Ein Andres

[155] 1884.


Fünf wurmzernagte Stiegen geht's hinauf

Ins letzte Stockwerk einer Miethskaserne;

Hier hält der Nordwind sich am liebsten auf,

Und durch das Dachwerk schaun des Himmels Sterne.

Was sie erspähn, o, es ist grad genug,

Um mit dem Elend brüderlich zu weinen:

Ein Stückchen Schwarzbrod und ein Wasserkrug,

Ein Werktisch und ein Schemel mit drei Beinen!
[155]

Das Fenster ist vernagelt durch ein Brett,

Und doch durchpfeift der Wind es hin und wieder,

Und dort auf jenem strohgestopften Bett

Liegt fieberkrank ein junges Weib darnieder.

Drei kleine Kinder stehn um sie herum,

Die stieren Blicks an ihren Zügen hangen;

Vor vielem Weinen ward ihr Mündlein stumm

Und keine Thräne mehr netzt ihre Wangen.


Ein Stümpfchen Talglicht giebt nur trüben Schein,

Doch horch, es klopft, was mag das nur bedeuten?

Es klopft und durch die Thür tritt nun herein

Ein junger Herr, geführt von Nachbarsleuten.

Der Armenhifsarzt ist's aus dem Revier,

Den sie geholt aus Mitleid mit der Kranken,

Indeß ihr Mann bei Branntwein oder Bier

Sich selbst betäubt und seine Wuthgedanken.


Der junge Doctor aber nimmt das Licht

Und tritt mit ihm ans Bett des armen Weibes;

Doch gelb wie Wachs und spitz ist ihr Gesicht

Und kalt und starr die Glieder ihres Leibes.

Da schluchzt sein Herz, indeß das Licht verkohlt,

Von niegekannter Wehmuth überschlichen:

Weint Kinder weint, ich bin zu spät geholt,

Denn eure Mutter ist bereits – verblichen!

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 155-156.
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