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[83] Der Mulus zog nach Bonn und suchte im Nebel seinen Weg. Nicht ohne Bedenken hatten die Eltern zugegeben, daß ich ein Studium ergriff, das ich gar nicht fest zu beschreiben wußte und das kein festes Ziel im Auge hatte. Daß ich in kein Corps eintreten würde, stand mir fest, und die Erwartung, daß ich anderes Sinnes werden würde, erfüllte sich nicht. Mein ältester Bruder war in Heidelberg Saxoborusse gewesen; eine andere Art von Studentenleben schien gar nicht denkbar. Ich kam gar nicht in Versuchung, denn ich blieb unbeachtet, nahm mir in der engen Rheingasse Zimmer und Kammer, die über einer besuchten Kneipe lagen. Einige Pförtner waren unter den Studenten, aber auch die nähere Verbindung mit einem von ihnen löste sich. Weltfremd wie ich war, ging ich einsam und schüchtern meinen Weg. Das rheinische laute Leben war mir zunächst unbehaglich, dazu der auch nach 1866 nicht ausgeglichene Gegensatz gegen den »Prüss«, der Katholizismus ebenso, denn hier herrschte er. Als die Vorlesungen begannen, war bei Jahn eine Reihe von Bänken durch die Zöglinge des Konviktes eingenommen, die ein Fremdkörper blieben; sie wurden von den andern Katalogen genannt. Sobald sich ein Privatdozent habilitierte, ein neuer Professor zuzog, hörte ein zuverlässiger Kataloge bei ihm, um festzustellen, ob er kein verderblicher Mann wäre, dessen Vorlesungen zu besuchen untersagt werden müßte. Es gab Dozenten, bei denen von uns niemand hörte, hier aus freiem Entschluß oder doch aus Tradition. Unter den Studenten der Philologie waren die maßgebenden fast ausschließlich keine Rheinländer, wenn auch von diesen etliche in das Seminar kamen. Der üble Zank zwischen Ritschl und Jahn lag wenige Jahre zurück, zuckte aber nach, solange Studenten da waren, die ihn erlebt hatten. Ritschl hatte das Feld geräumt, und als er nach Leipzig ging, als erster die Ehre einer Sammelschrift (Symbola in honorem Ritschelii) erhalten, die nun gemein geworden ist1. Eine Parteischrift[84] hatte »das Ende der Bonner Philologenschule« verkündet. Davon war nichts zu merken; Jahn las vor mehr als hundert Studenten, soviel das Auditorium nur fassen konnte. Ritschls wissenschaftliche Produktion war schon vorher fast ganz erstorben, sein Plautus ein Torso, Leipzig hat durch ihn keine stärkere Bedeutung erhalten. Er las seine alten Hefte, Jahn, wie er sich ausgedrückt hat, seine ungedruckten Bücher. Eine seiner schönsten archäologischen Arbeiten, die Entführung der Europa, ist erst nach seinem Tode erschienen, die griechischen Bilderchroniken hat Michaelis druckfertig gemacht. Die Studenten nannten ihn »Onkel Otto«; seine Verehrung war allgemein. Aber er war ein gebrochener Mann; nur die Arbeit hielt ihn aufrecht. Ritschl wirkte nur darin nach, daß es für fein galt, nicht Bonnae, sondern Duonai zu schreiben und ähnliche Archaismen. Er hatte die Monumenta priscae Latinitatis in Verbindung mit dem Corpus inscriptionum herausgegeben; die Beschäftigung mit dem Altlatein, die seit Scaliger geruht hatte, erweckt zu haben ist sein Hauptverdienst. Freilich gehörte das Studium der verwandten Dialekte und Fühlung mit der Indogermanistik dazu; damit hat erst Bücheler den rechten Weg beschritten. Erst durch ihn und Usener hat Bonn seine rechte Glanzzeit erlebt, beide sind seine Schüler, beide unvergleichlich größere Gelehrte und verehrungswürdige Menschen, zu denen auch die Nachwelt aufschauen soll.
Meine Neigung galt dem Deutschen noch ebenso wie dem Griechischen; ich war durch Koberstein vorbereitet, las viel Mittelhochdeutsch, Gottfried von Straßburg und die kleinen Erzählungen in v.d. Hagens Gesamtabenteuern, die ich mir gekauft hatte. Jakob Grimm packte mich tief, die Mythologie ganz besonders. Aber es fehlten die Lehrer. Ich versuchte Gotisch bei Diez zu hören, aber da hielt ich nicht aus. Dagegen ist es mir eine schöne Erinnerung, daß ich mit ganz wenigen zu seinen Übungen im Spanischen in seine Wohnung ging. Der ehrwürdige gebrechliche Greis kam uns mit einer schüchternen Höflichkeit entgegen, die mich nur mehr verschüchterte. Wir lasen Calderons standhaften Prinzen, und bei der Poesie glühte die Jugend in dem großen Gelehrten auf: da erzählte er, um eine der kühnen Vergleichungen Calderons zu erklären, wie er in der Provence über Graben und Zaun gesprungen wäre, um ein Feld zu betrachten, das im Frühling von wilden Nelken so blutrot leuchtete. Auch Humor fehlte nicht. »Ein ce können Sie nur richtig aussprechen, wenn Sie sich kräftig auf die Zungenspitze beißen.« Koberstein hatte uns ›Das Leben ein Traum‹ in Schreyvogels Umdichtung vorgelesen; nun den großen Dichter im Original kennenzulernen, war ein unverlierbarer Gewinn. Ich erstand auf einer der Bücherauktionen,[85] die in Bonn bei Lempertz zahlreich vorkamen, eine Sammlung spanischer Dramen, und diesen fremdartigen Stil zu kennen, hat meine Einsicht in die Bedingtheit auch der hellenischen Kunst wesentlich gefördert. Es blieb ja auch die Fähigkeit, sich in der dritten romanischen Sprache, schließlich auch im Katalanischen zurechtzufinden.
Mit dem Sanskrit fing ich sofort an. Gildemeister lehrte die Anfangsgründe dieser Sprache und die des Arabischen Nachmittags von 2–4. Es war eine schwere Plage für den geistvollen Gelehrten und er wählte diese Stunde gleich nach dem Essen, wie es hieß, weil er sonst schlafen würde. Nur solche Schüler hielten aus, denen es ernst war. Die meisten verschwanden, um so glatter ging es vorwärts. Drei Semester habe ich ausgehalten. Im letzten erklärte er Rigveda für zwei, die nur den Kommentar des Sayana präparieren mußten. Es kam wenig für uns heraus, denn wir lasen nur ein paar Lieder, an denen er eine gewaltsame Textkritik übte. Ein Semester habe ich Arabisch bei ihm getrieben, wo er rascher vorwärts gehen konnte, weil er das Hebräische der Schule voraussetzte. Es könnte scheinen, als wäre die angestrengte Arbeit verloren gewesen, die ich namentlich an das Sanskrit verwandt habe, denn als ich aus dem Kriege heimkehrte, war ziemlich alles vergessen; auch das Hebräische ließ ich ganz liegen. Aber es lohnte sich doch, in den Bau der sehr verschiedenen Sprachen einen Einblick getan zu haben. Und Gildemeister erquickte auch nicht selten durch einen kaustischen Witz, der keineswegs bei Indern und Arabern blieb. Die damals modernen halsbrechenden Etymologien, Hermes Sarameyas, Kentauren Gandharven hatte er besonders auf dem Strich, so daß ich gegen diesen Unsinn gefeit ward.
An Jahn hatte ich einen Empfehlungsbrief und er nahm mich freundlich auf, war er doch selbst Pförtner. Er erlaubte mir, ihn wieder zu besuchen, wozu mir zunächst der Mut fehlte; aber seine Vorlesungen taten ihre Wirkung. Zwar das Interpretieren war seine Sache nicht, es blieb eine nur reproduzierende Textkritik mit zahlreichen Parallelstellen und Zitaten, leeren Versnamen statt klingender Verse. Vorwärts kam man nur, wenn man auf die Meister zurückgriff, deren Studium er anriet, Porson – Elmsley – Hermann, im Theokrit Valckenaer, für das Latein Madvig, und bei wem hätte man es besser lernen können. Seine Einleitung zum Theokrit war eine Einführung in die hellenistische Literatur und Kultur, von der er damals allein etwas verstand2 und durch seine Schüler verbreitete. Vollends seine Geschichte[86] der Philologie. Ich lache, wenn ich die vielen verschriebenen Namen in meiner stenographischen Nachschrift sehe; das tat keinen Schaden. Meinen Studenten habe ich dieses Beispiel oft angeführt, sie zu überzeugen, daß man das meiste aus Vorlesungen lernen kann, die man nicht versteht, wenn sie die Sehnsucht zu erwecken verstehen und den Weg weisen. Dazu ist der akademische Unterricht da, weder abzurichten noch totes Wissen einzutrichtern. Und gerade dies erreichte diese Geschichte einer Wissenschaft, denn sie wies den Weg zu einer Philologie, in der die Gegensätze zwischen Hermann und Boeckh ausgeglichen waren, die Archäologie in ihrem ganzen Umfange einbezogen. Sechstündig las sie Jahn; die Hochzeit meines ältesten Bruders zwang mich, die letzten Stunden zu versäumen, in denen er den Kreis um Boeckh behandeln, also den Schluß ziehen wollte, wie die Philologie geworden war, was sie sein soll: Altertumswissenschaft. Zu Hause lachten sie den »Kamelstudenten« aus, der am liebsten in Bonn geblieben wäre: ich bedaure den Verlust noch heute. Gustav Freytag ließ sich die Vorlesungen nachstenographieren; unverantwortlich, daß Michaelis ihre Herausgabe ebenso versäumt hat wie die Sammlung von Jahns kleinen Schriften. Das Ethos des Mannes, der alle Hustenanfälle überwand und ganz in seiner Wissenschaft und seinem Lehrberufe aufging, in milder Form scharfe Kritiken gab und die Überfülle des Tatsachenmateriales durch die Wärme der inneren Anteilnahme zu beleben wußte, packte immer. Das von Welcker begründete Gipsmuseum war von dem Auditorium nur durch eine Tür getrennt, in den Zwischenstunden zugänglich. Da wandelte ich zwischen den Statuen, und die Sehnsucht erwachte nach archäologischem Unterricht; meine Briefe sprachen das lebhaft aus. Aber Jahn hatte dazu die Kräfte nicht mehr. Um die römisch-germanischen Altertümer kümmerten sich nur Dilettanten.
Auch an Jakob Bernays hatte ich eine Empfehlung, und dieser nahm sich meiner an. Ich hörte ihn fleißig, und die Verschiedenheit der Gegenstände war höchst aufklärend. Ciceros Briefe (die Korrespondenz mit Caelius), Aristoteles Politik, Platons Staat (wenig ergiebig), Übungen über die nikomachische Ethik, ganz besonders ein Publikum über das Studium der alten Geschichte von Sigonius und Panvinius bis auf Gibbon und Niebuhr und ein anderes über die Vorsokratiker. Ich kaufte und las Gibbon, was auch meinem Englisch[87] zugute kam. Fragmente von Herakleitos, Xenophanes, Parmenides hatte Bernays auf ein paar Seiten drucken lassen; sie prägten sich dem Gedächtnis leicht ein, was später beim Doktorexamen dem Philosophen Harms imponierte, so daß er über meine Unkenntnis in der neueren Philosophie gnädig hinwegsah. Aber auch der persönliche Verkehr mit dem »Rabbi«, wie Bernays bei den Studenten hieß, war interessant und förderlich. Er war nicht nur strenger Jude und hatte mit seinem Bruder Michael gebrochen, als dieser sich taufen ließ, sondern trug den Stolz auf sein Judentum zur Schau, selbst in der etwas komischen Vernachlässigung des Äußeren lag bewußte Absonderung. Es war eine sonderbare Sorte von Adelsstolz, der die meisten abstieß: mir hat er imponiert, denn da war alles echt, hatte alles Stil, auch die unverholene Verachtung der christlichen »Tochterreligion«, wie er sich ausdrückte. Er gab mir auch Weisungen, die ich befolgt und das nicht bereut habe. Er wies mir Plutarchs Moralia: »erst wenn Sie diese Schriften ordentlich gelesen haben, dürfen Sie sagen: ich kann Griechisch.« Ich habe mir gleich ein Bändchen des elenden aber bequemen Tauchnitzdruckes für die langen Eisenbahnfahrten in die Tasche gesteckt. »Es gibt Gelehrte, von denen ich alles lese, wie Mommsen und Cobet (wo er es wohl später gelassen haben wird), und es gibt andere, von denen ich nichts lese.« Auch daran habe ich mich gehalten, unbekümmert um den Groll der Betroffenen und den Tadel der gerechten Kammacher. Aber ich bezwinge den Anreiz, den Namen eines noch Lebenden zu nennnen, der wissenschaftlich nicht mehr zählt, aber eben darum mit vielem Erfolge bei der urteilslosen Masse ungesalzenen Schaum schlägt. Bernays war nicht ohne Eitelkeit, verachtete die Menge der Studenten und scheint doch seine Vorlesungen immer mehr auf den Tiefstand ihrer Bildung, wie er ihn voraussetzte, herabgestimmt zu haben. Seine letzten Bücher haben etwas Spielerisches, ein Fündlein wird durch allerhand Drum und Dran doch nur zum Scheine einer besonderen Bedeutung erhoben. So verlor er an Geltung; ich bin ihm immer dankbar geblieben. Daß Usener seine kleinen Schriften sammelte, und wie er es tat, verdient aus mehr als einem Grunde Bewunderung.
In der Kneipe unter meiner Wohnung traf ich manchmal mit einem alten Studiosus zusammen, der, ich weiß nicht wie, zu keinem Abschluß gekommen war, obgleich er reiche Kenntnisse besaß. Von dem erfuhr ich nützliche Personalia; manchmal war er in der Lage, ein Buch zu verkaufen. So kam Aristoteles Metaphysik von Bonitz in meine Hand und das erste Buch, belebt durch die Vorlesung von Bernays, hat schon als strenge Kost neben dem vielen, das nur lecker schmeckte, sehr gut getan: hier hieß es die Gedanken[88] zusammennehmen. Ein anderes Buch, das ich sonst schwerlich angesehen haben würde, war Welckers Götterlehre. Sie führte mich zu dem Manne, den ich unter meine vornehmsten Lehrer zähle; ich habe ziemlich alles was er geschrieben hat, in den Jahren meiner Ausbildung eifrig gelesen und so begriffen, daß es galt, sich ein Vollbild des ganzen hellenischen Wesens zu erwerben, wenn das Einzelne ganz verstanden werden soll. Welcker lebte noch als ein blinder Greis; ich habe ihn nie gesehen; im nächsten Jahre folgten wir seinem Sarge. Da hatte ich schon viel über ihn und seine letzten Jahre erfahren3, weil ich mit Otto Lüders bekannt ward, der sein vertrauter Vorleser bis zum Ende war und auch mit Jahn verkehrte. Wie sich diese Bekanntschaft bildete, die für mich bedeutungsvoll ward, weiß ich gar nicht mehr; vermutlich hat sie mich schon am Ende des Sommers in den philologischen Verein geführt. Eine Bewerbungsschrift um das philologische Seminar reichte ich zum Wintersemester 1868 ein. Wenn hiermit die Entscheidung für die Altertumswissenschaft fiel, begründete der Eintritt in den Verein das wahre Studentenleben, das ich nur neun Monate genossen habe.
Der philologische Verein hat, wie das bei dem raschen Wechsel der Personen in allen studentischen Verbindungen geht, sehr verschiedenen Charakter gehabt. Als ich eintrat, war er auf ganz wenige Mitglieder zusammengeschmolzen; noch kam es vor, daß Angehörige farbentragender Verbindungen, Corps und Burschenschaften, darunter waren. Ein lustiger Abend hat ihm die neuen Mitglieder zugeführt, die in ihm ein frisches Leben erweckten und gerade weil der Kreis so eng war, in Ernst und Scherz einander förderten und hoben. Für das philologische Studium und sogar für die Studentenschaft gewann er Bedeutung, die sich später noch gesteigert hat, als er auch Studenten anderer Wissenschaften einschloß. Von jenem Abend und seinen Folgen handelt O. Kern in seinem Buche über Diels und Robert; ich muß aber doch aus meiner Erinnerung reden. Die theologische Fakultät hatte zu einem abendlichen Festmahle aufgefordert, das sie zu Schleiermachers Ehren an dessen 100. Geburtstage veranstaltete. Das muß Anstoß erregt haben, weil Schleiermacher mehr ist als ein Theologe. Es erschienen[89] daher mehrere Dozenten, darunter Bernays, trotzdem er mit den Christen nicht essen durfte; im philologischen Verein ward die Teilnahme beschlossen, andere Studenten schlossen sich an. Der theologische Festredner dankte für die zahlreiche Beteiligung, die oppositionelle Stimmung trat nicht an die Oberfläche, aber vorhanden war sie, und es bedeutete doch etwas, daß man von den Kommilitonen voraussetzen durfte, sie wüßten etwas von Schleiermacher, wenn es auch nur seine Rätsel waren4. Der Wein war gut; das Fest war lang. Als nach Mitternacht aufgebrochen ward, suchte eine Anzahl Studenten vergeblich an anderem Orte die Feier fortzusetzen und schließlich beschloß ein Häuflein mit dem Dampfschiff, das nach einiger Zeit kommen mußte, nach Königswinter zu fahren. Das Warten und die Fahrt ernüchterte; Schlafbedürfnis regte sich. In Königswinter gelang es mit Mühe in einem Gasthaus Unterkunft zu finden, je zu zwei in einem Bett. Der Schlaf war kurz; der Sonnenaufgang traf uns schon auf dem Wege nach Heisterbach, wo schleunigst eine der berühmten Bowlen angesetzt ward. Eile war nötig, denn mehrere waren von Usener zu Tisch geladen. Die Stimmung war nicht abgeflaut, allgemeines Schmollis ward getrunken, und der blutjunge Carl Robert tat nach dem Verbrüderungskuß an einen der Brüder die Frage: »wie heißt du eigentlich?« Eintritt in den Verein war die Folge.
Die Teilnehmer an dieser abenteuerlichen Fahrt kann ich nicht alle angeben; um so lebhafter ist die Erinnerung an den Verein. In ihm war die zahlreichste Gruppe aus Wiesbaden, daher an Usener angeschlossen, der übrigens so wenig wie Bücheler alter Herr des Vereins war. Diels und Robert hebe ich von den Nassauern allein hervor. Daneben waren die Hansestädte vertreten. Dettmer aus Lübeck war schon ein würdiges Mitglied, stand dicht vor der Promotion, eifriger »Jahnitschare«. Hamburg vertrat besonders der gescheite feine stille Christensen, der sich später um die mittelalterliche Dichtung von Alexander sehr verdient gemacht hat. Erst im Sommer trat der Lübecker Kaibel hinzu, der von Göttingen stark enttäuscht herüberkam. Er hielt sich erst sehr zurück, hat später eine führende Stellung eingenommen; unsere Freundschaft schloß sich erst in Rom. Ich führte dem Vereine meinen Schulfreund Walther Engel zu, der am Gymnasium zu Potsdam Lehrer gewesen ist, zum Weltkrieg noch eintrat und der erste Platzkommandant von Mitau ward. Der Brief einer Engländerin, der er behilflich war, kam in die[90] Zeitungen und pries ihn als ihren rettenden angel. Unter rauhen Formen hatte er ein goldenes Herz. Er stammte aus St. Wendel, wo seine Vorfahren in langer Reihe Prediger gewesen waren, und sein Vater beklagte, daß der Sohn sich zur Theologie nicht entschließen konnte. Ich bin im August 1869 mit Engel die Mosel hinaufgewandert, habe Trier, Igel, Nennig besucht und auch von dem alten Pfarrhause einen starken Eindruck empfangen. Der Verein jenes Sommers ist auf der Photographie zu sehen, die Kern in seinem Buche über Diels und Robert mitgeteilt hat.
Weitaus am reifsten war Diels, zugleich mit mir in das Seminar getreten, an Wissen überlegen und vorbildlich durch zielbewußte, Seitensprünge vermeidende Arbeit. Er hatte ein Jahr in Berlin studiert, war aber unbefriedigt von dem dortigen Betriebe der Studien. Etwas von dem, was ihm im Alter bei den Studenten den Namen »Vater Diels« eintrug, war schon vorhanden; aber damit kontrastierte die körperliche Haltung. Er konnte mit den langen Armen und Beinen seltsam herumfuchteln, was ihm auf der Schule den Spitznamen Hamputsch (Hampelmann) eingetragen hatte, den die Mitschüler weiter anwandten. Er konnte ausgelassen lustig werden, aber bewahrte auch dann seine Autorität. Robert war dagegen Fuchs in jeder Beziehung. Begabung und Fleiß hatten ihn so früh auf die Universität gebracht, daß Bernays ihn in seinem zweiten Semester fragte: »nun sind sie wohl schon 18 Jahre geworden?« Aber er war auch noch ganz unausgeglichen in seinem Wesen, eine streng katholische Kindheit wirkte nach; er konnte sich plötzlich in tragischer Pose hinstellen und aus Gutzkow deklamieren: »Uriel Akosta, von Geburt ein Portugiese«, gestand, daß er Verse mit Liebesgeständnissen an die Schwester seiner Stiefmutter machte, die später einmal seine Frau werden sollte. Begreiflich, daß er manche Hänseleien dulden mußte, was er ebenso wie die Erziehungen liebenswürdig aufnahm. Eigentlich ward er von allen Älteren nicht weniger verzogen als erzogen.
Der Verein hielt darauf, im Seminar womöglich die Majorität zu bilden und bisher unbekannte Mitglieder an sich zu ziehen. Leider mißglückte es bei Bücher, der ein so bedeutender Nationalökonom werden sollte, an seine philologische Vergangenheit aber ohne Befriedigung zurückgedacht hat, und doch kenne ich noch eine Verbesserung der alten Politie der Athener, auf die er das Prioritätsrecht hat, falls sie überhaupt schon gefunden ist. Auf Aemilius Bährens verzichteten wir, so stark er auch im Latein war.
Erst im Seminar kam ich mit Usener in Berührung und da imponierte er mir nicht nur, sondern ich hatte an dem scharfen Tone Gefallen und war mir bewußt, daß ich viel lernte, als wir Lucan lasen, für den er über handschriftliches[91] Material verfügte. Es herrschte durchaus der alte Betrieb, daß nur Konjekturen in den Seminararbeiten vorgelegt wurden, deren immer zwei im Semester verlangt wurden, für jeden Direktor eine. Sie konnten daher kurz sein, aber es führte doch zu Frivolitäten. Einer der Rheinländer gestand: »für Usener habe ich noch nichts, aber ich werfe ein paar Verse aus einem euripideischem Prolog hinaus. Dann ist er zufrieden und athetiert nur noch mehr.« Usener war gegen mich immer freundlich, wir kamen im Seminar vortrefflich aus, aber dabei blieb es. Gegenseitige Abneigung war unverkennbar. Ich konnte seine Vorlesungen nicht vertragen und schnödelte über sie. Nur die griechische Literaturgeschichte habe ich gehört, die mit vielen Auslassungen (Ilias und Odyssee, Lyrik und Drama) doch nur eben in das 4. Jahrhundert kam. Jetzt habe ich meine Nachschrift vorgeholt und sehe, daß eine gewaltige Gelehrsamkeit in einer Form geboten war, die ganz ebensogut wie Jahns Geschichte der Philologie jedem, der Fähigkeit und guten Willen hatte, ungemein viel zu lernen und zu überdenken bot, freilich ungleich und willkürlich in der Auswahl des Stoffes und manchmal befremdend in den Urteilen. Wie sollte es anders sein, da er doch noch in den Anfängen des Lehrens stand; ich habe es später ohne Zweifel viel ärger getrieben. Aber damals fühlte ich mich abgestoßen. Einiges tat dazu, daß ich die von Welcker stark abstechende Behandlung der Mythologie nicht vertrug. Alles sollte Lichtgott sein, selbst Silen, übrigens auch Aesop. Und dann las ich den Aufsatz Kallone, der in der Tat eine ungeheuere Gelehrsamkeit verschwendet um das Mißverständnis eines platonischen Wortes zu begründen. Lüders berichtete von einem scharfen Worte Otto Jahns: »die Götter haben seiner Gelehrsamkeit leider die Gabe der Probabilität versagt«, was von recht vielen seiner Konjekturen gilt. Es hat bis zur Philologenversammlung von 1877 gedauert, daß ich zur vollen Anerkennung seiner Bedeutung kam und es durch die Widmung meines Antigonos bekannte; ich habe dann manche schöne Briefe von ihm erhalten. Seine Mythologie habe ich allerdings so wenig billigen können wie seine Metrik, so sehr ich die nun erreichte Form seiner Schriften bewundere. Die Pelagia hatte mich entzückt; schade, daß sie keine Aphrodite ist. Das Weihnachtsbuch steigerte meine Bewunderung: das soll man immer als eine Probe edelster wissenschaftlicher Prosa lesen.
Jahn war mir doch auch im Seminar ungleich werter. Er sprach schon ein so wunderbares Latein. Wenn er sich im Stuhle zurücklehnte, seine Finger meist mit der Uhrkette spielten, ein Zeichen der Anstrengung, die es ihn kostete, über irgendeinen Gegenstand ausführlich handelte, weil[92] unsere krasse Unwissenheit an den Tag gekommen war, floß die Rede ungehemmter und klangvoller als in der deutschen Vorlesung; aber es kam auch vor, daß Unfleiß oder Stumpfheit eines einzelnen zu einer allgemeinen Straf- und Mahnrede führte. Wenn er die Rede des Lykurgos erklären ließ, deren Kunstwert gering, deren Text zur Erlernung der Kritik wenig geeignet ist, so wollte er uns zu sachlichen Kenntnissen führen, auf einem Gebiete, das ihm selbst fern lag. Ich mußte die Einteilung machen, mich um die Geschichte und die damals noch so genannten Altertümer kümmern, das erstemal Inschriften heranziehen. Glücklich machte es mich, hierdurch in nähere Berührung zu ihm zu treten und sein Wohlwollen zu gewinnen. Eine erneute Bitte um archäologische Übungen konnte er nicht gewähren, aber er beriet mich doch bei meiner Arbeit auf diesem Gebiete und hat noch zuletzt das Thema einer Preisarbeit auf mich berechnet. Es sollte das Satyrspiel mit den Vasenbildern verglichen werden. Etwas Ordentliches würde ich nicht herausgebracht haben; bis heute ist meines Wissens eine solche Untersuchung nicht geführt, wo doch das literarische und das monumentale Material sich stark vermehrt hat, aber auf feste Ergebnisse ist auch nicht zu rechnen, mit Hypothesen, selbst wenn sie ansprechend sein könnten, nichts gewonnen. Leider ist vielen Archäologen von heute an dem, was die Künstler darstellen, auch nichts mehr gelegen; da tun sie so, als hätten die antiken Künstler sich auch nichts dabei gedacht.
Für die Archäologie ward zuletzt doch noch gesorgt, indem Kekule sich habilitierte und sogleich starken Erfolg hatte; der Verein tat das Seine dazu, daß Kolleg und Übungen besucht wurden. Er führte die Geschichte der Plastik bis zu der Gruppe des Menelaos, zu dem Pasiteles, den er damals entdeckt zu haben glaubte. Wie nützlich es auch war, daß wir eine geschichtliche Übersicht erhielten, das Wichtigste und Kekules besondere Stärke war doch, was er vor den Gipsen uns ahnen ließ: die Schönheit in der Kunst, und was sich darin dem offenbart, der überhaupt für Kunst empfänglich ist. Darauf fiel bei den Philologen auch nicht einmal ein Seitenblick. Es zündete auch. Weil die Tyrannenmörder, die Friederichs eben entdeckt hatte, im Museum fehlten, sammelten wir für ihre Anschaffung; alle Strafgelder, der Einsatz der zahlreichen Wetten und manche gelegentliche Gabe dienten diesem Zweck, später der Erwerbung einer Amazone, die ich nicht mehr erlebt habe. ἐν μύρτου κλαδὶ τὸ ξίφος φορήσω nahmen wir zu unserem Wahlspruch. In den Übungen setzte Kekule an Jahns archäologische Beiträge an; er hielt wohl die Sarkophagreliefs wegen ihres Inhaltes für Philologen geeignet. Mir fielen die Hippolytossarkophage zu und ich ging mit[93] Feuereifer ans Werk. Aber als ich mit hochtrabenden Phrasen anhob, traf mich ein kalter Wasserstrahl: »das haben Sie wohl aus dem Lateinischen übersetzt«. Schamrot ward ich und bequemte mich sachlich zu reden. Ich habe schon um dieser verdienten Zurechtweisung meinem Lehrer die Dankbarkeit immer bewahrt. Er schien sich in Bonn nicht wohl zu fühlen und hatte im Verkehr einen etwas wehleidigen Ton. Noch viel unbehaglicher fühlte er sich als Konservator des Museums in Wiesbaden, wo ich ihn im Herbste 1869 besuchte. Obgleich Schüler von Eduard Gerhard, dem man nachsagt, daß er eine Vase oder Bronze mit dem Worte »nichts als schön« bei Seite gelegt hätte, verlangte Kekule von einem Werke, das ihn fesseln sollte, Schönheit. Die Archäologie, an der er mitarbeiten mochte, war Kunstgeschichte, wie sie es für Winckelmann gewesen war, wenn er auch die Archäologie als die Wissenschaft der antiken Monumente gelten ließ. Jahns Tod hat ihn sehr rasch nach Bonn zurückgeführt, wo er neben Usener und Bücheler eine weite und befriedigende Wirksamkeit ausgeübt hat, wie sie ihm später Berlin nicht bieten konnte.
Der Privatdozenten sich anzunehmen, hielt der Verein überhaupt für seine Aufgabe, sorgte dafür, daß sie Zuhörer erhielten und lud sie manchmal zu dem Weine, der bei den Sitzungen getrunken ward, Menzenberger, vom Weinberge des alten Simrock. Ein Privatdozent war freilich vorhanden, der nicht gehört werden durfte, der schon damals unausstehliche Lucian Müller, dem der deutsche Boden auch bald zu heiß ward. Mit ihm hatten wir nur eine Begegnung. Als wir im Karneval als Bauern verkleidet (das billigste Kostüm) herumtollten, trafen wir ihn, wie er ohne Maske aus dem Gasthof zum Stern kam, er ward um ringt und unter dem Gesange »ich bin Lucian Müller, Lucian Müller, Privatdozent in Bonn« mit wilden Grimassen umtanzt. Die Menge lief zusammen und hatte ihre Freude daran. Das war schon am Montag; den Haupttag haben wir in Köln mitgemacht, in kleine Gruppen verteilt, und so tat ich wenigstens einmal einen Blick in die rheinische trotz aller Ausgelassenheit niemals rohe Festlust, ohne freilich von ihr angesteckt zu werden.
Ein anderer Privatdozent war Johannes Schmidt, der uns nicht so nahe kam, aber mit schuldigem Respekt betrachtet ward. Damals war er ein schöner schlanker Mann, mit dem man gelegentlich im Schwimmbade zusammentraf. Er las um 8, aber jeder bemühte sich, nicht zu verschlafen; zum Glück passierte es auch ihm, daß er unterweilen recht spät kam. Er erhielt bald eine verdiente Professur, sonst würde er sicher unter seinen Zuhörern einige gefunden haben, die sich der vergleichenden Sprachforschung zuwendeten.[94] So nahm man wenigstens so viel mit, daß die Schulgrammatik unzulänglich war und von den anderen Sprachen her aufgefrischt werden mußte. Niemand verkannte, daß in ihm ein reifer und bedeutender Forscher vor uns stand. Ich kaufte mir Schleichers Grammatik der indogermanischen Sprachen und spielte mit den Proben der mir unbekannten Dialekte, tiefer ging es nicht.
Der Philologe Eduard Hiller war aus dem Verein hervorgegangen, mußte demgemäß geehrt und gehört werden, was mehr Pflicht als Genuß war; er gab viel mehr Zitate als Gedanken.
Schließlich der Historiker Nissen, rhetorisch, beredt, witzig, selbstbewußt, auf die Distance, die den Studenten von ihm trennte, mehr haltend als die andern. Das einzige historische Kolleg, das ich gehört habe, war seine Geschichte der Westhellenen; es fesselte beim Anhören, ich habe gut nachgeschrieben. Es war aber eine ziemlich unselbständige Nacherzählung der antiken Berichte, in der sogar die fabelhaften Zahlen Diodors und die Zerrbilder der Tyrannen, wie sie Timaios gibt, wiederkehrten.
Ein Professor ward zuletzt noch für uns und speziell für mich bedeutend, ein Redner, mit dem ich keinen anderen vergleichen kann, Anton Springer. In meinem ersten Semester hatte ihn Krankheit bald zum Abbruch der Vorlesung über die Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts gezwungen. Wo gab es damals, wo gibt es heute die Behandlung eines solchen Themas? Es war in Inhalt und Form hinreißend, das größte Auditorium brechend voll, Zuhörer aus allen Fakultäten; nur die Katalogen fehlten. Er nahm ein Jahr Urlaub und hielt dann kunstgeschichtliche Übungen im Anschluß an Vasari, setzte also italienische Kenntnisse voraus. Die besaß ich und lernte nun wenigstens Giotto kennen, dessen Kunst mir seitdem ein Höchstes geblieben ist. Die Sehnsucht, ihn zu sehen, die Meister kennenzulernen, von denen Vasari erzählte, also die alte Sehnsucht nach Italien erhielt neue Nahrung. Ich kam aber auch in persönliche Verbindung mit diesem Lehrer. Die Verehrung für ihn war in der Studentenschaft noch lebendig, obwohl für viele nur in der Tradition. Nach seiner Heimkehr sagte irgendwer in unserem Vereine »dem müßten wir einen Fackelzug bringen«. Erst schien es toll, aber wir hatten noch einen älteren Genossen, der Corpsstudent war und Springer gehört hatte. Der meinte, die Corps ließen sich für einen Fackelzug gewinnen; bei der Finkenschaft glaubten wir den Versuch wagen zu können. Also frisch gewagt. Endlose Verhandlungen. Die Burschenschaften hielten freilich zurück, natürlich nur, weil die Corps mitmachten. Schließlich ist es glänzend durchgeführt. Ich durfte, ausstaffiert in den Farben der Fakultät, mitziehen,[95] ohne eine Fackel zu tragen, und in Springers Hause den Reden der Begrüßung und seiner Antwort beiwohnen. Es war der Glanzpunkt meines Studentenlebens. Das Universitätsjubiläum habe ich nicht mitgemacht.
Ich war 1869 erst kurze Zeit von meiner Moselreise in die Heimat zurückgekehrt, da kam die Kunde, daß Jahn am 9. September in Göttingen gestorben war. Ich verfaßte sofort ein lateinisches Epicedion und sandte es an die Bonner Zeitung, in deren Papierkorb es verschwand. Bald war ich entschlossen, nicht nach Bonn zurückzukehren. Springer half mir zur Exmatrikel, Diels schickte meine Sachen. Ich richtete mich im Oktober in Berlin zu einsamer Arbeit ein, entschlossen, sobald als möglich zu promovieren. Einsam ward es; neue Bekannte habe ich nicht gefunden. Während des Winters gab es Besuche der Eltern, also Theaterbesuch; die königliche Oper stand auf der Höhe: Mozart hat mich entzückt, bei jeder der seltenen Gelegenheiten später immer von neuem, auch anderes zog mich wohl an; aber ohne Anregung von anderer Seite suchte ich das Theater kaum je auf. Vom Schauspiel hat mir nur die Jachmann-Wagner einen tieferen Eindruck geweckt. Die Berliner Posse des Wallnertheaters gewährte damals und nach 71 auch reines Vergnügen. Von Hause drängte man auch, daß ich einige Familien besuchte, aber nur zu dem greisen Obertribunalsrat Kuhne ging ich gern. Gustav zu Putlitz war Hofmarschall beim Kronprinzen, seine Frau Oberhofmeisterin. Da mußte ich Besuch machen, wußte mich nicht zu benehmen und war erleichtert, als sie aus der Hofhaltung ausschieden und fortzogen5. Aus Bonn kam zum Sommer 1870 Dettmer; förderlich war mir der Verkehr mit Otto Lüders, der beim II. Garderegiment sein Jahr abdiente und anschließend die Offiziersübung machte, nebenher daran arbeitete, seine Dissertation zu einem Buche auszugestalten. Er stammte aus kleinen katholischen Verhältnissen, eine Schwester war Nonne, aber er war für die große Welt geschaffen und die Stellung bei Welcker hatte ihm die Protektion der Familie Naumann6 eingetragen, die ihm weiterhalf. Ein schöner Mann mit gewinnendem Wesen, reichgebildet, da gelang ihm alles; daß er im Regiment zum Offizier gewählt[96] ward, war gleich nichts Geringes. Noch hatte er die akademische Laufbahn im Auge, aber innerlich zog es ihn wohl anderswohin. Der Verkehr war mir die beste Erholung von der einsamen Arbeit und menschlich war es Erziehung.
Die Universität bestärkte meinen Drang, mit dem Studium abzuschließen. Viel hören mochte ich nicht mehr, hatte auch Unglück. Auf Archäologie bei Friederichs hatte ich besonders gerechnet; nach wenigen Stunden vor den Originalen des Museums starb er. Geschichte der Philosophie wollte ich bei Trendelenburg hören; er war noch nicht bei Platon, da erkrankte er und hat sich nicht wieder erholt. Kirchhoffs Art ertrug ich nicht. Ein Nachbar sagte zu mir in der ersten Stunde: »hier ist es fein; man geht nur in jede zweite Stunde, denn er wiederholt immer den Inhalt der vorigen, so daß es reicht.« Curtius enttäuschte. Er hat in den Vorlesungen in demselben Tone die klassizistische Begeisterung zur Schau getragen wie in den Festreden. Sie war berechtigt, als er mit O. Müller in Griechenland war, sie war auch noch echt, aber schon darin sprach sich aus, daß er keine innere Fortentwicklung genommen hatte. Dafür konnte der gewinnende Reiz eines Mannes, der eine vergangene Zeit wundervoll repräsentierte, nicht entschädigen. Um ihm gerecht zu werden, muß man festhalten, daß die Ausgrabung von Olympia sein persönliches Verdienst ist, und sein Peloponnes ein Buch, das zu den wenigen gehört, die aus den 50er Jahren stammend noch lebendig sind. Mommsens Reich lag mir noch zu fern; er war auch oft auf Reisen für seine Inschriften. Etwas Neues und absolut Vollkommenes gab nur Bonitz in einer Vorlesung, die auf Erklärung der Poetik des Aristoteles hinaus wollte, aber der eigentliche Wert lag in der langen Einleitung. Bonitz stand auf der Stufe, an das Katheder gelehnt, ohne Heft und trug ganz ruhig, ganz klar in gewählter Sprache das System der aristotelischen Philosophie vor, ohne Ballast von Belegen, ohne kritische Beleuchtung, als ob er selbst Peripatetiker oder gar der Meister selbst war. Man lernte nicht nur Aristoteles kennen, sondern lernte wirklich philosophisch denken, ganz so, wie man einst Mathematik gelernt hatte. Was ich von den Berliner Studenten sah, stieß ab. Ein Nebenmann sah die Reinschrift meiner Dissertation und sagte »Sie wollen doch nicht hier promovieren? Dazu geht man nach Halle und macht den kleinen Doktor, der kostet wenig, zu drucken braucht man nicht, alles ist ganz bequem.«
Für die Philologie war also Haupt der einzige. Das Seminar, in dem ich ein paarmal hospitierte, bestätigte was Diels berichtet hatte: da war man in Bonn anderes gewohnt. Auch der Properz enttäuschte; den Prügelknaben Herzberg immer von neuem abgestraft zu hören war kein Genuß, und daß[97] die Elegien nach Müllenhoff in Strophen zerteilt wurden, ertrug ich nicht. Mir war der Unsinn der Dialogresponsion in der Tragödie schon in Bonn zum Ekel geworden. Diese Verirrungen waren ja damals Mode; Lachmann war nicht ohne Schuld daran. Gepackt hat mich Haupt durch die Ilias, durch sein Ethos, die unbedingte Hingabe an Lachmann. Es griff ans Herz, wenn er fast mit Tränen in der Stimme seinen Glauben an den Freund und Meister bekannte, um dessentwillen er alle Verhöhnung willig ertrüge. Dem gab ich mich völlig hin. Lachmanns Lucrez und Bentleys Horaz mußten schon für die mündliche Prüfung durchgearbeitet werden. Der Lucrezkommentar machte mich zum gläubigen Lachmannianer und mein Handexemplar der Ilias zeigt die Lieder mit Buntstift ausgezeichnet. Die persönliche Verehrung für Haupt ging mit der für Welcker und Jahn zusammen; daß sich das wissenschaftlich nicht vertrug, kam mir nicht zum Be wußtsein.
Am Anfange des sechsten Semesters war die Dissertation fertig. Der Dekan Curtius erwirkte beim Ministerium, daß ich ausnahmsweise zum Doktorexamen zugelassen ward. Bei der Meldung fertigte mich Haupt in der Tür ab. Auf die Frage, was er mir vorlegen sollte und meine ausweichende Antwort, hieß es: »machen Sie keine Dummheiten«, und Lucrez ward gewählt. Kirchhoff, der Hauptreferent, fängt sein Referat an »soweit ich die Dissertation gelesen habe«; die Rüge der falschen Form παραδοξώτατον, die ich mehrfach geschrieben hatte, ist die einzige Hilfe, die mir geworden ist. Haupt bezeichnet seine Prüfung im Examen als »Unterhaltung« und so war sie ein vollkommener Genuß7. Auch das andere ging glatt. Mir selbst erschien das Prädikat summa cum laude gar nicht als etwas sehr Besonderes. Niemand war da, mir zu gratulieren. Ich setzte mich still mit der Zeitung in eine Kneipe, bald war alles Examen, alle Philologie vergessen. Es war der 14. Juli 1870: der Krieg in Sicht. Die feierliche Disputation fiel fort, weil ich Soldat ward, ich habe also den schönen Eid, wie ihn Schleiermacher[98] formuliert hatte, nicht geschworen, aber gehalten. Er mußte fortfallen, als die lateinische Sprache nicht mehr allen Promovenden bekannt war, und die Verpflichtung ist beseitigt, den Ehrendoktor der Philosophie von keiner anderen Universität anzunehmen. Ich habe wegen des alten Eides zuerst auch den Doctor of letters abgelehnt, den ich von Dublin erhalten sollte. Später habe ich mich der neuen Praxis anbequemt, die im internationalen Verkehre kaum zu vermeiden war.
Als eine meiner heiligsten Erinnerungen betrachte ich den Tag der Heimkehr König Wilhelms aus Ems. Ich blieb auf der Straße, stand am späten Abend mit der Menge vor dem Palais, die sich mit Hochrufen und Gesang nicht genugtun konnte, bis ein Adjutant auf den Balkon trat und um Ruhe bat, der König hielte Kriegsrat. Schweigend verlief sich die Menge. Der alte Preußenkönig, das alte Preußenvolk.
Ein kleiner Teil der Dissertation reichte für den Druck hin, den ich ohne Hilfe überhastet besorgte, wenn ich müde vom Exerzieren nach Hause kam. Das war alles gleichgültig geworden. Krieg war das Losungswort.
Was hatte mir die Studentenzeit für meine Wissenschaft gegeben? Anregungen genug nach anderen Seiten, die auch der Philologie in dem engen Sinne der antiken Grammatik zugute kamen, vor allem die Archäologie, wenn sie auch nur Kunstgeschichte war, und unglückliche Umstände für mich den Unterricht sehr beschränkt hatten. Aber was war die Philologie, in die man eingeführt ward? Textkritik; alles andere kam nur heran, soweit es ihr diente, wie die Lehre Epikurs in Lachmanns Lucrezkommentar. Philosophische Schriften hatten mich in Vorlesungen und Übungen mehr beschäftigt als alles andere, aber was da in die Forschung einführte, waren nur literarische Fragen, nach Dubletten in der Ethik und nach der Reihenfolge der Bücher in der Politik des Aristoteles. Um die klassischen Schriftsteller, zumal die Dichter, drehte sich alles; die übrige Literatur war Nebenwerk; wer's wollte, mochte sich darin umsehen. Vom Leben, der Sitte, dem Glauben der alten Völker erfuhr man nichts; gut, daß ich Gallus und Charikles, Guhl und Koner aus Pforte mitbrachte. Selbst wenn Jahn in den Hellenismus einführte, versteckte sich das in die Einleitung zu Theokrit. Eine Einführung in die stilistische Manier und die Kunst der Komposition, wie sie Peter im Tacitus gab, fand ich auf der Universität nicht, und historische Kritik lehrte sein Geschichtsunterricht, nicht die Rhetorik Nissens. Dabei hatte die Philologie von sich die höchste Meinung, weil sie Methode lehre, allein vollkommen lehre. Methode, via ac ratio, war das Losungswort. Sie schien die Zauberkunst, welche alle verschlossenen Türen öffnete, auf sie kam es an;[99] Wissen war Nebensache. Die Berliner Schule der Lachmannianer lebte in offener Fehde mit den Ritschelianern, und in dem Glauben an die allein seligmachende Methode waren sie doch alle befangen. Was ist herausgekommen? Von der Konjekturenjagd will ich gar nicht erst reden, aber da sind Ribbecks Juvenal, die Tragödien Senecas von Richter und Peiper, in denen die Zahlenspielerei der Responsion die ärgsten Orgien feiert; aus Berlin kamen die lüderlichen Ausgaben Eyßenharts. Rudolf Hercher war ein liebenswürdiger, witziger, auch ein findiger Mann, mit Recht Mitglied der Akademie, aber die Texte hat er schauderhaft interpoliert; es war ein Vorzug, daß er bei Cobet lernte, dessen stumpfe Bestreitung durch andere ihr Ziel verfehlte, aber auch Cobets scharfe Kritik schnitt neunmal von zehnen in das gesunde Fleisch und er war in den Wahnglauben an den codex optimus als unicus und die zugehörige bequeme Verachtung des Suchens in den andern Handschriften besonders tief verstrickt. Dasselbe Prinzip der »einen Quelle« herrschte in der Historie. Was Lehrs im Hesiod, Horaz, Ovid sich erlauben durfte, erscheint uns heute, wenn es noch jemand ansieht, als das Äußerste von Verständnislosigkeit. Dabei faßte er seine Methode in zehn Geboten der Kritik zusammen; es kam sogar ein gradus ad criticam wie einst ad Parnassum auf den Markt. Ich bekannte mich selbst als orthodoxen Lachmannianer und habe auch auf dem Katheder gemeint, meine Aufgabe wäre Methode zu lehren, wenn auch nicht allein für Textkritik. An der Konjektur habe ich noch meine Freude, so viele falsche, veröffentlichte und erst recht unveröffentlichte ich begangen habe. Die das Konjizieren verachten, sind Füchse, denen die Trauben zu hoch hängen. Aber von Anfängern soll man sie nicht verlangen, wie es im Bonner Seminar geschah. Allmählich ist mir die Einheit der Wissenschaft aufgegangen8, die weder in soundsoviele Disziplinen zerschnitten noch für die Leistungskraft des Einzelnen zurechtgestutzt werden darf. In ihrem Dienste tue jeder, was er kann, habe aber das Ganze vor Augen und verachte nicht, was es selbst nicht kann.
Die Schlacht von Marathon ist etwas, das man ganz kennen und verstehen möchte. Wie ist das möglich? Da ist das älteste Zeugnis das Gemälde des Polygnot gewesen, also muß es aus den schriftlichen Nachrichten hergestellt werden9, so weit es geht. Dazu muß man den Stil und die Darstellungsart[100] des Malers kennen: hier also eine Aufgabe der Archäologie. Dann kommt der Bericht des Herodot, der das Gemälde gesehen hat und Erzählungen von Teilnehmern an der Schlacht verarbeitet. Was die späteren Geschichtschreiber bringen, ist wertlos bis auf die Nachricht, daß das neunte Regiment, die Aiantis, auf dem rechten Flügel stand10. Dies festzustellen ist Aufgabe der vergleichenden Interpretation, richtige Philologenarbeit, Interpretation, aber nicht nur der Texte, sondern auch Quellenkritik auf Grund literargeschichtlicher Vergleichung und Erfassung der einzelnen Vermittler und Verderber des herodotischen Berichtes; diesen selbst versteht man erst, wenn man weiß, was Herodot wollte und wie er erzählt. Nun ist aber noch der Grabhügel der Gefallenen da. Daß er es wirklich ist, mußte die Ausgrabung lehren. Und das Gelände ist da: topographische Studien müssen hinzutreten, ermittelt muß werden, wo die Athener sich aufgestellt hatten, um den Persern den Weg nach Athen zu verlegen, wo die Perserflotte ihre Schiffe auf das Land gezogen hatte. Damit wird das Schlachtfeld gefunden und werden die notwendigen Bewegungen des Angreifers deutlich, dessen Bewaffnung und Taktik mitbestimmend ist. Nun endlich kommt der Historiker an die Reihe, der diesmal auch militärische Einsicht haben muß. Ihm fällt das Letzte zu: erschließen, wie es sich wirklich zugetragen hat, wo dann gemäß der unsicheren Überlieferung ungelöste Probleme bleiben, z.B. über das Vorhandensein und die Verwendung von persischer Kavallerie. Wird es nicht deutlich, daß viele hier zusammenwirken müssen, damit die Wahrheit ermittelt werde, soweit es möglich ist? Über vieles, was wir wissen möchten, können wir die Wahrheit nicht erreichen; da heißt es sich bescheiden. Und wie läppisch ist der Dünkel gewisser Historiker, die meinen, Philologie, Archäologie usw. wären ancillae historiae, wie ehedem die Theologen von der weltlichen Wissenschaft meinten. Mir hat einer zu sagen gewagt: »Ihr bratet das Beefsteak, das wir essen.« Ich will das Bild nicht weiter ausführen, denn was würde denn aus dem Braten im Magen des Historikers?
Spät erst habe ich gewagt, den Studenten eine Einführung in die Philologie zu geben, in der ich lieber darstellte, wie sie sich zum Ganzen der Altertumswissenschaft ausgewachsen hat, und an Beispielen zeigte, was alles nötig ist, um eine Wahrheit zu finden. Aber von der Methode mußte doch[101] gehandelt werden, und es machte mir Spaß zu zeigen, wie die Gebote des kritischen Katechismus, trotzdem daß sie alle eine Wahrheit enthalten, durch ebenso berechtigte Sprüche einander scheinbar aufheben, wie es ähnlich mit den Sprichwörtern geht. Auch wenn viele meiner Antithesen sich zunächst auf die Textkritik beziehen, haben sie doch für jede Untersuchung die entsprechende Geltung. Jetzt bin ich so alt, daß ich es mir erlauben darf, meinen Katechismus herzusetzen, und der Platz scheint mir hier der beste, nachdem berichtet ist, was Schule und Universität mir mitgegeben haben.
Du sollst nicht vor Codices niederfallen (Lehrs).
Auch von dem Schreiber gilt quivis praesumitur bonus.
Ob Lehrs überhaupt eine gute alte Handschrift verglichen hat, ist sehr fraglich. Die Entdeckung vieler antiker Bücher hat gelehrt, daß die byzantinischen Schreiber ihre Sache überraschend gut gemacht haben; der Druck sichert den Text keineswegs besser. Handschriften der Jahrhunderte 14–16 sind freilich oft genau so zu beurteilen wie moderne »emendierte« Ausgaben. Die schweren Verderbnisse stammen dagegen aus dem Altertum und lassen sich oft nicht heben.
Du sollst Ehrfurcht haben vor der Überlieferung.
Lies cry for refutation (Carlyle).
Da muß man freilich wissen, was Überlieferung ist, handschriftliche Überlieferung, an der man es am besten lernt, aber von jeder geschichtlichen Überlieferung gilt es gerade so. Es genügt nicht, quid traditum acceperimus (Lachmanns recensio), man muß sich vergewissern, quale sit, was zu der Frage führt, quo modo traditum sit. Der Text hat eine Geschichte erlebt, von der Handschrift des Verfassers bis auf den Zustand, in dem er vorliegt: die muß verfolgt werden. Wenn man das tut, stellt sich überaus häufig heraus, daß man das Überlieferte nur richtig zu deuten, d.h. in die ältere Schreibweise umzusetzen braucht, damit das Wahre ans Licht tritt, das in ihm erhalten ist. Geistreiche Kritiker mögen intuitiv erfassen, was der Verfasser schrieb, wo es ihnen dann einerlei sein mag, ob eine Variante echte Überlieferung oder alte Konjektur ist; aber wie gefährlich, oft verderblich diese geistreiche Willkür ist, sollte die Leidensgeschichte der meisten Texte lehren.
Du sollst Ehrfurcht haben vor den Wissenden.
amicus Plato, magis amica veritas.
Die Wissenschaft kennt wie Gott keine προσωπολημψία, aber wir bleiben alle gegenüber vielen großen Forschern, lebenden und toten, allezeit Schüler, [102] magnorum virorum praesentia non magis utilis est quam memoria sagt Seneca. Die ganz Großen sollen in unserm Gedächtnis wieder ganz lebendig werden.
Nur wer sich willig ergibt, befreit sein Urteil.
So Lachmann; aber es ist die Gefahr, daß das Urteil durch die Hingabe gebunden wird, wie es Haupt gegangen ist.
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.
Auch im Meister zeigt sich die Beschränktheit des Sterblichen.
Der Sprachgebrauch entscheidet.
Das Individuelle ist immer Abweichung vom Gewöhnlichen.
Analogie und Anomalie, Elmsley und Hermann haben beide Recht und Unrecht.
Du sollst einen Schriftsteller zuerst für klüger halten als dich selbst.
Du sollst keinen Schriftsteller klüger machen als er war.
Nach beiden Seiten oft gefehlt zu haben, bin ich mir bewußt. Für die geschichtliche Kritik heißt das, eine überlieferte Geschichte zuerst als wahr zu behandeln, aber ebenso einem überführten Schwindler nichts mehr zu glauben.
nil tam difficilest quin quaerendo investigari possiet (Ritschl)
quod vides perisse perditum ducas.
Du sollst freilich suchen, aber dich bescheiden, wo uns das Wissen versagt ist, sonst gerätst du ins Schwindeln. Weder dem Homer noch dem Plautus können wir die ursprüngliche Sprachform geben. Eine pragmatische Geschichte der Pentekontaetie oder der Eroberung Italiens durch Rom ist unerreichbar.
nihil in arte parvum.
minima non curat praetor.
nec scire fas est omnia.
Auch das absolut des Wissens Unwerte darfst du nicht verachten, denn es kann relativ zur Erkenntnis des Wissenswerten führen. Aber du sollst Quisquilien als Quisquilien behandeln. Die adnotatio critica steckt oft voll von ihnen, und die modernen Disziplinen, Archäologie, Epigraphik, Papyrologie treiben es damit noch ärger.
Sei nie zu vornehm wie Carlyles Mr. Dryas Dust zu arbeiten.
Non fumum e fulgore sed e fumo dare lucem.
Wer immerfort nach Schätzen gräbt und froh ist, wenn er Regenwürmer findet, wird bald nach Regenwürmern graben. Aber du sollst dich nicht abschrecken lassen, nach den Schätzen zu graben, wenn du einmal Regenwürmer gefunden hast; nur wirf sie fort.[103]
Ob du einen Vers, ein Gedicht, einen Rechtssatz, ein Philosophem, einen Gott verstehen willst, immer mußt du dich in eine fremde Seele, eine fremde Individualität versetzen. Aber du mußt selbst eine individuelle Seele und einen selbsterworbenen Glauben haben.
Die letzte Aufgabe der philologisch-historischen Wissenschaft ist, durch die Kraft der wissenschaftlich geschulten Phantasie vergangenes Leben, Fühlen, Denken, Glauben wieder lebendig zu machen, auf daß alles, was von belebender Kraft in jener Vergangenheit ist, auf die Gegenwart und Zukunft fortwirke. Dazu muß der Kopf kühl sein, aber heiße Liebe im Herzen brennen. Nur der Eros führt zum Anschauen der Wahrheit und des ewig Lebendigen.
Und setzest du nicht das Leben ein,
nie wird dir das Leben gewonnen sein.
1 | Gemäß der italienischen Sitte, die namentlich zu Hochzeiten kleine gelehrte Festschriften liebt, waren einige Gratulationsschriften vom archäologischen Institute erschienen, z.B. an Welcker; aber das war etwas ganz anderes. |
2 | Sehe man, was im Kommentar zu Persius und in den »Wandgemälden in der Villa Pamfili« über die kleinen halbliterarischen Gattungen, Mimen, Biologen u. dgl. steht: wer übersah das sonst? Anregung von Valckenaer her ist unverkennbar, überhaupt im Persiuskommentar. Haupt verglich Jahn daher mit Casaubonus, mit halbem Beifall, so wie Scaliger über jenen und seinen Persius urteilte, sehr mit Unrecht. Wenn es nur mehr Bücher gäbe wie diese. Kritische und leider nur zu oft dabei unkritische Textausgaben gibt es nur allzu viele. |
3 | Immer wieder ließ er sich die griechischen Dichter vorlesen, Pindar vor allem, dann auch Goethe. Träume seltener Art beschäftigten ihn, wovon das Tagebuch der griechischen Reise Proben gibt. Da er noch reisen konnte, fuhr er einmal nach Köln, um die Hugenotten zu hören; aber bei dem langen Duett des vierten Aktes rief er laut aus: »Wollen Sie nicht endlich auseinander gehen«. Otto Jahn war ihm ein treu sorgender Freund. |
4 | Unter den theologischen Professoren befand sich einer mit Namen Christlieb, der wohl irgendwie Anstoß erregt haben muß; ich weiß nichts von ihm. Schleiermachers geistreiche Rätsel wurden viel zitiert, darunter »Geteilt mir heilig, vereint abscheulich« (Meineid), und die Lösung »Christlieb« ward von Mund zu Mund getuschelt. |
5 | Ich habe damals gehört und keinen Anlaß zu bezweifeln, daß der Grund zu der plötzlichen Entlassung eine Ohrfeige war, die Frau von Putlitz dem zehnjährigen Prinzen Wilhelm verabreicht hatte, als er sich über den König, der Hannover besuchen wollte, die Äußerung erlaubte »Großpapa fährt in die gestohlenen Provinzen.« Das ertrug die temperamentvolle Preußin nicht. Bei der princess royal, deren Gesinnung aus ihrem Sohne sprach, war sie nun freilich unmöglich. |
6 | Kekule berichtet im Leben Welckers S. 185 und öfters über diese Familie. |
7 | Daß er mich zuerst eine lange Versreihe lesen ließ und dann sagte: »Gut; verstehen tun wir's beide und übersetzen können wir's beide nicht«, habe ich schon anderswo berichtet. Er fragte nach anderer didaktischer Poesie, ich nannte Arat, Manilius, Oppian und meinte gestehen zu müssen, daß ich sie alle nicht gelesen hätte. »Ist auch noch nicht nötig«, war die Antwort. Den scherzenden Ton kennzeichnet folgendes: es war davon die Rede, daß der schließende s bei Lucrez für den Vers unberücksichtigt bleiben kann; ich konnte auch die Schlußzeile Catulls anführen. Da bestürzte mich die Frage: »kennen Sie auch einen Dichter, der das s vor Vokalen ausstößt? Nein? Na, dann danken Sie Gott, Gerlach heißt er!« Damit schloß das Examen. Leos Plautinische Forschungen haben Haupt nicht Recht gegeben, aber Gerlach damit ebensowenig. Nur die Wissenschaft ist fortgeschritten. |
8 | Göttingers Rektoratsrede, in den drei ersten Auflagen meiner Reden und Vorträgen abgedruckt. |
9 | Der Maler hatte dargestellt, wie Kynegeiros ein Schiff gepackt hatte und ein Perser seinen Arm mit der Axt schlug. Und der Feldherr Kallimachos, der auch den Heldentod erlitten hatte, stand aufrecht, die Seinen anfeuernd, von einem Speere, durchbohrt. Daraus entstand die dumme Fabel, er hätte im Tode noch weitergekämpft, und die Rhetoren der Kaiserzeit durften das ernst nehmen. Wir besitzen die Deklamationen des Polemon. |
10 | Das erwähnte eine Elegie des Aischylos, der bei Marathon im Gliede gestanden hatte. |
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