XV

[46] Denn er hatte mit der Gegenwart des Geistes, die ihm eigen war, überdacht, daß er ihr zu Fuße weit leichter folgen, und weit hülfreicher seyn könne, als zu Pferde, allenthalben durch das Dickicht ängstlich und gefahrvoll aufgehalten. Schnell war er daher abgesprungen, und flüchtig wie das Reh, das die erste Veranlassung dieses Schreckens gab, eilte er ihr nach, nicht ohne aufs tiefste von seiner Verantwortlichkeit bewegt zu seyn, und voll quälender Besorgnis: wie er sie finden werde.

Die einzelnen Blutstropfen auf dem grünen Moose waren ihm ein purpurner Leitfaden, ihre Spur zu verfolgen, und endlich, – welch ein Schauder rieselte durch alle seine Nerven – endlich sah er sie in weiter Entfernung leblos auf der Erde liegen, und den Araber unaufhaltsam, und wie vom bösen Gewissen gejagt, von dannen sprengen.[46]

Er flog zu ihr hin, und warf sich vor ihr nieder. Todtenblässe bedeckte ihre Wangen und Lippen. Der Ast, der ihre Stirn verletzte, hatte ihr das Barret abgestreift, und die festgeflochtenen Haare gelößt, die lang und dunkel an ihr niederhingen. Gleichwohl war trotz der Willkühr des Falles ihre Stellung so edel, der Ausdruck ihrer in den Fesseln der Ohnmacht erstarrten Züge so rührend, daß Alexander tief erschüttert mit gefaltenen Händen vor ihr lag, und mehrere Momente in ihrem Anschauen verlor, ehe er so viel Fassung gewann, um irgend etwas zu ihrer Hülfsleistung zu thun.

Das Flüstern einer nahen Quelle weckte ihn zuerst aus der dumpfen Betäubung, in der er zu ihren Füßen kniete. Er raffte sich auf, und tauchte sein Tuch in ihre crystallene Kühlung, es dann sanft und leise um Erna's verwundeten Kopf zu schlagen. Noch perlte ihr reines Blut in hellen Tropfen gleich Rubinen auf der Lilienweißen Stirn und zwischen den braunen Locken hervor, aber er hatte doch den Trost zu bemerken, daß ihre Wunden nicht tief waren. Sorgsam ihr auf den rauhen Boden hingesunknes Haupt an seine klopfende Brust lehnend, ihre kalten Hände zwischen den seinigen wärmend, hatte er endlich die unaussprechliche Freude, ihr Bewußtseyn leise wieder aufdämmern zu sehn.[47]

Welch ein Erwachen! Sie glaubte, sie habe geträumt. Von seinen Armen umschlossen, an seinem Busen sich wieder findend, verlöschte die Erinnerung des gehabten Schreckens und der erlittenen Schmerzen in ihrer Seele, die keinen Raum neben den Gefühlen hatte, welche seine vertrauliche Nähe ihr gab.

Sie zog ihre Hand nicht aus der seinen. Mit der ganzen Kraft des neu erwachten Lebens, mit der vollen Gluth still entflammter Liebe, und mit der innigsten Dankbarkeit für das Entzücken, mit welchem er sie dem gefahrvollen Scheintod entrissen sah, blickte sie ihm ins Auge, und lächelte ihm zu, wie nur Seelige lächeln.

Doch es war nicht Erwiederung ihrer liebenden Empfindung, die aus seinen Blicken strahlte – es war nur die aus ganz gewöhnlicher Gutmüthigkeit entspringende Freude, sie gerettet zu sehn, sie nicht als Leiche ihrer Mutter wiederbringen, und den herzzerschneidenden Vorwurf erwarten zu müssen, daß sein Verschulden ihr die Tochter raubte. Anders glaubte aber Erna sein Innerstes bewegt, weil das ihrige ihr der Maasstab war, nach dem sie es beurtheilte. Ihr schien es aufs tiefste ergriffen – ein süßer Wahn überredete sie, daß sie seine Gesinnung eben so durchschauete, wie die ihrige rein und offen vor ihm lag, und in ihrer kindlichen Unerfahrenheit ahnete sie nicht, daß[48] selbst ihre forschendsten Blicke wie von einem ehernen Schilde von der undurchdringlichen Rinde abprallten, womit Verstellung sein eigentliches Wesen umgab.

Wie dank' ich Gott für mein Leben! flüsterte sie leise, und hob das schöne Auge, in welchem eine Thräne funkelte, zum Himmel, indem sie seine Hand sanft zu drücken wagte. Ach, in den angstvollen Momenten, wo ich es zu verlieren fürchtete, hab ich zum erstenmal seinen ganzen vollen Werth erkannt, und recht von Herzen gebetet, daß es mir erhalten bliebe.

Das gute, fromme Kind sah so verklärt in der Begeisterung der Dankbarkeit aus, war so innig durchdrungen von dem Glücke des Daseyns, daß Alexander mit Wohlgefallen auf den durch einen ganz neuen Ausdruck beseelten Zügen weilte, aus denen eine himmlische Freundlichkeit ihm entgegen strahlte. Leicht entflammt und durch die Einsamkeit, so wie durch das Neue dieser Situation hingerissen, konnte er nicht umhin, seinen Hang zur Galanterie nachzugeben, und der sich so hold ihm hingebenden Erna recht viel Schönes und Liebeathmendes zu sagen, was in dieser reizbaren Minute, und bei dem festen Glauben, in ihm ihren Bewerber zu sehen, doppelt tiefen Grund in ihrem unbewahrten Busen faßte.

Und als er im Wechselgespräch, das von seiner[49] Seite immer mehr den Schein der Leidenschaft annahm, durch ihr naives, unverstelltes Entgegenkommen wie in eine fremde Welt entrückt den Wallungen nicht gebieten konnte, die sie in ihrer Unschuld für Liebe hielt, und er sie stürmisch an seine Brust zog, und auf ihre jungfräulichen noch nie berührten Lippen den ersten glühenden Kuß drückte, der ihr das Siegel einer ewigen Treue schien – da konnte ihr kindliches, tief erregtes Herz die Fülle seines Entzückens nicht bergen, und in seliger Wehmuth ihn umfassend, sprach sie es aus, wie sie ihn liebe, und wie glücklich sie sich preise, sich die Seinige nennen zu dürfen.

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 46-50.
Lizenz:
Kategorien: