II. Schülerjahre
Pforte, Ostern 1862 bis 9. September 1867

[61] Als Untertertianer trat ich in die unterste Klasse der königlichen Landesschule, die man sprachwidrig Schulpforta nennt. Aus der Einsamkeit unter eine Menge von älteren und gleichaltrigen Knaben versetzt, hatte ich es nicht ganz leicht, gab Anlaß zu Hänseleien und machte das Heimweh durch. Aber das war überwunden, als es in die großen Ferien ging. Bei meiner ungleichen Vorbildung galt es manche Mängel zu überwinden; im Griechischen war ich bei der Aufnahmeprüfung durchgefallen. Aber das ward geschafft. Zum Winter kam ich nach Obertertia, und da noch halbjährliche Versetzung bestand, berechtigten meine Klassenleistungen die Hoffnung darauf, auch diese Klasse in einem Semester durchzumachen. Ich habe später erfahren, daß die Lehrer es erwogen. Aber sie entschieden, der Junge soll einmal etwas Gutes leisten, aber es ist Gefahr, daß er übermütig wird. Sie gaben mir also als Prämie »Guhl und Koner, Leben der Griechen und Römer«1, und versetzten mich nicht. Schon allein für diese Entscheidung muß ich die tiefste Dankbarkeit empfinden, die zugleich spornte, indem sie die Zügel anzog, was ich sehr nötig hatte. Dann ist in regelmäßigem Gange das Ziel erreicht worden. Von Übertretungen der Schulordnung und den entsprechenden Strafen, auch solchen, die ich als ungerecht schwer ertrug, rede ich ebensowenig wie von Erfolgen. Nur die Schule will ich schildern, ihr und meinen lieben Lehrern meine Dankbarkeit bezeugen. Vor einigen Jahren sammelte ein Buch2 Urteile über die eigene Schulzeit; da lehnte ich es aus Ehrfurcht und Pietät ab; es käme mir so vor, als sollte ich über mein Elternhaus ein Urteil abgeben. Jetzt soll nun diese Pietät zu Worte kommen. Als ich nach 5 1/2 Jahren Abschied nahm, war mir das Herz schwer, ich gelobte mir, der Pforte mein erstes großes Buch zu widmen und habe 1889 dies Gelübde erfüllt: almae matri Portae v.s.l.m. Ich erwog, ob ich darunter setzen sollte quod spiro et placeo, si placeo, tuumst. Das hole ich jetzt nach.[62]

Schildern will ich die Pforte, wie sie zu meiner Zeit war. Die Alumnen werden vielleicht meinen, ich könnte es nicht ordentlich machen, weil ich Extraneer war, d.h. in Pension bei einem Lehrer, nicht im Alumnat, also dem gemeinschaftlichen Leben des Cötus im Schlafsaal, dem Cönakel, den Arbeitsstuben fremd blieb; schon manche Bezeichnungen verraten, daß aus dem Kloster der Zisterzienser 1543 eine Lateinschule geworden war. Gewiß wird meinem Berichte manches fehlen, allein ich habe mich immer zu den Alumnen gehalten und wäre am liebsten einer gewesen, womit ich nicht sagen will, daß die Zulassung von 20 extranei verkehrt gewesen wäre, im Gegenteil; ich halte die Abschaffung dieser Zulassung für töricht und schädlich. Die Alumnen haben volle oder halbe Freistellen, kommen daher meistens aus wenig bemittelten Familien: da bekam die Vermischung mit den oft reichen Pensionären beiden Teilen gut; auch Ausländer sind in früheren Zeiten so nach Pforte gekommen. Der Staat vergab über die Hälfte der Alumnatstellen und konnte so seinen Beamten, die an ihrem Wohnort den Kindern die gewünschte Bildung nicht zu geben vermochten, und auch kinderreichen Familien vom Lande zu Hilfe kommen. Eine strenge Auslese durch die Aufnahmeprüfung konnte vor Mißbräuchen schützen. Jeder Alumnus mußte abgehen, wenn er in derselben Klasse zum zweiten Male sitzenblieb; wir nannten das »wegen Dummheit geschaßt werden«. In Wahrheit müßten geschlossene Anstalten ähnlicher Art fern von den Städten für die Kinder der Landbewohner in viel größerer Zahl bestehen. Schulen in Großstädten sind für die Eltern bequem, für die Kinder gefährlich. Aber das Land ist schon lange in Preußen gegen die Städte zurückgesetzt worden, hat allerdings die Zeit versäumt, wo es sich hätte erfolgreich wehren können, aber damals steckte dort noch zuviel von ständischen Vorurteilen und Gegensätzen.

Die hohen Klostermauern schlossen von der Welt draußen ab, schlossen eine kleine Welt für sich ein. Selbst mit dem Hofe des Oberamtmanns, der das zugehörige Landgut verwaltete, auch wohl die Verpflegung besorgte, war keine Verbindung für die Schüler. Hinaus kamen die Primaner täglich nach dem Mittagessen anderthalb Stunden, die andern nur Sonntags. Die ersteren stürmten meist zu ihrer Kneipe nach Almerich, die andern, wenn sie es dazu hatten, nach Kösen in eine Konditorei. Größere Spaziergänge in die schöne Umgegend unter Führung eines Lehrers waren selten und wenig beliebt. Von außen drang kaum etwas zu uns, Zeitungen nie. Um so wichtiger ward das Leben drinnen, fest geregelt und gerade dadurch nicht eintönig, denn die Regel sorgte für Abwechslung. Zwar der Vormittag gehörte ganz der Arbeit. Früh fing er an; die Alumnen standen im Sommer um 5, im Winter[63] um 6 auf und mußten alle in den Waschsaal gehen, den Rektor Peter meiner Mutter mit Stolz als eine neue Errungenschaft zeigte; jetzt hat man sich entsetzt, daß die Jungen, halb angezogen, einen ziemlich langen Weg über Treppen und Korridore hatten. Nach dem Frühstück, zu dem die Unteren (Tertianer) die mächtigen Krüge mit Milch und die runden Brote holten (von beidem gab es sehr reichlich, auch einen Stich Butter), ging es in den Betsaal, dann in die Klassen. Schulstunden waren nicht zahlreich, immer lagen erholsame Arbeitsstunden dazwischen. Nach dem Mittag mußten alle in den Schulgarten, bei Regen in den Kreuzgang. Kopfbedeckungen durften innerhalb der Mauern nicht getragen werden. 2–4 Unterricht, 4–5 Schulgartenfrei, dann Arbeitsstunden, Abendessen, zur Andacht in den Betsaal, um 9 ins Bett, nur die Primaner blieben bis 10 auf.

In dem schönen großen Schulgarten hat noch jetzt jede Klasse ihre besonderen Bänke, ein Stück Wald am Abhange des Berges, ihre Kegelbahn. Schattige Alleen umsäumten den Turnplatz, den viele in den Freistunden gern benutzten, auch zum Gerewerfen. Auf ihm spielten groß und klein Barlauf, auf dem großen Rasenplatze davor mit besonderem Eifer Ballspiele. Eine geräumige Turnhalle diente auch als Festraum und faßte doch kaum die Gäste, die sich bei diesen Gelegenheiten einfanden.

Wenn sonst kein Feiertag war, gab es in der Woche einen Tag ohne Schulstunden, Ausschlafetag genannt, weil das Leben eine Stunde später begann. Der Vormittag und die Stunden 2–5 gehörten der freien eigenen Arbeit, dann genoß man die Erholung in mannigfachem Spiel. Dieser freie Tag war unser besonderer Vorzug, ihm verdankten wir die Ausbildung zu eigener Tätigkeit, zur geistigen Beschäftigung nach freier Wahl. Es mag sein, daß die Kleinen mit der Muße noch nicht recht etwas anzufangen wußten, das Stillsitzen ihnen schwer fiel. Irre ich nicht, so waren für sie Schach und ähnliche stille Spiele zur Abwechslung gestattet. Aber für die Älteren war der Segen unschätzbar. Es galt ja nicht nur die häuslichen Schularbeiten zu bewältigen, auch nicht nur die geforderte oder erwartete Privatlektüre zu treiben, lesen mochte jeder nach freier Wahl, er durfte wohl auch zeichnen. Unsere Vertrautheit mit unseren deutschen Klassikern war nur durch die Ausschlafetage möglich gemacht, die Institution der Privatlektüre auch, die den Ausfall so vieler Unterrichtsstunden und überhaupt deren geringe Zahl allein rechtfertigt. Wir lasen von antiken Schriftstellern was wir wollten; manches wie die Homerlektüre war auch vorgeschrieben. Zur Kontrolle ging man zu dem betreffenden Lehrer, meldete an, was man gelesen hatte, und er prüfte je nach seinem Belieben. Es war keine kleine Belastung der Lehrer,[64] die doch sonst von der Freizeit denselben Vorteil hatten wie wir. In der Prima ließ diese Kontrolle nach. Man sollte im Tacitus und Horaz viel weiter Bescheid wissen, als die Klassenlektüre führte, aber das meldete niemand bei Peter mehr an; er betrachtete es als selbstverständlich. Die deutsche Lektüre ward nicht angemeldet und kontrolliert, ein Fehler; es würde auch die Beschäftigung mit historischen Werken leicht gesteigert haben. Daran ließ ich es auch fehlen, vom Altertum abgesehen, während ich von Lessing auch die polemischen Schriften mit Leidenschaft las, vom Vademecum für den Pastor Lange bis zum Antigötze. Für das, was man mit einem zu hochgegriffenen Namen Weltanschauung nennt, ist Lessing mir der erste bestimmende Führer gewesen.

In den fünf Wochen der großen Ferien mußten alle Schüler fort; daß alle zu Weihnachten auch nach Hause fahren konnten, bewirkte eine Hilfskasse, zu der jeder, der es konnte, beitrug. Selbst Ostern blieben wir in Pforte und füllten die freien Tage so gut es ging. Auch Michaelisferien gab es nicht; sie ersetzten die Examina, denn jedem ward nach jedem Semester vor dem versammelten Cötus unter Anwesenheit aller Lehrer von seinem Ordinarius seine Zensur mündlich mit aller Kritik erteilt, was mehrere Tage in Anspruch nahm. Am feierlichsten war die Valediktion: da trat jeder, der nach bestandenem Abiturientenexamen in Ehren abfahren sollte (die Wagen standen am Tore), auf das kleine Katheder und sprach seine Abschiedsworte, so wie es ihm ums Herz war oder schicklich schien. Der neue primus omnium hielt für den Cötus die Antwortrede.

Das Schulfest am 21. Mai brachte außer dem bunten Treiben des Nachmittags (Buden mit Leckereien, Tanz auf dem Rasen) den feierlichen Aktus, bei dem alle Klassen mit Rezitationen auftraten, ein Obersekundaner mit einer lateinischen Rede, ein Primaner mit einer deutschen, ein anderer mit einer lateinischen Elegie. Zu ihr berufen zu werden war die höchste Ehre, und sie ward im Archiv der Schule aufbewahrt. Eine Prüfung dieser Verse von den Anfängen bis zu dem Erlöschen der Fähigkeit dazu3 dürfte belehrend sein. Paul Deußen hat die seine drucken lassen; ich hoffe, daß es der meinen nicht widerfährt. Zuletzt wurden die Prämien verteilt, niemals an einen der Vortragenden; die hatten Auszeichnung genug. Von anderen Festlichkeiten, den Auszügen zum »Bergtage« auf den Knabenberg, Besuchen der Saalhäuser, um sich in dem Weinberge der Schule an Trauben satt zu[65] essen (die Alumnen erhielten auch manchmal von dem gekelterten Weine), sei mit der Nennung genug gesagt. Auch des Primanerballs, zu dem der Amtsrat seine Zimmer hergab, sei nur Erwähnung getan, weil man nicht erwarten wird, daß durch alle Klassen Tanzstunden gingen, zu denen der Lehrer aus Naumburg kam; für die Tertianer hieß es Anstandsstunde. Wir lernten allerhand künstliche Tänze, die doch niemals ausgeführt wurden. Ein Musikdirektor war neben dem Lehrerkollegium angestellt, er bildete einen Chor aus, der im Winter öfters Konzerte veranstaltete. In vielen Klassenzimmern standen Klaviere und übten die Musikalischen in den Arbeitsstunden; aber wer bei der Aufnahme die Musikprüfung nicht bestand, war für immer von dem Unterrichte ausgeschlossen. So hatte die Musik nicht die Bedeutung, die ihr zukommt. Zu Fastnacht spielten wir unter der Leitung Kobersteins Theater in der Turnhalle, die von Zuschauern gedrängt voll war. Kostüme, schmutzig und zerlumpt, kamen vom Stadttheater aus Halle. Dekorationen fehlten. Trotzdem ward mit Recht das Höchste gewagt, keineswegs erfolglos. Heinrich IV., wo mich als Prinz Heinz ein vortrefflicher Falstaff ausstach, Egmont ohne weibliche Rollen machten den stärksten Eindruck. Ganz anderer Art war ein eigentümliches Schwimmfest. Wir gingen, sobald es die Witterung zuließ, statt der nachmittäglichen Arbeitsstunden zum Baden an die Saale; erprobte Primaner waren die Schwimmlehrer, und die große Schwimmprobe, dreimal von Ufer zu Ufer zu schwimmen, ohne sich von der starken Strömung fortreißen zu lassen, war keine Kleinigkeit. Im Spätsommer zogen die Freischwimmer flußauf zu den Saalehäusern, sprangen schon gruppenweise in die Saale und zogen dann militärisch geordnet, an der Spitze der Träger der Schwimmfahne, Wappen ein grüner Frosch, hinter Musikanten auf einem Kahne nach der Badeanstalt. Die Ufer waren bedeckt mit den Kösener Badegästen, von denen manche borniert genug waren, an den nackten Knabenleibern Anstoß zu nehmen. Die »Knaben«, wie wir Pförtner noch allgemein hießen (unser Berg heißt noch Knabenberg), waren weithin beliebt, und wenn wir an den zwei ganz freien Tagen (dritter Oster- und Pfingstfeiertag) weithin bis Kamburg oder Freiburg gelangten, fragten die begegnenden Weiblein freundlich: »Seid ihr Knaben?« Die vom Naumburger Domgymnasium waren Gymnasiasten; mit ihnen gab es keine Berührung.

Hier sei die Erinnerung an einige längst verschwundene Gebräuche festgehalten. Wenn im Herbst das Examen zu Ende war, putzten die Tertianer eine Strohpuppe zu einem Lumpenmatz aus und steckten ihn an eine Stange: das war der Examenmann. Aufgestellt ward er im alten Klostergarten, der nur den Primanern vorbehalten war, die sich in ihm versammelten; einer[66] hielt dem Examenmann eine Standrede, manchmal in Versen, wobei Ereignisse des abgelaufenen Jahres sehr freimütig behandelt wurden. Der übrige Cötus stand in den Kreuzgängen; die Adjunkten hörten wohl oben aus ihren Fenstern zu, aber das war und blieb geheim. Dann ward der Examenmann in feierlichem Zuge an die Mühle getragen und in die kleine Saale geworfen. Die Tertianer hatten ihre Nachthemden übergezogen, führten Gerten, um den bösen Examenmann zu strafen. Manche Schläge trafen auch andere, wurden erwidert, großes Gejohle, einzeln Wehgeschrei, schließlich allgemeine Fröhlichkeit. Kein Zweifel, daß ein sogar altgermanischer Festbrauch zugrunde lag, der ursprünglich mit dem Abschluß der Ernte und dem Zauberritus für das folgende Jahr Fruchtbarkeit bewirken sollte. Unverantwortlich, daß ein solcher Brauch mit dem harmlosen Spiele abgekommen ist; vermutlich fand ihn pädagogische Borniertheit nicht mehr zeitgemäß oder hatte ein dummer Bube zu wenig Schläge bekommen.

Vor den großen Ferien zogen die Alumnen stubenweise in den Wald und holten Laub. Die Stubentüren wurden ausgehängt und zwischen den Kränzen Bilder und Gedichte angeklebt, in denen sich die Stimmung über alles frei äußern durfte, bis eine Visitationskommission aus dem Ministerium kam, der mächtige Wiese an der Spitze. Das gab Aufregung bei Lehrern und Schülern. Nun stellte ein vortreffliches Bild dar, wie das »große Tier«, ein Löwe, in dem schönen Auditorium der Oberprimaner auf dem Katheder stehend seine Huldigung empfing. Aus dem Gedichte weiß ich noch den Vers »voll ward Betsaal nun und Kerche, und selbst der dicke Kerl sang wie 'ne Lerche«. Es war der Spitzname von Koberstein, der sonst auf den Kirchgang zu verzichten pflegte. Tagelang hing das Bild an der Tür; plötzlich war es verschwunden. Nach dem Zeichner und Dichter wurde gefahndet, natürlich vergeblich. Das Ankleben ist seitdem nicht mehr erlaubt worden. Wir waren überzeugt, daß der Befehl von Berlin gekommen war, unsere Lehrer wider ihre Neigung gehandelt hatten, vollends als nach den Ferien der Schuldige bekannt geworden war und aus der Schule gestoßen ward. Ein Schüler war von seinem Vater, einem pommerschen Pastor, gezwungen worden, den Namen zu gestehen, und der Vater hatte ihn offiziell angegeben. Das war nichts anderes als ein Bruch des Beichtgeheimnisses, und unser gesundes sittliches Gefühl war auf das tiefste verletzt. Nur das stand uns fest: unsere Lehrer konnten nicht anders empfinden als wir.

Eine keineswegs erlaubte, aber freundlich ignorierte Zeremonie erwartete die Kleinen, sobald sie aufgenommen waren. Die Obersekunda beschied sie auf ihren Platz im Schulgarten zur »Impfrevision«. Da stand der Arzt mit[67] Brille und schwarzem Bart, ein Heilgehilfe neben ihm. Die Prüflinge mußten einzeln vortreten, einige waren gewarnt, andere gewitzigt genug, den Spaß zu durchschauen, aber nicht wenige nahmen es ganz ernst. Der Oberarm mußte entblößt werden, die Pocken wurden geprüft, nicht alle genügten, dann machte der Heilgehilfe einen Schnitt, natürlich bei denen, die sich allzuschlau gebärdeten, aber auch manchen, die zu laut plärrten. Ich war gewarnt, aber doch verängstigt in der lachenden Menge. Ob der Brauch noch geübt ward, als ich Obersekundaner war, kann ich nicht sagen, ein Rest des alten Pennalismus, im Grunde harmlos. Natürlich haben die Kleinen den Oberen manche persönliche Dienste geleistet, mußten auch die Wasserkrüge am Laufbrunnen füllen u. dgl. Das hat ihnen nichts geschadet. Schutz aber gab dem einzelnen die Schulordnung, mehr als den Extraneern, wie ich es selbst erfuhr.

Die Weisheit der Lebensordnung, welche im Alumnat herrschte, war, daß sie, den Schülern Selbstverwaltung gewährte und damit durch Gehorchen zum Führen, zur Selbstverantwortung erzog. Vier saßen regelmäßig an einem Tische, der Obere, der Primaner, ein Sekundaner, zwei Tertianer. Natürlich gab es an manchen Tischen zwei Sekundaner, manchmal keinen Tertianer. Dann trauten die Lehrer dem Primaner nicht zu, daß er seine Pflicht erfüllen würde, sich richtig um den Kleinen zu kümmern, daß er an seinem Anzug und in seinem Schranke Ordnung hielte, die Schularbeiten machte, auch Nachhilfe bekäme und nicht allzuviel Allotria triebe. Die Tische wurden jedes Semester neu verteilt, aber oft blieb die Gemeinschaft, solange es möglich war, zusammen, drei, vier Semester, und die Freundschaft hielt selbst für das Leben vor, wie die beiden Mitglieder der Berliner Akademie, der Naturforscher Ehrenberg und der Philologe Meineke sich immer noch als Oberer und Unterer betrachteten. Für jede der 15 Stuben verantwortlich war ein Primaner, der Inspektor, und die 15 Inspektoren hatten überall, auf Korridoren, in Betsaal und Schulgarten für Ordnung zu sorgen, Vorgesetzte des ganzen Cötus mit Strafgewalt. Sie konnten den Tertianern nach mehrfachen Verstößen ein »Kapitel« auferlegen, d.h. das Auswendiglernen eines beliebigen Stückes, zunächst war an ein Cäsarkapitel gedacht; es hat auch einer das überlange Wort gewählt, in dem Aristophanes die Ingredienzien einer Pastete zusammenfaßt. Die Berufung in eine so mächtige Stellung geschah durch sorgsame Auswahl aus den Oberprimanern, die zahlreich genug waren, um Ungeeignete auszuschließen. Direkter Vorgesetzter der Inspektoren war der Hebdomadar, einer der Lehrer, der eine Woche lang dauernd innerhalb des Alumnates anwesend war und nach allem sehen sollte, eine aufreibende[68] Pflicht, von der nur einige der älteren Lehrer befreit waren. Irre ich nicht, so konnte der Hebdomadar schon auf Anzeige eines Inspektors in schwereren Fällen zu einer Karenz verurteilen: dann mußte der Schuldige fastend im Cönakel dem Mittagessen zusehen. Vielleicht stammte das noch aus der Mönchszeit; wenn auch sehr selten, kam es doch vor. Für alle schweren Sachen war die Synode zuständig, das Lehrerkollegium, das alle Sonnabende zusammentrat, denn auch der Rektor war nicht selbstherrlich. Es konnte bei dieser Verfassung nicht ausbleiben, daß die Primaner ein hohes Selbstgefühl hatten, der übrige Cötus zu ihnen aufschaute, und wenn sich auch manchmal mancher gedrückt fühlte, so hob ihn die Zuversicht, bald auch einmal regieren zu können, und die öffentliche Erteilung der Zensuren gab ihm Gelegenheit, auch die Herren Primaner gedemütigt zu sehen. Es bildete sich so immer eine ziemlich allgemeine Schätzung der Mitschüler, zumal der Primaner, und ein einzelner konnte in manchem den Ton angeben. Junge Lehrer haben es wohl mit den Primanern nicht immer leicht gehabt, da sie ihnen im Unterrichte viel zu selten gegenübertraten. Selbst ein eingeschobener Professor ist wohl zuweilen der Stimmung der Schüler gewichen.

Vorbedingung des Gedeihens war die Autorität der Professoren, besser die Hochachtung und die Liebe, die sie sich auch bei denen gewannen, die über ihre Schwächen lachten und sie gelegentlich mißbrauchten. Diese Vorbedingung war vorhanden; eine Folge davon, daß uns niemand imponierte, der von außen in die Schule eingriff, die Delegierten des Ministeriums oder der Schulrat, der zum Abiturientenexamen kam, ich glaube, ein verständiger und wohlwollender Mann. Aber wozu kam er? Ob einer reif oder unreif war, das wußte die Synode doch besser. Überhaupt das Examen. Dagegen hatte einst der alte Rektor Ilgen, W.v. Humboldts Freund, lange vergeblich protestiert; wir lebten des Glaubens, daß von uns mehr verlangt würde, als in den Examensvorschriften stand; ich habe tatsächlich als Thema des griechischen Skriptum eins bekommen, das ich in Obersekunda schon einmal bearbeitet hatte. Von einer beträchtlichen Anzahl der Abiturienten stand lange vorher fest, daß sie vom Mündlichen dispensiert werden würden. Über die anderen mochten die Lehrer sich rasch in den bedenklichen Fächern schlüssig werden. Überhaupt ist die ganze Examenspaukerei zu nichts nütze als höchstens zu Durchsteckereien, sie quält die Schüler und nimmt gerade die Zeit, welche am fruchtbarsten werden könnte. Die Kontrolle der unerprobten Lehrer, an die wir nicht dachten, weil die unseren sie längst überflüssig gemacht hatten, würde sich sehr viel wirksamer durchführen lassen, wenn[69] tüchtige Schulräte häufig und plötzlich erscheinend den Unterrichtsstunden beiwohnten.

Das Rückgrat des Unterrichts war noch immer das Latein, sein Hauptziel, die gelehrte Sprache im schriftlichen (seltsamerweise nicht auch im mündlichen) Gebrauche vollkommen zu beherrschen. Der lateinische Aufsatz war von Obersekunda ab ein Hauptstück, und er sollte ein schönes Latein, ciceronianisches enthalten. Erfolg, daß man sich Phrasen aneignete und, als man etwas von rhetorischen Figuren hörte, mit ihnen Mißbrauch trieb. Nicht in ihm, sondern in der Fähigkeit, wirkliches gutes Deutsch in gebildetes Latein umzudenken, lag die geistige Schulung, der ich einen unvergleichlichen Wert beimesse. Das ist eine exercitatio intellectualis, den exercitationes spirituales der Jesuiten vergleichbar. So wie Peter die Aufgaben stellte, wenige Sätze in einer Stunde, aber wirklich lateinische zu machen, das strengte so heilsam an, wie einem mathematischen Beweisgange zu folgen, was eine gleichwertige exercitatio ist. Keineswegs gering schlage ich die Übung in lateinischen Versen an. Zuerst kann das freilich eine kindliche Spielerei scheinen, die doch ernsthaft genommen ward; wir sollten womöglich einen gradus ad Parnassum haben; ich habe ihn noch, ed. Friedemann, Leipzig 1842, und habe ihn oft mit Nutzen für den poetischen Sprachgebrauch eingesehen. Mit seiner Hilfe klebten wir unsere Hexameter, dann Disticha zusammen, lernten doch schon dabei die Vokale als lang und kurz unterscheiden, gewöhnten uns an die ovidische feste Form des Distichons, die der Sprache ihre Bewegung einengt, lernten also Stil, und neben der periodisierten Prosa war das recht nützlich. Schließlich steigerte es sich dazu, daß man selbst Verse machte, also auch sich der Herrschaft über Sprache und Stil bemächtigte, oder vielmehr mehrerer Stile, denn die Ode in horazischen Maßen trat dazu. Sie war das Hauptstück im Examen der Unterprimaner; wer zuerst fertig war, durfte von seinem Unteren die Schulglocke läuten lassen. Das Übersetzen eines deutschen Gedichtes war auch hier in Wahrheit das bildendste und schwerste. Jetzt ist so etwas längst in Deutschland gar nicht mehr möglich. England weiß wohl, weshalb es anders verfährt; in Italien vollends, aber auch in Holland werden die lateinischen Verse ebenso in Ehren gehalten, ich kenne wirklich schöne Gedichte; Papst Leo XIII. hat diese Kunst geübt, und Pascolis lateinische Gedichte sind seinen italienischen ebenbürtig. Ich habe im Seminar mehrfach lateinische und griechische Verse machen lassen; die griechischen Trimeter gelangen rasch, die lateinischen Verse waren fast allen zu schwer. Formgefühl zu erwecken hatte die moderne Schule niemals erreicht, wohl nicht einmal versucht.[70]

Das Griechische war nicht mehr als ein Anhang zum Latein. Formenlehre ohne jeden Hauch von sprachwissenschaftlich orientierter Grammatik, Pauken der nutzlosen Akzente, nachher jene ungriechische, auf den unpassenden lateinischen Leisten geschlagene Syntax, alles erschwerte das Erlernen der durchsichtigen, also leichten Sprache. Auswahl der Lektüre ungeschickt, Xenophon immer weiter, Lysias, Arrian. Eine Rettung war erst, daß die Odyssee in der Untersekunda, die Ilias in der Obersekunda durchgelesen werden mußte.

Dafür wirkte die vom ministeriellen Lehrplan geforderte Rückkehr zu Homer in der Prima ermüdend; zu präparieren brauchte man nicht mehr; die Lehrer, die ich hatte, waren der Sache auch gar nicht gewachsen. Anregend und doch zu unsicher war nur ein Halbjahr bei Volkmann. Eine seltsame Forderung war ein Kommentar zu einem sophokleischen Chorlied, lateinisch geschrieben. Was sollte bei der halbphilologischen Behandlung eines Textes herauskommen, den die allermeisten ohne Hilfe nicht einmal grammatisch verstehen konnten. Offenbar hing dies damit zusammen, daß der Sophokles in einer schwer gelehrten, aber veralteten Ausgabe gelesen ward, die C.W. Neue 1831 als Pförtner Lehrer gemacht hatte. Nur wer die Privatlektüre aus eignem Antrieb so energisch trieb, daß er durch sie die nötige Sprachkenntnis erwarb, hatte vom Griechischen was es, vernünftig behandelt, allen hätte sein können. Aber es haperte bei den Lehrern selbst. Als ich zu H.A. Koch kam und meldete, ich hätte 8 Oden Pindars gelesen, bestellte er mich auf 14 Tage später.

Er wird ihn wohl zum ersten Male angesehen haben; bei einem Ritschelianer strenger Observanz kein Wunder. Mit vielem, das ich las, ging ich überhaupt nicht hin.

Man mußte sich vor dem Abgang allmählich entscheiden, was man werden wollte, wenn es nicht durch Familientradition, wie bei den vielen Theologen, oder durch fremden Einfluß vorgeschrieben war. Es gab zwei Gelegenheiten, von eigenen Gedanken und Bestrebungen eine Probe zu geben. Koberstein ließ jedes Jahr für einen Aufsatz das Thema frei; wir wußten, daß er wesentlich danach die einzelnen beurteilte, und sein Urteil war für die Allgemeinheit entscheidend. Ich verglich die Behandlung der Sage in der Edda und den Nibelungen, ohne Literatur, nur aus meiner Vertrautheit. Daß ich Sprachen und Literaturen, möglichst viele, kennenlernen wollte, stand mir lange fest, wo meine Philologie sich ansiedeln würde, durchaus nicht. Ich erhielt die 1; die letzte vor mir hatte Nietzsche bekommen. Noch bedeutsamer war die Valediktionsarbeit; wer eine solche machen durfte, war von allen schriftlichen Hausarbeiten im letzten Semester[71] frei4. Sie ward nicht zensiert, kam aber für die Befreiung vom mündlichen Examen in Betracht. Natürlich durfte es auch eine mathematische Arbeit sein. Diese Schriftstücke sind im Archiv; auch sie zu prüfen wird sich lohnen, wenn man nur nichts druckt. Sie werden von dem Ernste des Strebens Zeugnis ablegen, zugleich von der Freiheit, die uns die strenge Schule ließ, eine rechte alma mater.

Die Stellung des Deutschen kann nur in Verbindung mit der Person von Koberstein gekennzeichnet werden. Arbeit war dafür nicht viel nötig; von Stilistik hörten wir nur für das Latein, in der eigenen Sprache mußte man sich selber bilden, und gerade Latein ist dazu nicht förderlich. Griechisch oder Englisch, so stark ihr Gegensatz ist, können beide, am besten nebeneinander, unser Deutsch von der journalistischen Vermauschelung oder Verrohung erretten.

Die Mathematik verlangte zum Heile stramme Arbeit. Die große mathematische Hausarbeit jedes Semesters war nur mit vollem Einsatz der Kräfte zu bewältigen. Mathematik ist eben die rechte Ergänzung des sprachlich-grammatischen Unterrichts und die beste Propädeutik für Philosophie, die auf die Schule nicht gehört. Wozu wir sie lernen mußten, wußten wir nicht, aber lernen mußten wir sie. Es gab natürlich einzelne, die bei sonst hervorragender Begabung hier versagten. Wo die Phantasie vorwaltet, kann ich mir's denken, aber daß echte tiefe Wissenschaft ohne die Fähigkeit, die Geometrie zu begreifen, erreichbar sein sollte, vermag ich nicht zu glauben. Freilich muß man einen Lehrer haben. Ich war sehr befriedigt, als Felix Klein mir seine Überzeugung aussprach, bei einem richtigen Lehrer lernten alle das Nötige, und Karl Bardt mir versicherte, am Joachimstal hätte es einen solchen Lehrer gegeben.

Durch das Latein und die Mathematik bildete die Schule ihre Knaben, was dazu kam, blieb demgegenüber unwesentlich. Heute mag die Einseitigkeit Entsetzen erregen. Da haben so viele dies und das, weil es nützlich sein kann, in den Lehrplan der Schule geschoben, so daß ziemlich alles gelernt werden soll; natürlich geschieht es so, daß der vollkommene Abiturient von heute der griechische Margites wird, auf den der Vers gemacht ist: »Viele Künste verstand er, doch schlecht verstand er sie alle.« Gewiß waren die Mittel, mit denen die alte Schule bildete, durch die Tradition gegeben, die unentbehrliche Mathematik dank Platon, das Latein, weil es uns einst alle[72] und jede Bildung gebracht hatte. Das war Rechtfertigung genug; in abstracto hätte man anderes wählen können. Gelernt ward das Latein freilich nicht mehr um seiner selbst willen, sondern weil es dem vorzüglich diente, was uns die Schule mitgab: arbeiten hatten wir gelernt, selbständig arbeiten, denken hatten wir gelernt, indem wir verstehen lernten, was und wie andere gedacht hatten, am besten durch das Umdenken von einer Sprache in die andere. Zugemutet ward uns nicht, Dinge zu verstehen, für die wir noch nicht reif waren, gerade weil wir, was uns vorgesetzt ward, ganz verstehen sollten. Vorschwatzen, Vorkauen mag man manches, von platonischer und kantischer Philosophie, von Staatsrecht und Verfassungen, womöglich von Wirtschaft, ästhetische Theorien und eine oder gar mehrere Weltanschauungen zur Auswahl feilbieten. Damit gibt man nur unverdauliche Kost, lehrt sich mit halb Verstandenem begnügen, nachschwatzen und was noch schlimmer ist, eigenes Geschwätze für Gedanken halten. Eine solche Erziehung ist nur dann geeignet, wenn das Ziel ist, Journalisten und Parlamentarier zu erzeugen, Menschen, deren Beruf es ist, über Dinge abzuurteilen, die sie nicht verstehen. Von der Jugendbildung, die einst an die griechische Philosophie anknüpfte, schwenkt man ab zu der Rhetorik der römischen Kaiserzeit, die an dem Untergange der Kultur eine Hauptschuld trägt. Damals lernte man wenigstens noch reden; wozu die Margitesschule befähigt, das läßt sich nur grobianisch treffend bezeichnen: Klugscheißer erzieht sie. Lagarde hat einmal Themata deutscher Aufsätze zusammengestellt, die zu seiner Zeit gegeben wurden: was würde er erst sagen, wenn er die Themata aus den heutigen Schulprogrammen zu Gesichte bekäme. Ihre Früchte faulen, ehe man sie bricht. Ungeheuer aber sind die sittlichen Gefahren. Mit 18 Jahren hat der Mensch keine »Weltanschauung«, wehe, wenn er es sich einbildet, sich einbildet fertig zu sein. Die Schule tut was sie kann, wenn sie ihn fähig macht und ihm den Trieb dazu einpflanzt, sich allmählich zu einer festen inneren Stellung zu Gott und Welt, auch zum Staate, durchzuarbeiten. Der beste Trost ist, daß in unserer Jugend trotz allem die gesunde Kraft steckt, in heißer freier Arbeit den Unsinn auszuschwitzen und den rechten Weg selbst zu finden. Und Lehrer gibt es auch immer noch, die trotz allen Richtlinien nach eigenem Können und Wollen das Rechte richtig lehren.

Die Schule entließ uns äußerlich völlig unvorbereitet für das bunte wirre Leben; leicht wird es manchem nicht geworden sein. Für die Universität entließ sie uns so vorbereitet, daß uns das Niveau mancher Vorlesungen zu tief war. Aber die Stille hatte nicht nur das Talent gebildet: das Leben in einer engen, aber in sich geschlossenen Welt bildete auch den Charakter.[73] Gehorchen und Befehlen, wie es der Soldat lernte, vom Rekruten zum Unteroffizier. Kein Zufall, daß unter den alten Pförtnern viele hervorragende Generale sind.

Ein schwerer Mangel muß aber auch an dem alten Schulbetriebe gerügt werden. Sehen lernten wir nicht, wir lernten nicht lesen in dem großen Buche der Natur. Die Berge und die Wasser, Pflanzen und Tiere, und die Sterne am Himmel blieben uns fremd, fremd blieb auch die Menschenerde. Geographie war ganz vernachlässigt; ich glaube, daß Reisebeschreibungen gar nicht gelesen wurden. Fremd blieb alle Kunst außer der des Wortes. Lebendige Anschauung gewannen wir von gar nichts. Naumburg war so nahe: niemand hat uns auch nur ein Wort davon gesagt, daß die herrlichsten Werke deutscher Plastik jeden Sonntag für uns erreichbar waren. Selbst unsere Kirche, unser Kloster blieb uns fremd, bis Corssen sein anmutiges Buch darüber schrieb. Der Zeichenunterricht leistete als sein Höchstes, daß eine riesige Kugel durch Schattierung den Eindruck plastischer Erscheinung erhielt – wieviel Semmelkrume und Kohle dazu verbraucht war, ist nicht auszudenken. Nichts Lebendiges legte dieser Unterricht dem Schüler vor. Ärzte sind nicht wenige von meinen Mitschülern geworden, schwerlich einer ein Biologe. Wenn das Griechische ordentlich betrieben würde, könnte es hier ebenso wie in der Mathematik sich mit der Naturwissenschaft verbinden, haben doch die Griechen beides geschaffen, die Lateiner keins von beiden verstanden.

Ich habe mich bemüht, die Institutionen zu schildern, weil ich meine, daß sie nicht nur als Erscheinungen der Vergangenheit Wert haben, sondern die Erfolge der Erziehung erklären, für die bei uns alten Pförtnern eine so tiefe Dankbarkeit herrscht. Wenn die Vereinigung von klösterlicher Abgeschiedenheit mit Selbstverwaltung nicht zerstört wird, darf gehofft werden, daß der gute Geist der Pforte die gegenwärtige Krise so wie alle früheren übersteht. Wenn sie Knaben bleiben, werden sie Männer werden, Männer, wie sie das Vaterland bitter nötig hat. Aber die Institutionen fordern eine besondere Pförtner Lehrerschaft, und daß wir sie hatten, war unser besonderes Glück. Neben dem Rektor standen die alten Professoren, die seit Jahrzehnten in ihren hübschen Häuschen und Gärtchen ihr stilles Leben führten; ein Pförtner Professor ging nicht wieder fort, wozu auch seine äußere Stellung beitrug. Unter ihnen standen die Adjunkten, jüngere Lehrer, die noch wechselten. Daß alle sich die Doktorwürde erworben hatten, war selbstverständlich. Und nun muß ich pietätvoll, aber wahrhaft meine Lehrer charakterisieren. Ich habe die alte Photographie aufbewahrt, die dieses Lehrerkollegium[74] zeigt: sie steht vor mir und ich schaue die verehrten Gestalten und ihre Stimmen tönen in meinen Ohren.

Carl Peter, der Rektor, hat den Vortritt. In seinem Hause habe ich gelebt und ihm meine Dissertation gewidmet. In meiner fahrigen und leidenschaftlichen Art, auch in meinem Lernen, das etwas von πουλυμαϑημοσύνη an sich hatte, war vieles, was ihm antipathisch war; Mißstimmungen blieben nicht aus, aber das ward durch seine Güte und meine Verehrung immer wieder ausgeglichen. Schon auf dem ersten Wege nach Bonn trieb es mich, ihn zu besuchen, wo er gleich sehr offen über Einrichtungen und Menschen sprach, und noch von Göttingen aus habe ich ihm in Jena, wo er Honorarprofessor war, meine Frau vorgestellt. Er war alter Pförtner und hielt auf die Tradition vielleicht mehr, als die jüngeren Lehrer billigten, konnte wohl steif und pedantisch erscheinen, aber er war ein gerechter Regent und ließ andere Individualitäten gelten, sobald er ihren Wert erkannte. Die Verse eines geringen Poeten passen gut auf ihn.


Laeta tibi vultu gravitas et mite serena

fronte supercilium, sed pectus mitius ore.


Scharf schied er zwischen Wissenschaft und Schule. Für diese sollte auch das livianische Römertum mit den Königsfabeln und dem legendarischen Verfassungskampfe als Realität behandelt werden, nicht, weil es wahr wäre, sondern weil es eine typische Bedeutung hätte, untrennbar von dem Latein, das als absolutes Ideal verstandesklarer Rede unvergleichlichen Bildungswert für den jugendlichen Geist hat. Er hat eine wirkungslose römische Geschichte geschrieben, getragen von tiefem Widerwillen gegen Mommsen. Ein Aufsatz über die macchiavellistische Politik der Römer gegen Griechenland ist auch vergessen, da wird aber jetzt niemand bezweifeln, daß Mommsen die Senatspolitik gründlich verzeichnet hat. Trotz dieser Abneigung hat er meiner Mutter empfohlen, als ich Obersekundaner war, mir Mommsens Römische Geschichte zu schenken, die mich gleich gefangennahm, auch in ihrer Ungerechtigkeit gegen Cicero, der daher lange vernachlässigt blieb. Merivales Geschichte der Kaiserzeit (englisch) gab er mir in die Hand, ein französisches antinapoleonistisches Geschichtswerk, dessen Verfasser ich vergessen habe, aber Velleius durfte ich nicht lesen, »der verdirbt Ihr Latein.« Er würde auch den Glauben an den Tiberius des Tacitus erschüttert haben, und das durfte nicht geschehen. Die Behandlung des Tacitus in Oberprima, in der man Peter eigentlich erst kennenlernte, war die vollendetste Interpretation; so etwas habe ich auf der Universität nicht gehört; allerdings auf die Schule berechnet, ohne jede historische Kritik, auch nicht zur Belehrung[75] über die Kriege, die Verfassung und Verwaltung. Dafür hatten wir Nipperdeys erklärende Ausgabe in den Händen. In der Tragödie der Kaiser des julisch-claudischen Geschlechtes, wie Tacitus sie gestaltet hat, sollte unser sittliches Empfinden und Urteilen gestärkt werden. Sorgfältig war ausgewählt, was Tiberius, Claudius, Nero charakterisierte. Einzelszenen, wie die Leichenfeier der Iunia waren daher wichtiger als die Eroberung Britanniens. Die Hochzeit und der Tod der Messalina, Nero und Acte, selbst der versuchte Inzest Agrippinas wurden gelesen. Er behandelte uns als Erwachsene, während H.A. Koch so etwas wie teretes suras integer laudo nicht übersetzen ließ und danach geschätzt ward. Weil wir die Annalen mit Buch III begonnen hatten, erhielten wir für den lateinischen Aufsatz ein Thema, das zum Lesen der ersten Bücher zwang. Die Sprache des Tacitus ward nicht minder sorgfältig behandelt, um den Abfall von dem klassischen Latein, die Ausartung und Manier zu zeigen. Dafür sollte man sich Sammlungen anlegen. Rhetorik, die wir vorher zu betreiben ermutigt wurden, war verpönt, Cäsar das Stilmuster. Die Anforderungen an unser Schreiben waren hoch. Auch wenn man fehlerlos übersetzt hatte, mußte man nach der Kritik eine verbesserte Abschrift machen. Ob die Römer sich Freiheiten erlaubt hatten, war einerlei: das Latein, das wir schreiben lernten, sollte absolute grammatische und stilistische Korrektheit besitzen. Ciceros Briefe bekamen wir daher nicht zu sehen. Sein Horaz stand nicht auf gleicher Höhe, weil die Poesie ganz zurücktrat, aber daß er die Episteln bevorzugte, zeigt, daß er sah, wo der Dichter sein Bestes gegeben hat. Es wird nach einer anderen Seite belehrend sein, wie er uns behandelte. Er begann die erste Stunde so: »die Oden kennen Sie nun (aus Unterprima), und ich nehme an, Sie können von jedem Versmaß eine auswendig.« Natürlich war beides nicht der Fall, natürlich war es Ehrensache, das Vorausgesetzte zu erreichen. Aufgegeben ward in der Prima überhaupt nichts mehr, Strafen für Versäumnisse im Unterricht wurden nicht mehr erteilt, direkte Rügen waren selten. Auffällig ist mir jetzt, daß wir aus eigenem Antriebe kaum je das Wort nahmen.

Im letzten Jahre übernahm Peter den Geschichtsunterricht; die römische war an der Reihe. Die republikanische ward nur kurz repetiert, wobei die Verfassungsgeschichte nach Livius eingeprägt ward; für die Gesetze, ut quod plebs tributim iussisset populum teneret u. dgl. mußte der Wortlaut gegenwärtig sein. Kaisergeschichte der Jahrhunderte nach Tacitus gab es nur mit wenigen Jahreszahlen, aber durchgearbeitet ward die Zeit von den Iden des März 44 bis zur Schlacht von Philippi an der Hand von Peters sehr nützlichen Zeittafeln. Da die Quellen uns im Auszuge vorlagen, war das eine[76] wirklich wissenschaftliche Übung in historischer Kritik. Nachahmenswert mag das nicht sein, verallgemeinern läßt es sich nicht, aber was bedeutete es nicht für jeden, der folgen konnte.

Koberstein war alt und etwas bequem; er hatte bei Großbeeren im Feuer gestanden. Den letzten Aufsatz des Semesters gab er nie zurück, das wußte man. Das Deutsch der letzten vier Schuljahre hatte er in der Hand, in Untersekunda mittel- und neuhochdeutsche Grammatik, also hier etwas Sprachgeschichte, in Obersekunda Lesen mittelhochdeutscher Poesie, nicht bloß Lachmanns 20 Lieder der Nibelungen, natürlich zum großen Teil Privatlektüre; auch etliche althochdeutsche Verse aus Muspilli; auch die Merseburger Sprüche prägten sich dem Gedächtnis ein. In Prima langweilte sein Vortrag über Literaturgeschichte, oft Vorlesung aus seinem gelehrten Werke. Interpretiert ward nichts. Dies versagte also, und die Korrektur und Besprechung der Aufsätze bedeutete wenig. Aber sein Urteil war doch maßgebend. Eine Stunde war Disputation über Themen, die wir vorschlugen und über ihre Wahl abstimmten, meist aus unserer Lektüre, zumal der klassischen Dichter; denn daß diese bekannt wären, setzten auch wir voraus. Als in einer Disputation herauskam, daß einem eine der Haupttragödien Shakespeares unbekannt war, verlor er die allgemeine Achtung, so gut seine Klassenleistungen waren. Über die lebhafte Debatte mußte Protokoll geführt, in der nächsten Stunde verlesen werden, ebenso förderlich wie die Übung im freien Vortrage. Ein anderes trat hinzu. Koberstein versammelte in einigen Abendstunden die Primaner, die es wollten, in seiner Wohnung und las Dramen vor, meisterhaft, wie er es bei Tieck gelernt hatte. Da lernten wir Kleist erst recht kennen, der ja noch so gut wie unbekannt war; ich habe ihn in mein elterliches Haus eingeführt und bin noch nach 1870 oft auf totale Unkenntnis gestoßen. Neben Shakespeare kam auch einmal Tiecks Gestiefelter Kater heran. Unsere Theaterspiele hatte Koberstein auch eingeführt und lange Jahre geleitet; jetzt war er es müde und hat die Einstudierung des Egmont mir so gut wie ganz überlassen. Und noch ein Drittes. Er opferte einen Abend der Woche einigen wenigen, die Italienisch lernen wollten. Die Methode war sonderbar, aber probat. Wir brachten die Gerusalemme liberata mit und lasen gleich los:


Canto le armi pietose e il capitano

che il gran sepolcro liberò die Cristo.


Da hatte man gleich gegenüber dem Latein Genuswechsel, Synalöphe, Versbau, Artikel, doppelte Aussprache des o. So ging es weiter; historische Grammatik einer lebenden Sprache, also was dem übrigen Unterricht fehlte,[77] und so auch auf diesen Mangel aufmerksam machte. Gegenüber diesen freiwilligen Wohltaten, die er uns angedeihen ließ, darf die Vernachlässigung des französischen Unterrichtes verziehen werden, der in seiner Hand lag; die Schule behandelte ihn auch ungebührlich als Nebensache. Zum Glück brachte ich genügende Vorbereitung von Hause mit, so daß mir das Lesen nie Schwierigkeiten gemacht hat.

Englisch kannte das preußische Gymnasium nicht, aber Dieterich Volkmann stammte aus Bremen, war also imstande, für Freiwillige Unterrichtsstunden zu geben, für die auch am Vormittage Raum zu finden war. Wir haben doch zwei Tragödien von Shakespeare und den Schiffbruch aus Byrons Don Juan II., allerdings flüchtig, gelesen. So kam ich auf die Universität mit der Fähigkeit, in den drei modernen Hauptsprachen mindestens Schriften meiner Wissenschaft zu lesen und ohne Mühe weiter zu gehen.

Karl Steinhart war wenig jünger als Koberstein. Lange weiße Haare umrahmten ein rotes rundes Gesicht, das durch beständiges nervöses Zucken etwas Medusenhaftes erhalten haben würde, wenn der Ausdruck nicht so kindlich gutmütig gewesen wäre. Er war Ordinarius der Obersekunda5. Mit den Kleinen konnte er nicht fertig werden, nannte sie immer noch du, was ebenso unzulässig war wie Ohrfeigen, zu denen er vermutlich nicht ohne Grund sich hatte hinreißen lassen. Fertig ward er auch mit der Obersekunda nicht, die argen Unfug trieb. Leider habe ich ihn im Griechischen der Prima nicht mehr gehabt. Da wird seine weite Gelehrsamkeit noch ganz anders hervorgetreten sein; er hat die allerdings konfusen Einleitungen zu einer Platonübersetzung geschrieben, auch einiges über den fast vergessenen Plotin, war auch nicht überrascht, als ich die Privatlektüre des Trinummus6 anmeldete, sondern erfreut, prüfte eingehend und half an Stellen, die ich nicht verstanden hatte. Nützliche Anregungen nach vielen Seiten nahm man doch mit, wenn er auch zum Lehrer nicht viel weniger verdorben war als zum Erzieher. Und eins vertrat er, was sonst zu kurz gekommen wäre: den deutschen Patriotismus. Selbst in der Reaktionszeit hatte er durchgesetzt, daß die Feier des 18. Oktober durch einen Aktus nicht aufhörte, und er selbst hielt meist die Festrede mit einer Mahnung an Deutschlands Einigung, und er fand[78] auch immer einen Schüler, der für den Aktus ein deutsches Gedicht machte und vortrug. Nach 1866 sagte er: »ich erlebe es noch, daß dieser Napoleon in einem Wagen dritter Klasse hier vorbeifährt«, keine schlechte Prophezeiung.

Karl Keil, alter Pförtner, Peters Schulfreund, war ein Gelehrter, der in seiner Art in Deutschland keinen über sich hatte. Von der Universität Leipzig her mit Ludwig Roß befreundet, hatte er von diesem Abschriften griechischer Steine erhalten und war ein Epigraphiker geworden, soweit es in der Ferne möglich ist. Die Akademie hatte ihm den Index zu Boeckhs Corpus übertragen, der freilich nicht fertig geworden ist. Davon erfuhren wir nichts; er war als Lehrer erfolglos, schon durch seinen ungeschminkt weißenfelsischen Dialekt, der sein Latein und Griechisch kaum verständlich machte. Er diktierte in Unterprima aus Xenophon Griechisch, was sofort in das Latein übersetzt werden sollte. Hintereinander ließ er auf die griechischen Inseln Epigramme machen; zu meiner Zeit waren gerade Skyros und Peparethos daran; auf Skyros war wenigstens Achilleus gewesen, aber Peparethos zu loben war hart. Im Latein war sein Ciceronianismus fanatisch. Zu mir sagte er vorwurfsvoll: »Sie schreiben ja wie Seneca.« Ich wollte, ich hätte es gekonnt. Auch später habe ich mich immer an Vorbilder gehalten, die ihr lebendiges Latein schrieben, Hermann, Bücheler, Mommsen, und den Tadel, daß ich nicht wie Haupt oder Vahlen schriebe, als Lob empfunden.

Der Mathematiker Buchbinder war gegen diese alten Herren jung und mochte manches anders wünschen. In der Handhabung der Disziplin barsch und streng, wo andere manches nachsahen, wenig beliebt, und doch meinte er es gut. In seiner frischen Männlichkeit ein vorzüglicher Lehrer in den Primen, wo er dem Unterrichte einige Blätter zugrunde legte, auf denen er die Hauptzüge seines Vortrages ausgearbeitet hatte. Da er wußte, daß sein älterer Kollege in den Sekunden versagte, erreichte er durch Repetition, daß wir das Nötige einigermaßen nachholten. In der Trigonometrie war das freilich nur die Anwendung von Formeln, deren Begründung ich wenigstens nicht begriffen hatte. Im letzten Semester ging er mit denen, welche folgen konnten, weit über das Thema hinaus, immer vorwärts, ohne zu repetieren; es kam ja für das Examen nicht in Betracht. Mir ist das ein reiner Genuß gewesen. Freilich war die Zeit vorbei, wo mich die Geometrie so angezogen hatte, daß der Lehrer mich aufforderte, Mathematik zu studieren, aber dem Reize dieser Wissenschaft gab ich mich in den Stunden völlig hin. Und doch zeigte Buchbinder nie, wozu sie eigentlich da ist. Kein Ausblick auf die Astronomie, auf Eukleides und Platon. Was die Mathematik, die Kunst zu lernen, für jede Wissenschaft bedeutet, habe ich erst bei den Griechen gelernt.[79] In der Physik versagten Buchbinders Experimente allzuoft; daraus ward nichts Rechtes. Daß ihm auch die nur in der Tertia berücksichtigte Botanik zufiel, war wohl unbillig. Aber er vernachlässigte auch die Exkursionen, so lebhaftes Interesse sogleich für die reiche Flora der Umgegend entstand.

Endlich Wilhelm Corssen, der vergöttert ward, wußte man doch, daß er in der Synode die Verteidigung aller Delinquenten führte, im Abiturientenexamen als unlateinisch gebrandmarkte Wörter, die als Sprachfehler gerechnet werden sollten, aus seiner Beschäftigung mit dem späten Latein belegte. In seiner Untersekunda paukte er gehörig die Syntax, erweckte aber auch die Freude an den lateinischen Versen, die er freilich unbekümmert um Lachmanns Lukrez, die Regeln der Synalöphe und andere sichere Beobachtungen der antiken Praxis baute. Das schönste war sein Geschichtsunterricht in der mittleren und neueren Geschichte bis in die Anfänge der französischen Revolution; von da bis 1815 ging es nur in weiten Sprüngen. Er hatte bei Ranke gelernt und gab wirklich europäische Geschichte der Staaten und Völker, freimütig, in deutsch-patriotischem Sinne, aber nicht mit jener engen Einstellung, die ich bemerkte, als meine Kinder die Schule durchmachten. Wir lernten etwas von der Bildung des französischen Staates, von den großen Päpsten und den englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts. Ein langes Verweilen bei den friderizianischen Schlachten und gar bei den Gattinnen der preußischen Herrscher war dafür ein schlechter Ersatz. Corssen trug immer ganz frei vor; Lehrbücher waren überhaupt verpönt: man lernte früh nachschreiben. Eigentlich wußten wir von diesen Zeiten mehr und besseres als von der alten Geschichte. Ich glaube der Pietät meines lieben Lehrers nicht zu nahe zu treten, wenn ich die Wahrheit sage: ich habe ihn mit ganz wenigen Getreuen in Lichterfelde zu Grabe geleitet. Er hatte sich schon an seiner grammatischen Preisschrift überarbeitet; eine unglückliche Liebe soll hinzugetreten sein. Mit demselben Eifer stürzte er sich auf das Etruskische; daß er einen Fehlschlag tat, hat seinem Leben ein Ende bereitet. Früh hatte er zu trinken angefangen; das steigerte sich immer mehr und zeigte sich auch in der Klasse. Schließlich kam es so weit, daß er mit dem unheimlichen Blicke, den wir kannten, als Hebdomadar in den Betsaal kam. Der erste Vers war gesungen, er fing das Kapitel der Bibel an zu lesen, stockend, und las so immer weiter, immer weiter. Endlich brach er, plötzlich sich zusammenraffend, ab. Wie peinlich es auch war, kein Laut regte sich. Die Blicke der Inspektoren und der Bankobersten hielten die Kleinen gebannt: ein Triumph der Schulzucht, aber was die Ordnung aufrechthielt, war doch[80] die Verehrung und Liebe zu dem Lehrer, ein Triumph auch für ihn, der sich die Herzen gewonnen hatte. Freilich war es auch das Ende. Peter hatte den unersetzlichen Lehrer immer gehalten; jetzt sah dieser selbst ein, daß er gehen mußte. Mir sprach er in seiner schlichten Ehrlichkeit aus, als ich persönlich kam, Abschied zu nehmen: »ich hatte nach Keils Tode die Unterprima übernehmen müssen und in die neue Aufgabe konnte ich mich nicht finden; Sie werden es der Korrektur Ihres Aufsatzes ansehen.«

Von den jüngern Lehrern, die nur einige Jahre dem Kollegium angehörten, wie Franz Kern und Dieterich Volkmann, brauche ich nicht zu reden. Namentlich Kern wußte durch wissenschaftliche Vorträge zu fesseln, die manchmal an Winterabenden gehalten wurden, und an denen manche Schüler teilnehmen durften. Es kamen auch vereinzelte Redner von außerhalb, sogar ein Improvisator ist aufgetreten. Diese Kunst ist ausgestorben, ebenso wie der Tausendkünster Bellachini; er ist durch den Gedankenleser und Hypnotiseur ersetzt. Erwähnenswert ist noch, daß Otto Benndorf ein Jahr bei uns war. Er ging dann mit dem archäologischen Reisestipendium nach Italien und begann seine ruhmvolle Laufbahn. Mit Peter konnte er sich nicht vertragen, wie er mir später erzählt hat: der hielt eine solche Reise für zwecklos, was ja auch berühmte Philologen getan haben. Benndorf hatte aber auch zum Lehren in der Tertia weder Lust noch Fähigkeit. Er fand in einem Gelaß des neuen Torgebäudes eine Sammlung von Gipsabgüssen vor, ordnete sie und schrieb einen Katalog, zum Teil in Winckelmanns Hymnenstil, den er später wohl ungeschrieben wünschte. Vermutlich stammten die Gipse aus der Zeit jenes Professors Lange, der Otto Jahn die erste Anregung zur Archäologie gegeben hat. Jetzt war niemand da, der zu der monumentalen Philologie irgendein Verhältnis gehabt hatte. Die Götterbilder blieben eingeschlossen.

Es konnte nicht ausbleiben, daß die Pforte ein anderes Gesicht bekommen mußte, wenn die Reihe der alten Lehrer ausschied. Im Ministerium war man schon vorher unzufrieden; wir waren nicht fromm genug. Wie sich schickte, umrahmte Morgen- und Abendandacht den Tag, hintereinander ohne jede Auslassung ward die Bibel darin vorgelesen. Das Tischgebet war das der alten Mönche. Wie sich schickte, zogen wir Sonntags in die Kirche. Unbegreiflicherweise war aus der Lutherzeit beibehalten, daß vor dem Abendmahl jeder einzelne dem Geistlichen in der Sakristei seine persönlichen Sünden bekennen sollte. Niese machte das hastig ab, aber es war doch eine entwürdigende Beichte und zerstörte schon die Andacht bei der ersten Kommunion, die der Konfirmation folgte, welche selbst neben dem fortdauernden[81] Religionsunterrichte bedeutungslos sein mußte. Der Cötus im ganzen war in der Tat nicht fromm im Sinne der Partei, die sich selbst dafür hielt oder ausgab. Daran sollte der freundliche, einflußlose geistliche Inspektor Niese schuld sein, der als Rationalist verschrieen war. Vornehmlich um seinetwillen kam wohl schon die Visitation des großen Tieres; er hat nicht lange danach eine gute Pfarre erhalten und Bäßler zog ein, von tadelloser Orthodoxie, übrigens wohlwollend und um unser Seelenheil aufrichtig bemüht. Er würzte seine Predigt mit Anekdoten im Stile des damals berüchtigten Flüggeschen Lesebuches, »siehst du Kurtchen, nun wirft dich der große Hund um: warum hast du heute nicht gebetet«, was nur den Erfolg hatte, daß man statt des Gesangbuches ein anderes mitbrachte und während der Predigt las. Vor allem war seine Aufgabe, der Versäumnis zu steuern, daß wir die Menge Kirchenlieder nicht gelernt hatten, die auf dem Papier verlangt wurden. Dazu ließen wir Primaner uns nicht herbei. Mich beschied er zu sich, weil er mir Einfluß auf die Mitschüler zutraute und nötigte mir das Versprechen ab, von der Opposition zu lassen und die aufgegebenen Lieder zu lernen; schon daß er aufgab, erschien uns ehrenrührig. Nun half es nichts, ich mußte das Versprechen halten, aber er versöhnte mich durch sein Vertrauen: gefragt hat er mich nie. Die Kirchengeschichte ward durch Dogmatik ergänzt, sogar Arbeiten geschrieben, aber es diente der Gläubigkeit nicht, daß wir die Beweise für das Dasein Gottes vom ontologischen bis zum moralischen ausarbeiten mußten; die Schlußkraft mathematischer Sätze erhielten sie doch nicht. Und wenn wir bei ihm den 22. Psalm als Prophezeiung auf Christus vorgesetzt erhielten, so hatten wir gerade bei Siegfried (der bald in Jena Alttestamentler ward, besonders um Philon verdient) denselben hebräisch gelesen und eine wissenschaftliche Erklärung erhalten. Der frühere Unterricht, in dem das griechische neue Testament eifrig gelesen ward, hatte durch die Bibelkenntnis einen ungleich besseren Erfolg gehabt. Weil das Gymnasium in »das heilige Original« selbst einführen kann, können seine Religionsstunden einen hohen Wert für alle Schüler haben, denn im Evangelium und bei Paulus steckt Religion: die ist mehr wert als Theologie und Kirchengeschichte.

Als Keil starb, Corssen fortging, wurden zwei Professoren, zurücksetzend für die ältesten Adjunkten, eingeschoben, einer aus Hessen, einer aus Hannover; wir nahmen schon Anstoß, daß sie sofort nach 1866 die preußischen Stellen annahmen, und ihre Leistungen waren derart, daß Peter sie schleunigst weglobte. Ich schweige aus Schonung. Dann kam H.A. Koch, der nach meinem Abgang sich besser eingefunden hat; mit uns Primanern[82] ging es schlecht. Bald nachher verschwanden die alten Herren; Herbst trat an Peters Stelle; die Frömmigkeit soll auch damals eingewirkt haben. Nach seinem Tode hat der Referent im Kultusministerium Bonitz sich mit den alten Pförtnern, zu denen er selbst gehörte, beraten, wer Rektor werden sollte; auch mich hat er gefragt, der ich doch erst Privatdozent war. Es sollte jemand werden, der die alte Pforte kannte. Das einstimmige Urteil wies auf Volkmann, damals Direktor in Elberfeld. Er hat das Amt länger eingenommen als seine Kräfte ganz tragfähig waren. Dann folgte Muff, nur als Kaiserlehrer befördert, und vertrat den damals offiziösen »Idealismus«, nicht die Wissenschaft. Die Universität Halle nahm ihn dennoch als Honorarprofessor an. Nach seinem Tode hat Althoff vorgehabt, aus Pforte wieder eine Anstalt zu machen, die für die strenge Wissenschaft vorbereitete, er fragte wieder alte Pförtner, mich auch, und ich trat mit aller Entschiedenheit für Paul Cauer ein, Honorarprofessor in Münster. Er war bereit, obwohl es in mancher Hinsicht ein Opfer für ihn war, verlangte nur, in Halle die Lehrtätigkeit fortsetzen zu können, die er in Münster ausgeübt hatte, aber die Fakultät wollte ihm unverantwortlicherweise nur Pädagogik verstatten. Ich war im Homer sein Gegner, aber ich würde ihn neben mir ohne jedes Bedenken als Kollegen begrüßt haben. So zerschlug sich eine schöne Hoffnung. Althoff sagte: »nun kann ich gegen den Oberpräsidenten Hegel nicht mehr an, nun muß es ein Christ werden.« Der kam; es ging nicht gut. Die Revolution kam und führte auch für Pforte jene Revolution durch, über die ich mich anderswo unverholen geäußert habe. Allein auch die Hoffnung habe ich geäußert, daß der alte gute Geist sich nicht bezwingen läßt. Die Treue der jüngeren Pförtner ist ja nicht minder stark als die der alten aus der Zeit von Peter, Koberstein und Corssen. Bei einigermaßen gutem Willen muß sich erreichen lassen, daß die alten Pförtner sozusagen als ein kräftigerer Elternrat mit dem Ministerium zusammenwirken. Auch dieses vergibt sich nichts, wenn es zugesteht, daß manche alte Ordnung zum Wesen der Klosterschule gehörte und gehört, Eintracht zwischen Lehrern und Schülern, Selbstverwaltung durch Lehrer und Schüler, Sicherung der Eigenart vor jedem Nivellieren, Erweckung eines berechtigten Stolzes, daß Höheres verlangt und geleistet wird. Dies alles möge sich von neuem befestigt haben, damit die Pforte 1943 ihr viertes Säkulum in Ehren begehen könne und der Weihespruch des Klosters seine Geltung behaupte: »Gewißlich ist der Herr an diesem Ort, wie heilig ist diese Stätte: ecce porta coeli«.

1

Unendlich viel habe ich aus dem Buche und seinen Abbildungen gelernt. Hinzu kam, daß ich zu Weihnachten Beckers Charikles und Gallus bekam. Die Realitäten des täglichen Lebens kennen zu lehren, damit die antiken Schriften Farbe erhielten, lag damals der Schule und auch der Universität ganz fern. Es ist immer noch nicht überwunden.

2

A. Graf, Schülerjahre, Berlin 1912, S. 107.

3

Beim großen Schulfest 1893 mußte ich Volkmann dringend bitten, diesen Teil der Festordnung zu beseitigen. Ich weiß nicht, ob es sofort geschehen ist. Nötig war es; traurig, daß es nötig war.

4

Am Anfang jedes Semesters wurden für die oberen Klassen sogleich die Termine der schriftlichen Hausarbeiten festgestellt. Nie durften zwei zugleich aufgegeben werden, zu jeder hatte man 14 Tage. Daher waren es wenige, aber die Forderung ging hoch.

5

Böse Zungen erzählten, daß er am Eisenbahnschalter auf die Frage, welche Klasse, geantwortet hätte: »selbstverständlich Obersekunda.«

6

Ich las das Stück, weil wir Lessings Schatz aufführten, und konnte es, weil wir auf kommentierte Ausga ben hingewiesen wurden. Die spätere Beschränkung auf bloße Texte gehört zu den pädagogischen Torheiten. Wie nützlich war es und für die Stunden entlastend, daß Nipperdeys Tacitus zugrunde gelegt ward.

Quelle:
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Erinnerungen 1848–1914. Leipzig 1928, S. 61-83.
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