt eine namenlose Arbeit darin. Weiter gelangten wir zu Ebenholzstuhlschnitzereien, unter denen einige uns sehr gefielen, sie erinnern an die gotischen des vierzehnten Jahrhunderts. Nach einigen Querstraßen, durch welche wir getragen wurden und in denen fast bei jedem Laden uns etwas Neues, Reizendes und Anlockendes angeboten wurde, kamen wir an einen kleinen Platz, wo der Tempel der Fünfhundert Weisen liegt. Wa Lam Tsy, so heißt dieser Tempel im Chinesischen, wurde im Jahre 503 gegründet und 1855 restauriert. Er ist von bedeutender Anlage und nach vielen Seiten hin von großem Interesse. Die Fassade, die übrigens an allen Tempeln die gleiche ist, mag sie im fünften oder achtzehnten Jahrhundert erbaut sein, ist mit sechs schlanken, kapitällosen Säulen geschmückt, welche in direkter Verbindung mit dem reichen Holzgewölbe stehen. An den beiden Ecken stehen diametral heraus drei Sparrenenden, stufenweise ausladend, welche die reichgeschweiften Dachkanten tragen. Die Farbe der Ziegel, die an dem Rande des Daches hübsch gebrannt eine Art Friesornament bilden, ist auf der Schräge grünlichgrau, was in das Ganze eine schöne Ruhe bringt, die sonst in Spielereien untergehen[87] würde. Auf dem Scheitel finden wir wieder denselben Schmuck wie an den Toren. Das Ganze solch einer Fassade macht einen reizenden Eindruck, und wir freuen uns jedesmal, wenn wir um eine Ecke biegen und solch ein zierliches Formenspiel sehen. Beim Eintritt in die kleine erste Vorhalle stehen rechts und links vergoldete Kolossalstatuen: die Hüter des Tempels, mit scheußlichen, rosa angemalten Gesichtern. Ein ziemlich großer ungepflegter Vorhof führt zur zweiten Vorhalle, wo hinter Gittern vier vergoldete Kolossalstatuen stehen, darstellend die vier Winde; der Gott des Nordens, der überhaupt eine besondere Stellung in der alten Mythologie einnimmt, hat eine große Mandoline in der Hand, auf der er mit freundlicher Miene spielt, während die andern drei entweder stumpf oder wütend aussehen. –
Nachdem wir den ersten Säulenhof durchschritten haben, treten wir in den ersten Pavillon; auch diese Pavillons sind fast allenthalben dieselben. Vier oder sechs hölzerne Säulen, auf Granitsockel ruhend, tragen das Satteldach und sind miteinander durch runde Sparren verbunden. Die Schnitzereien an den Balkenköpfen sind reich und phantastisch; ihr dunkler brauner Ton hebt sich schön von dem warmen Rot der Holzsäulen ab, und es herrscht überhaupt in diesen Tempeln eine geheimnisvolle, düstere Harmonie, die die einzelnen grotesken und absurden Gegenstände weniger verletzend macht; mit diesen meine ich geschmacklose hohe Drahtblumenständer, häßliche Götzenbilder und dergleichen mehr, während[88] wiederum andrerseits die schönsten Bronzen, Leuchter, Joßgefäße, Lampen und Vasen in reicher Fülle auf dem Altare stehen. In diesem ersten Pavillon stehen hinter dem Altar drei Kolossalstatuen Buddhas, ganz vergoldet und mit schönen kindlichen Gesichtern, während an den zwei angrenzenden kurzen Mauern je acht Götter stehen, welche, wie ich verstand, auch wieder Buddha darstellen sollen. Der Duft von den Joßstengeln, welche auf dem Altare in einer wundervollen Bronzevase brennen, ist betörend, und er allein ist es, der einen daran erinnert, daß man es hier mit einem Gotteshause zu tun hat; denn die Art, wie die Chinesen in ihren Tempeln schwätzen, rauchen, über die Götzenbilder lachen, ist unglaublich und verletzend. Im zweiten Pavillon steht in der Mitte eine marmorne Pagode (Turm), ein Geschenk des Kaisers Kien-Lung (achtzehntes Jahrhundert). Vom dritten Hof, links sich wendend, kommt man in den vierten Hof, an welchen der eigentliche Tempel der Fünfhundert Götter grenzt. Die fünfhundert vergoldeten Standbilder sind von menschlicher Höhe und bieten einen interessanten, wenn auch unschönen Anblick. Sie sind alle sehr verschieden voneinander in Haltung, Ausdruck, Gesichtszügen und Abzeichen. Einem sind endlose flächserne Augenbrauen angehängt, ein andrer hat einen Rosenkranz in der Hand, einer lacht, ein andrer sieht nachdenklich aus, einer wütet, und ein andrer blickt sanft in die Ferne; zwei von ihnen werden von Frauen angerufen, die gern Kinder bekommen möchten. Ein einziger[89] unter ihnen hat einen Hut auf; es soll Marco Polo sein, nach andern Franz Xaver. In der Mitte der Rückwand steht eine große Statue des Kaisers Kien-Lung, davor die zwei Altäre, wie in allen Tempeln, wo heiliges Santalholz brennt und unter andern die zwei kleinen, auf der einen Seite ovalen, auf der andern plattpolierten Steine stehen, welche man auf den Boden wirft, um zu sehen, ob der Gott eine gute oder schlechte Antwort gibt: gut ist sie, wenn einer auf die runde Seite fällt, schlecht, wenn beide auf die gerade, mittelgut, wenn beide auf die runde Seite fallen. Wir warfen auch: Clement bekam eine gute, ich eine schlechte Antwort. Neben diesem Tempel sind noch die Priesterräume und ihr Speisezimmer.
Von diesem Gebäude gingen wir in den kleineren angrenzenden Cho-Shing-Tempel, dem Gotte der Medizin geweiht, doch von keinem besonderen Interesse, außer mehreren Drahtständern, die man übrigens auch in den andern findet, um Feuerwerk loszulassen, was nur aus einem Mordsgeknatter besteht. – Auf unsrer weiteren Wanderung kauften wir allerhand hübsche Sachen, ich unter andrem ein Tigerfell, das ich billig genug bekam; wir sahen in einem Laden der Reinigung des Reises zu, was ein eigentümlicher Anblick ist, indem nämlich ein Chinese mit seinen Füßen auf einer Art Schwippe hin und her läuft, an deren einem Ende ein schwerer Hammer befestigt ist, der auf eine Tonne Reis fällt und durch die Erschütterung diesen von der[90] Spreu reinigt. Die Bewegung geht rhythmisch straff, wofür die Chinesen überhaupt Sinn haben, weniger in der Musik als in der Handarbeit.
Unser nächster Weg war zu einer Seidenweberei, wo eben ein violetter Stoff mit buntem Muster gewoben wurde. An jedem Webestuhl, wo reichere Stoffe (also mit Mustern) verfertigt werden, sind zwei Männer beschäftigt, bei den einfarbigen hat einer die ganze Arbeit. Ich würde gern die Tätigkeit schildern, da ich aber, trotz der zwanzig Seiten in den »Wanderjahren« darüber, die einzelnen Benennungen nicht gut genug kenne, lasse ich es lieber sein. In einem Laden, wo ich für die Schwestern wunderschöne Seide und Crêpe de Chine kaufte, frug mich ein altes Original von einem Chinesen, wie alt ich sei; auf meine Antwort hin war er hocherstaunt, daß ein Mensch in meinem Alter schon solch einen Schnurrbart habe. Ich fühlte mich so geschmeichelt und hocherfreut, wenigstens in China anerkannt worden zu sein, daß ich beim Kaufen nicht einmal besonders herunterhandelte.
Unter der Stadtmauer hinweg kamen wir in die Neustadt Kanton, die aber geradeso aussieht wie die andre alte. Unser Führer zeigte uns ein öffentliches Restaurant, in das wir gingen, um die Einrichtung zu sehen. Man staunte uns auch hier an wie überall, und wir haben gewöhnlich ein ganzes Gefolge von Neugierigen, die es nicht an spaßhaften Bemerkungen über uns dazwischen fehlen lassen. Von dort fuhren wir nach dem Hotel[91] und lunchten. Clements Magenschmerzen hörten noch nicht auf, und er legte sich nachmittags auf sein Bett, um sie in Ruhe vorbeiziehen zu lassen. – Gegen halb vier Uhr mußte ich also allein weiterfahren, um mich in der Stadt umzusehen.
Zuerst führte mich der Mann zu einer kleinen Volksküche, wo er mich ein chinesisches Nationalgericht kosten ließ, nämlich Katzen- und Hundefleisch. Ich bekam zuerst einen kleinen Schrecken, wie er mir meldete, was da in den Töpfchen zu kleinen viereckigen Stücken zerschnitten lag, doch besiegte ihn die Neugierde; ich setzte mich hinten im Laden an einen kleinen Tisch, und nun suchte ich, so gut ich konnte, unter dem Jubel der zuguckenden Passanten, an den zwei Eßstäbchen die kleinen Katzen- und Hundeteilchen festzuhalten und mit Balancieren und Equilibrieren in den Mund zu stürzen. Das Katzenfleisch schmeckte gar nicht schlecht, zart, etwas weichlich, Ziegenfleisch, während das Hundefleisch mir doch etwas zu toll war und ich mit wahrer Begeisterung noch ein Katzenstückchen aß, um den Geschmack ihres Feindes zu verlieren. Doch leider siegte der Hund in diesem Falle und begleitete mit eigentümlichem Bellen den unglücklichen Besitzer bis zum Tempel von Honam.
Eine längere Fahrt brachte uns auf einen Platz, wo links die Swatowhalle steht, rechts ein Barackentheater in voller Tätigkeit war: es war wieder ganz dasselbe Zeug wie in Singapur; wir zwei stellten uns etwas hin, und der Führer explizierte mir das Stück, aber mit so komischem[92] Englisch, daß ich gar nichts davon verstand. Angeglotzt wurde ich von den Zuschauenden wie ein wildes Tier, so daß wir bald uns in jenes Gebäude begaben, welches eine Art Klub ist, mit zahlreichen Höfen, Pavillons, zwei Bühnen, kleinen Höfen mit Bäumen und den eigentümlichen Kreistoren, hübschen Granitsäulen und Drachen außen herum. In diesen Räumen versammeln sich reiche Kaufleute und bringen ihre Opfer der Königin des Himmels Tin-han. – Von hier nahmen wir ein Boot und fuhren nach dem andern Ufer hinüber, nach der Vorstadt Honam. Zuerst erblickten wir ein großes Theatergebäude, das nach der Aussage des Führers sehr gut sein soll; dann führte er mich in die Besitzung der Howquafamilie, die durch ihren Reichtum eine große soziale Stellung einnimmt; der Sohn soll jetzt allerdings heruntergekommen sein, und ich glaubte es gern, denn die Gärten sind teilweise ganz vernachlässigt. Das Ganze ist ein riesiger Komplex von Gebäuden: Pavillons, kleinen Kapellen, Höfen, Gängen zwischen den grauen Mauern, kleinen Gärten, einem größeren Teich mit Lotos, daran grenzend Sommerpavillons und so weiter. Gemütlich sind diese Wohnungen eigentlich nicht, außer dem Sommerpavillon; der graue Ton, der über alle Mauern sich ergießt, gibt dem Ganzen etwas Kaltes und Ödes, und wenn die Sonne heiß auf den Boden brennt, muß es recht erstickend dort sein. Einem der Familie Howqua begegnete ich; er gab mir die Hand und lächelte freundlich, ging aber gleich weiter, da er wahrscheinlich[93] nur wenige englische Worte kann. Er war so einfach gekleidet, daß ich ihn nimmermehr für einen Vornehmen gehalten hätte.
Zum Landungsplatz zurückkehrend, bogen wir südlich ab, um in den nahen Honamtempel zu gehen, der einer der größten Buddhistentempel in ganz China ist; er stammt aus dem Jahre 1600 und wurde um das Jahr 1700 erweitert. Eine wundervolle Allee uralter Bananenbäume mit ihren leidenschaftlichen Wurzeln und Ästen führt zum zweiten Eingangstor, wo wieder die vier Monstren stehen; die Anlage ist fast dieselbe wie beim Fünfhundert-Weisen-Tempel, nur daß alles größer ist. Wir wandten uns links, gingen durch die Wohnungen der Priester, durch deren Küche, Speisesaal und so weiter, und kamen schließlich in die Gärten, die sich hinter den Tempeln ausdehnen; sie sind ziemlich ungepflegt, nur ein kleiner Teil ist mit zu Figuren beschnittenen Bäumchen geschmückt. Ich sah – im Weitergehen – die Stelle, wo die Leichen der Priester verbrannt werden, und das Mausoleum, wo ihre Asche in Vasen aufbewahrt ist und vor dem ein kleiner Teich mit ärmlichem Lotos grün und braun schimmert. – Wir gingen zurück in den ersten Pavillon, wo auch wieder die drei kolossalen Buddhas stehen. Es sollte jetzt Gottesdienst sein, und ich war sehr gespannt darauf; mein Führer und ich setzten uns in eine dunkle Ecke links, von wo aus ich eine Zeichnung machen wollte. Allmählich kam ein Priester nach dem andern herein, sie schwätzten und lachten, unterhielten[94] sich mit meinem Führer, sahen meine Aquarelle an, musterten meinen Strohhut und meinen Stock, machten Witze über die Götzenbilder, kurz, waren so unpriesterlich wie möglich. Sie haben glattgeschorene Köpfe; ihr Gewand ist grau und schwachgelb, das heißt, über das graue Untergewand schlagen sie den rohseidenen Mantel um die Schultern, so daß er schöne Falten bildet und das Ganze ein wundervolles zartes Aussehen hat. Ich erinnere mich kaum, je eine solch zarte Farbenzusammenstellung gesehen zu haben; wenn man dagegen an die katholischen Pfaffen denkt mit ihren steifen überladenen Pianetten! – Eine Glocke von außen kündigte nun an, daß der Hauptpriester komme; er trat ein, ein alter Herr von achtzig Jahren, so gesund und so zart; sofort begann nun der Gottesdienst, indem sich die Priester an verschiedenen Stellen des Tempels in Gruppen von drei bis vier Mann aufstellten und ein Priester neben uns auf der kolossalen Trommel, die auf einem hohen Gerüste liegt, das Zeichen zum Anfang gibt, der in einem dreimaligen Niederknien und Berühren des Kopfes mit dem Boden besteht; sodann folgen Gebete, die durcheinandergesprochen werden, begleitet entweder von einer kleinen Klingel oder einer topfähnlichen Trommel. Der Rhythmus wechselt öfters, zuerst einfache Sechzehntel, dann Gavottenrhythmus reinster Art, sofort auf Lullys Melodie zu singen, und so weiter. – Nach diesen Gebeten, die der Hauptpriester mit dem Gesichte zum Altare gesungen hat, wendet er sich um,[95] tritt dem Eingang näher und wirft sich nieder zur Anbetung der Sonne; die andern Priester haben sich auch gewendet, bleiben aber an derselben Stelle stehen. Es machte auf mich einen erhabenen Eindruck, wie dieser alte Priester mit schönen großen Bewegungen beim Knien, Niederfallen und Wiederaufrichten unverwandt hinanblickte und zur Sonne betete; wenn man nach den vorangegangenen komischen Szenen auch annehmen kann, daß alles ohne tiefe religiöse Empfindung geschieht, so genügt doch schon die Schönheit der Bewegung und des Gedankens, um dem Zuschauenden jeden Zweifel zu nehmen und ihn selbst in eine ekstatische Empfindung zu versetzen; der Priester wird zum dramatischen Darsteller, und der Eindruck, zu einem künstlerischen geworden, wird auf diesem Wege zu einem religiösen. – Nach diesem Akt erfolgte ein dreimaliger Rundgang sämtlicher Priester durch den Tempel, was sich ganz besonders schön ausnahm. Dann stellten sie sich wieder an ihren alten Platz; es folgten Gebete wie zuvor, die ziemlich lächerlich klingen, wie Froschquaken; nach dreimaligem Niederknien ist die Zeremonie beendet, und die Priester verteilen sich in ihre Wohnungen.
Dienstag, 19. April.
Was mir im Vorübergehen besonders auffiel, war der Singvogelmarkt in der Nähe des großen alten zweistöckigen Tores der Tugend, wo Taufende von kleinen und großen Singvögeln in meist engen Käfigen wehmütig[96] dem fernen nahen Lenz ihr Lied zuriefen; doch werden sie hier gut behandelt, und von Tierquälerei wie in Spanien und Italien habe ich nicht eine Spur gemerkt. Die Käfige sind rein und niedlich gehalten, die Tierchen haben ihr Bad und buntbemalte Eßnäpfchen. An sehr rhythmisch hackenden Fleischern vorbei, die, wie alle in Kanton, ihr ganzes Werk vorn an der Straße verrichten, führte mich Wong Jew, unser Chinese, zu den Gefängnissen, die gerade nicht dazu geeignet waren, meine Stimmung sehr zu erheitern; ja, ich kann sagen, der Eindruck des dort Geschauten und Vernommenen hat mir lange trüb nachgehängt, und das Bild jener Frau, von der ich erzählen will, wird mir wohl nie entschwinden. Die Anlage der Gefängnisse ist kolossal: man tritt durch ein Tor in den großen Vorhof, an dessen Ende sich der Richtersaal befindet, architektonisch nicht bedeutend; ebenso in der Bauart wie Tempel und Yamun. – Während in den Räumen, die sich rechts an den Hof anschließen, die Verhafteten sich aufhalten, befindet sich links in drei Komplexen das eigentliche Gefängnis, dessen einstöckige Räume durch ein wahres Labyrinth von Gängen und Türen gesondert sind. Die Gänge sind unbedeckt, die Farbe des Steins, wie bei den meisten Gebäuden, grau. – Nachdem ich zuerst zu den leichten Sträflingen geführt worden, brachte mich mein Führer zu den Verbrechern, welche den hölzernen Kragen tragen müssen; sie guckten uns neugierig an, langten mit der Hand heraus, um Geld zu erhalten,[97] und schienen nicht besonders unglücklich zu sein über ihre Strafe. Etwas schwerere Verbrechen als die ihrigen werden mit so entsetzlich schweren Kragen dieser Art bestraft, daß die unglücklichen Träger unter der Last gleich zu Boden stürzen und nach kurzer Zeit sterben. Ich sah solche Krägen im Hofe liegen und konnte sie kaum aufheben. Die schlimmsten Verbrecher, welche im entferntesten Teile der Gebäude liegen, durfte ich nicht sehen; dagegen wurden mir die Frauen gezeigt, welche als Mörderinnen angeklagt waren. Nach langen öden Gängen gelangten wir zuerst an ein rundes Loch in der Wand, durch das die Gefangenen von einem Kanale aus hereingesteckt werden; im Augenblicke, wo sie durchgetrieben werden, stechen von oben spitze Messer herunter, die das Fleisch der Armen blutig zerreißen. – Guarda e passa! O hätte mein Führer das mir zugerufen; doch mit der Roheit des Gemeinen erging er sich hier in den entsetzlichsten Schilderungen der Martern, und ich verstellte mich, als hörte ich gelassen und mit Wißbegierde zu. Warum man sich nur geniert, Gefühle offen kundzugeben! Ich hielt es für weibisch, hätte ich ihn gebeten aufzuhören! Das Furchtbare an der Sache hier war, daß diese Greuel immer noch geschehen – ja, daß am Nachmittage dieses selben Tages eine so greuliche Hinmetzelung stattfinden sollte und daß der Führer mich aufforderte, dahin zu gehen. Wir traten nun bei den Frauen ein, und ich werde wohl nie dieses Erlebnis vergessen: in einem kleinen Raum, der vorn einen, nach dem hinten angrenzenden[98] kleinen Hof zwei offene Eingänge hatte, sonst vollständig schmucklos war, saß auf einem niedrigen Schemel an der Rückwand eine bleiche schöne junge Frau, ja, schön, wie ich kaum eine zuvor hier in China sah; sie erinnerte mich an jene alten Madonnen des Fra Angelico, des Giotto, wie sie so dasaß an dem Tische, umgeben von sechs anderen Frauen, die, wie ich erfuhr, Kindsmörderinnen waren. Sie hielt in den feinen schmalen Händen die Dominos, um sie zum Spiele zu verteilen. Der Blick war gesenkt, als wir zuerst eintraten, doch sie hob ihn, und er ruhte scheu und fragend auf mir, als wollte sie wissen, ob ich aus dem ihrigen ihre Schuld lesen könnte. Dann sah sie weg, mit einem unfreien Lächeln verfolgte sie die frechen Anbetteleien der übrigen greulichen Weiber, die wie Hexen aussahen und uns um Geld bestürmten, während wir uns die andern Räumlichkeiten ansahen. Als wir wieder in das Zimmer zurückkehrten, saß sie noch an derselben Stelle; sie sah uns kaum an, sprach mit den andern Weibern, und ich beobachtete an ihrem Munde einen Zug, der mich erschrecken mußte: es drückte sich da eine Kälte, eine Herzlosigkeit aus, die mich wohl davon überzeugen mußten, daß sie schuldig war, daß vielleicht nicht einmal ein leidenschaftlich wütender Moment sie getrieben hat, ihren Gatten zu töten, sondern daß ein perverses Motiv dieser Handlung zugrunde lag. Und trotzdem wollte es mir kaum möglich erscheinen, und ich mußte staunend wieder diese feinen Züge betrachten, die zarten, gespitzten Lippen,[99] die großen Rehaugen, den schönen Teint, der in seiner Blässe die einzelnen Glieder nur noch an Feinheit erhöhte. Mein Führer sagte mir, daß sie keine Ahnung habe, was ihr bevorstehe. Ihre Schuld mußte so schwer sein, daß sie nicht einmal mit einfachem Tode bestraft werden soll: ihr droht das Furchtbarste im kommenden Monat – sie wird in dreißig Stücke zerhackt. Nach dem siebten Schnitt sterben gewöhnlich die unseligen Opfer.
Mittwoch, 20. April.
Wir waren wieder im Zentrum der Stadt, und zwar bei der berühmten alten Wasseruhr, die die Zeit für Kanton und Umgebung bestimmt. Eine Freitreppe führt zum Turm hinauf, wo sich die drei Wasserkrüge schief übereinandergestellt befinden und von einem in den andern das Wasser tröpfeln lassen, wonach die Zeit bestimmt wird. Außerdem brennt Joß da, auf dem in bestimmten Entfernungen ein schwarzer Strich gemalt ist, welcher angibt, daß bei seinem Verkohlen eine Stunde vergangen ist. – Die Aussicht auf das Häusergewimmel vom Turme ist reizend; ich bemerkte auch, daß auf allen Häusern grün gebrannte Tonkrüge stehen, die das Regenwasser auffangen sollen, um dasselbe gegen Feuer benützen zu können. Von hier fuhren wir nach dem Osten der Stadt, über entzückende Brücken, die Blicke auf die kleinen Kanäle gewährten, wo plumpe und schlanke Sampans mit herrlichen Gemüsen, getrockneten Fischen und so weiter sich mühsam durchzwängten,[100] an all den herrlichen Läden vorbei, die so namenlos verlockend sind, daß man fast Scheuleder an den Augen haben möchte, um nicht ganz bankrott zu werden. Der Anblick der Straßen und alles dessen, was darauf vor sich geht, ist jedesmal von neuem etwas so Phantastisches und Unterhaltendes, daß man keine Sekunde den armen Augen Ruhe gönnen kann. Wir gelangten zu den Prüfungshallen, wo alle drei Jahre die Prüfungen junger Leute stattfinden. Die Anlage ist ganz kolossal, über elftausend Zellen sind im großen Hofe rechts und links von der zu den Pavillons führenden Allee erbaut, wo die Knaben jeder getrennt sitzen und ihre Aufgabe zu machen haben. Es ist wirklich erstaunlich, wie weit die Bildung in die ärmsten Kreise verbreitet ist: der Chinese kann lesen und schreiben! Könnte das jeder Italiener, jeder Spanier sagen? – Auf dem Platze vor den Gebäuden trollten sich mehrere Schweine herum; sie sind so witzig hier in China, sie lachen beständig mit dem Ringelschwänzchen; hoffentlich ist es nicht fausse bonhomie. – Kleine Bettelkinder mit ihrem beständigen Tschin-schin-Gequietsche machten mich ganz nervös; und ich schimpfte auf deutsch, was natürlich mit tüchtigem Hohngelächter erwidert wurde.
Wir waren jetzt so ziemlich an der Grenze der Vorstädte. Die Straßen haben da einen andern Charakter, dadurch daß kaum Läden vorhanden sind und der Himmel frei heruntersehen kann. Durch graue Mauergassen fahrend, kam ich zum Kwong Nga Shü Kuk, einem literarischen Klub mit Vergnügungsräumen. Es war dies[101] das Reizendste, was ich an Profanbauten sah, von einer Feinheit des Geschmackes, einem Sinne für Raum, Bequemlichkeit, Eleganz, Farbenverbindung, wie man es sich wirklich nicht schöner zum Darinleben und -arbeiten denken kann. Ein hübscher Salon nach dem andern, immer durch kleine Gärten, Lotosteiche, Säulenhöfe, Gewächshäuser getrennt, so daß man immer Grün und Blumenfarbe schimmern sah; und alles so heiter und leicht, und immer voll von Phantasie! Wir Armen mit unsrer ewigen Hochrenaissance und ihren abgenützten schwerfälligen Motiven! Ist denn alles andre gleich verwerflich und ketzerisch, was nicht direkt vom seligen Vitruv herstammt? Wie wohltätig ist diese Einfachheit hier: nicht immer gleich eine Karyatide, wo eine einfache dunkle Holzsäule denselben Dienst tut. Und bei aller Platzverschwendung bleibt es doch immer intim. Man fühlt, daß man Raum in Fülle hat, und die Begrenztheit tut so wohl. An diesem Gebäude könnten wir ordentlich lernen. – Allerdings – das China!
In der Nähe dieses Klubs liegt der Hinrichtungsplatz; ich ging hin und sah die Töpfe an deren Rande Einbiegungen angebracht sind, worin das arme Opfer den Kopf senken muß, um den Streich von dem Schwerte zu empfangen. Der Scharfrichter, der uns herumführte, holte aus einem der alten Töpfe einen Totenkopf heraus und zeigte mir das Schwert, das in einem Jahre oft über dreihundertmal sein strenges Werk vollbringt. – Der ganze nicht große Platz war mit solchen Töpfen angefüllt,[102] die eben frisch von Arbeitern an Ort und Stelle geformt worden waren. Der Kerl verlangte zehn Cent für jedes, was er mir gezeigt. Sie haben das Geld ein wenig zu gern, diese lieben Chinesen, und sie fühlen die größte Wonne, wenn sie so mit den Dollars auf dem Tische herumklappern, um zu prüfen, ob sie echt sind.
Donnerstag, 21. April.
Unsre Fahrt führte uns in den äußersten Osten der Stadt, etwas nördlicher wie gestern, zu den Toren hinaus, am Exerzierplatz und hübschen Matten und Wie sen vorbei zur Totenstadt, und zwar der Reichen. Zuerst ging man an einem größeren Teich vorbei, der von schönen Bäumen umgeben war, wo zahllose Störche nisteten und sich auf den Zweigen wiegend durcheinander klapperten. Am Ende des Wassers liegt das trauliche Hospiz für alte Männer; durch ein Tor rechts kommt man zum Eingang der Totenstadt, wo drei uralte Bananenbäume fast entlaubt stehen. Ein junger freundlicher Buddhistenpriester empfing uns und zeigte uns die Gräber. Der Eindruck auf mich war heiter, ohne alles Schreckhafte, wie bei uns die Friedhöfe; das Ganze besteht aus schmalen, schöngepflasterten Straßen, an denen die einzelnen Kapellen liegen; alles ist klein; es befinden sich nur ungefähr siebzig Särge hier! Ich sah mir mehrere der Kapellen an, besonders die eines vor sechs Monaten gestorbenen Mandarins. Man betritt zuerst einen kleinen Vorraum, der von der Gasse nur[103] durch ein offenes Holzgitter getrennt ist; hier steht der Altar mit Joß, Kerzen, Statuetten, mit einer vollen Teetasse und einer Reihe Tellerchen mit Bonbons als Opfer für den Toten. An den zwei anderen Wänden hängen lange Leinwandstreifen mit Klagesprüchen darauf, die meistens damit schließen: »Bald werden wir dich im andern Leben wiedersehen.« Von der Decke hängen lustige bunte Lampen herunter mit Schmetterlingen und künstlichen Blumen. Hinter diesem Vorraum, wieder durch ein Holzgitterwerk abgetrennt, welches zwei Eingänge dorthin öffnet, ist der Raum, wo der Sarg steht, gerade hinter dem Altare; daneben ist rechts ein Lager mit Decken, als hätte der Tote es eben in der Nacht benützt, während links davon noch ein Lager steht, wo der Sohn des Mandarins nun seit sechs Monaten jede Nacht Wache hält. Die Särge bleibe in diesen Kapellen so lange, als die Hinterbliebenen sie ausstatten können; dann kommen sie in den Beerdigungsgrund außerhalb der Stadt. – Gegenüber vom Eingang stehen auf breiten Streifen die Titel und Würden des Verstorbenen, sowie besonders ehrende Erlebnisse desselben, wie zum Beispiel, wenn er mit dem Kaiser ein Gespräch gehabt hat. Ihr Gebet spreche die Hinterbliebenen, dem Sarge abgewandt, am Eingang der Sonne zu.
Sonnabend, 23. April.
Wong Jew ging fort, um sich fein für den Abend zu machen, denn wir sollten mit ihm in ein chinesisches[104] Restaurant, wo er uns ein Diner geben wollte, das wir übrigens für uns doch bezahlten. Um sechs Uhr kam er wieder, in einem hübschen weißen Crêpe-de-Chine-Überkleid und seidenen Höschen, mit einem Fächer und hübschen Pantoffeln. Wir folgten ihm nach dem in der Nähe an einem Kanal befindlichen Restaurant, wo wir einen der komischsten Abende verleben sollten. Durch enge Gänge und Treppen kamen wir in den zweiten Stock, wo in einem dreiteiligen Zimmer mit Balkon nach dem Kanale zwei Freunde Wong Jews und zwei kleine Dämchen sich eingefunden hatten. Die letzteren hatten sich fein kostümiert, graublaue Obergewänder mit breiten schwarzseidenen Doppelrändern, feine Pantoffeln, die Frisur von einer namenlosen Kunstfertigkeit, ganz glatt aus der schmalen spitzen Stirne gestrichen, und zwar so, daß sie an den Ohren eine Wulst bildeten, während sie hinten in einem Schopf enden, der mit allerhand Schmuck bedeckt ist; an den Ohren zarte Ohrgehänge, meistens Silber mit den Fischreiherfedern. Das Gesicht ist höchst gepflegt, die kleinen Härchen sind alle wegrasiert, die Augenbrauen mit einem Kohlenstrich in hohem Bogen gemalt, die Wangen besonders geschminkt, und diese Damen sehen mehr wie Masken als Menschen aus; es gibt wohl manche hübsche unter ihnen, aber in der Regel sind sie nichts weniger als anziehend, besonders infolge ihrer starren Leblosigkeit. Sie sind das gerade Gegenteil der Japanesinnen, die so zutraulich, heiter, graziös und lebendig sind. –[105]
Es erschien allmählich eine nach der andern, und schließlich waren ungefähr zehn solche Mädchen versammelt, die uns Kurzweil bringen sollten. Diese bestand aber darin, daß sie um einen runden Tisch saßen, sich gegenseitig arrangierten, falls etwas am künstlichen Bau gestört war; daß sie sich in einem kleinen Taschenspiegel besahen und Zigaretten anzündeten. Die Männer kümmerten sich kaum um sie und jene auch nicht um die Männer; wir zwei wurden starr angestaunt. Wir gaben ihnen die Hand und suchten diesen Mienen ein Lächeln zu entzaubern. Doch wollte es nicht gelingen. Wir setzten uns kühn an den Tisch und versuchten unermüdlich weiter, diese Wesen zu wecken. Gott sei Dank brachten wir es so weit, daß eine von ihnen mit gebrannten kleinen Bohnenkernen, wie die Chinesen sie gern knabbern, ein Bombardement gegen uns eröffnete, was wir natürlich eifrigst erwiderten, um ja nicht den mühsam entfachten Funken wieder ausgehen zu lassen. Ganz allmählich regte sich dann eine andre, die, zu welcher mich der Führer vor einigen Tagen zum Tee geführt hatte. Sie begann unsre Toiletten zu mustern; besonders bewunderte sie mein blauseidenes Taschentuch aus London, und da sie mich darum bat und ich dadurch ihre Lebendigkeit anzufachen hoffte, schenkte ich es ihr; sie packte es gierig, roch daran, wozu sie ein mißbilligendes Gesicht machte, und steckte es ein. Wie war ich enttäuscht; sie blieb, wie sie war, und mein Taschentuch war weg.
»Musik!« rief uns Wong Jew. Wir bekamen einen[106] Höllenschrecken; es war zu spät: der Radau ging los. Ein Mädchen nach dem andern sang oder quietschte sein Lied, wozu es auf einem hohlen Holzklotz ohrenzerreißende Schläge tat; dazu Mandolinen und eine kreischende Oboe. Der Lärm war derart, daß wir gleich ein Mordskopfweh bekamen; wir zogen uns in die zweite Abteilung des Zimmers zurück, wo auf geflochtenen Lagern Opium geraucht wurde. Wong Jew forderte uns auf, auch zu rauchen, und jeder von uns tat einige Züge aus der Pfeife, ohne ihr Geschmack abgewinnen zu können. Die Lippen brennen etwas, und man wird in den Rauch eingehüllt, dessen Geruch mir jetzt ganz widerwärtig geworden ist. –
Die Radaumusik dauerte endlos, wir wurden halbverrückt und konnten sie doch nicht hemmen, denn die andern fanden es herrlich. Was müssen diese Menschen nur für Ohren haben! Wir sehnten das Essen herbei, und schließlich kam es auch heran, nachdem ausradaut worden war; für die Katzenmusik mußten wir diesen blöden Dingern einen Dollar zahlen. Das Esten kam; wir fünf Männer setzen uns um einen runden Tisch auf Bambusstühle in der hinteren Abteilung des Zimmers. Die Mädchen aßen nicht mit; sie setzten sich hinter uns und guckten uns zu. Ihre einzige Teilnahme bestand darin, daß sie alle Minuten nacheinander auf unser Wohl Birnenwein tranken und zwar aus winzigen Gläsern, von denen man im Verlaufe des Diners ungefähr zwanzig bis dreißig leerte. Das Getränk ist ganz gut; beim Zutrinken[107] mußte man höchst feierliche Gesichter machen und »schin-schin« sagen. – Das Diner begann; auf dem Tische standen in kleinen Schalen grüne (durch hermetisches Schließen so gewordene) Gänseeier, eine chinesische Spezialität, Oxtail und Orangenschnitten. Wir mußten mit den zwei Stöckchen essen, was uns anfangs nicht recht gelingen wollte, bis wir es allmählich zu einer annehmbaren Virtuosität darin brachten. Das war nun der erste Moment, wo diese dummen Dinger gelacht haben, als sie unsre Ungeschicklichkeit gewahrten. Als zweites Gericht folgten Haifischflossen, mit anderm Zeug in einem Tiegel zusammengepantscht; es schmeckte ausgezeichnet, und mein Nachbar zur Rechten, ein liebenswürdiger, etwas schmächtiger junger Mann, füllte mehrmals mein Schälchen, während Element sich vor Überladung seines gekränkten Magens in acht nehmen mußte. Die Flossen sind in lange dünne Fasern geschnitten.
Immer in den Pausen meldeten sich die durstigen Damen und tranken die Runde. Wong Jew spielte den liebenswürdigen, stolz bewußten Gastgeber, indem er uns über die Speisen und deren Zubereitung auf das genaueste unterrichtete. Der dritte Chinese versuchte auch eine englische Konversation zusammenzustoppeln, aber da wir keine Silbe davon verstanden, halfen wir uns mit unaufhörlich lächelnder Miene. – Herein kam der dritte Gang, Chinas größte Delikatesse: »Vogelnester«. Wir waren etwas enttäuscht, es schmeckte einfach nach gar nichts; trotzdem habe ich davon für Wahnfried mitgenommen,[108] weil es eben so knallberühmt ist. Es folgten famose Frösche, reizend hergerichtet; sie schmeckten fast wie Huhn. Dann kamen Ente und Taube, Fischgehirn, Schnepfe mit Kastanien, ein herrlicher Fisch, zuletzt Süßigkeiten, die hier ganz köstlich sind, meistens gefüllt mit Jam, Nüssen oder Kokoskompott; sie sehen auch so nett und sauber aus wie alles, was dieses Volk macht. Man stand auf und setzte sich nebenan, um zu rauchen; Wong Jew rauchte Opium, wir zwei saßen in seiner Nähe und wurden allmählich von der Mädchenschar umringt, die alles, was wir anhatten, musterten; ja eine, die sich als recht frech entpuppte, musterte meine Strümpfe und Waden, wofür ich sie damit strafte, daß ich sie an ihren Ohren zupfte. Clement fuhr sie in die Haare, doch geschah dies alles immer so unspaßhaft, daß man kaum zu lachen wagte.
Um den Abend nicht so enden zu lassen, faßte ich einen großen Beschluß, nämlich Ballett zu tanzen. Ich kündigte europäische Tänze an; alles gruppierte sich auf Stühlen, Clement und ich bekamen krampfhafte Lachanfälle, und ich ging los mit meinen gewohnten »pas«. Es machte großen Eindruck, und die Mehrzahl der Gesichter starrte mich ernst an, während nur einige für sich kicherten. –
Wir setzten uns nochmals an den Eßtisch und bekamen laues Reiswasser; wir fanden es schauderhaft, rühmten es aber natürlich laut. Dies war der Abschluß des Abends; wir wuschen die Hände und gingen fort, ohne[109] daß diese kleinen Gänse einem nur adieu gesagt hätten; sie liefen einzeln hinaus, um andern Gästen im Restaurant ihre geistvolle Gesellschaft zu leisten.
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