Gesicht

[125] Durch der Vergangenheit Gefild

Schwebte mein Geist,

Auf der Geschichte Blättern

Weilte mein Auge,

Als mit dunkelem

Sternbesäeten Fittig

Ueber die Erde

Hinzog die Mitternacht.

Auf meine Schläfe

Legte sich's plötzlich

Wie beschwörende

Zauberhand,

Meine Augen erkannten

Nicht mehr die Lettern

Und diese dehnten sich aus

Und wuchsen

Und waren zu fassen

Und wurden zu Körpern ...

Und plötzlich

Stand ich auf einem

Unendlichen,[125]

Großen Friedhof ...

Von Horizont zu Horizont

Reichte die Reihe der Gräber,

Und auf ihnen standen

Kreuze und Male,

Und dazwischen glühten

Lichter, als wäre

Der Tag aller Seelen.

Wie ich nun hinblickte

Sah ich, daß aus den Gräbern

Jedem wuchs eine Hand,

Eine anklagende Todtenhand,

Den Richter anflehend

Um Gerechtigkeit.

Und an den Kreuzen

Hingen blutige

Leichname

Mit schmerzverzerrten

Gesichtern

Und gebrochenen Augen

Und von den erblaßten,

Wehdurchzuckten Lippen

Tönte die Klage

Gegen Tyrannen

Und alle die Grausamen,

Die seit der Welt Beginn

Die Menschheit gepeinigt

Und gemartert,

Die nicht wußten,

Daß die Menschen

Alle nur Brüder

Und die der Liebe vergaßen ...

Die Leuchten aber

Waren Scheiterhaufen,

In denen

Verdammte stöhnten,

Und unter den

Steinernen Gräbermalen

Keuchten Schatten,

Als trügen sie[126]

Noch wie dereinst

In grausamem Frohndienst

Die Felsenblöcke

Hin zum Baue

Der Pyramiden ...


Schaudernd stand ich,

Da rief eine Stimme:

Die du hier siehst,

Es sind die Schatten

Der Armen und Elenden,

Der unschuldig Verdammten.

Der Märtyrer,

Die Nero mordete,

Und die auf Philipps Weisung

Des Feuers Rachen verschlang.

Alle unschuldig

Gequälten Seelen

Hier führen sie Klage

Gegen ihre Peiniger.

Jeder Frevel

Ist hier verzeichnet,

Den Menschen begingen

Seit der Welt Beginn,

Auf daß die Armen

Gerächt würden

Und die Bösen gerichtet,

Auf daß die Schlechten

Seien auf ewig

Der Menschheit zum Abscheu,

Und ihr Name

Werde genannt nur

Mit einem Fluche ...


Der Kirchhof, auf dem du stehst –

Dieser düstere Vehmgrund:

Wisse, er ist das Gericht

Der Geschichte ...

Quelle:
Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 125-127.
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