III.

[772] Frankfurt, den 1. Mai


Ich lese in der Zeitung: Prudhomme, der älteste der französischen Journalisten, sei gestorben. Ich kannte diesen Mann, ich habe ihn oft besucht. Er sprach viel; aber weniger achtsam hörte ich auf das, was er sagte, als ich achtsam in seinem Gesichte las, das, kalt und grau wie ein Leichenstein, die verwitterte Inschrift trug: gestorben 1794. Im Anfange der Revolution schrieb er das[772] meistgelesene, meistverbreitete Blatt, l'ami du peuple, das in eine gefährliche Oktavform die ungeheuersten Grundsätze zusammendrängte. Wie er mir erzählte, wurden vierzigtausend Exemplare davon verkauft. Wenn Prudhomme von jenen Tagen sprach, wo die Freiheit jung und er ein Mann in seiner Stärke war, flackerte sein niedergebranntes Auge hoch auf, und seine zerbröckelte Stimme bekam wieder Fülle und Kraft. Redete er aber von spätern und von den neuesten Zeiten, dann sprach er so müde, verdrossen und schläfrig, daß es unbehaglich war, ihn anzuhören. Von Freiheit in einer konstitutionellen Monarchie hatte er gar keine Vorstellung, er war ein absoluter Republikaner. Der republikanische Absolutismus ist noch verderblicher als der monarchische; man kann diesem durch Ruhe und Gehorsam ausweichen, jenem aber nicht; denn die Ruhe, eine Tugend des Untertanen, ist ein Verbrechen des freien Bürgers. Aber der Republikanismus ist verzeihlicher als der Monarchismus; denn bei ihm ist nur Wahn, was bei dem andern selbstbewußte Schuld ist. Die Franzosen waren nach einer langen Wanderung durch heiße, dürre Jahrhunderte an das wilde Meer der Freiheit gekommen. Durstig und verschmachtend stürzten sie sich mit glühenden Adern hinein, tranken, erkrankten und ertranken. Aber der Despotismus erhitzt sich durch schnöde Lust auch in der blühendsten Landschaft, leidet an unauslöschlichem Durste und trinkt und trinkt, bis er Blut trinkt.

Auf folgende Weise hatte ich die Bekanntschaft des Prudhomme gemacht. Im Herbste 1819 kam eines Tages ein Herr zu mir, der sehr leicht und windig aussah. Er freute sich ungemein, einen publiciste distingué und spirituel gleich mir kennenzulernen, und machte mir die Mitteilung, man wünsche ein neues Journal zu gründen, das ich redigieren solle, und fragte mich, ob ich dazu geneigt wäre? Der Herr schien mir sehr wenig Bildung zu haben,[773] seine politische Religion kam mir nicht aufrichtig vor, und er war nicht arm, aber ärmlich gekleidet, was in Paris nicht ohne Bedeutung ist. Unter dem langen Mantel des Liberalismus glaubte ich den Pferdefuß der Polizei zu sehen. Das machte mir aber um so größern Spaß, mich mit ihm einzulassen. Ich sagte: so etwas würde ich mit Vergnügen übernehmen. Darauf erbot er sich, mich zu einem berühmten. Journalisten zu führen, mit dem ich mich über die Sache näher besprechen solle, und er brachte mich zu Prudhomme. Dieser bohrte funfzig, hundert Fuß tief in meine Brust hinab, als wollte er einen artesischen Brunnen graben, und meine Gesinnung sprang klar und hoch empor. Er fragte mich, in welchem Geiste ich das Blatt zu schreiben gedächte? ich erwiderte: in liberalem. Da schüttelte er den Kopf und meinte, das sei nicht bestimmt genug. Man müsse sich genauer verständigen und die Grundsätze nett aufstellen – nett, das war sein Wort. Aber von dieser Nettigkeit war ich ehrlicher Deutscher kein Freund, und in meinem Herzen gab ich das Unternehmen, womit es auch vielleicht nicht ernst gemeint war, gleich auf. Der Mann hatte eigentlich recht; ich verstand aber damals die Sache noch nicht. Die deutsche Ehrlichkeit ist groß, alt und unverwüstlich wie eine Pyramide; aber sie liegt in einer Wüste und ist die Wohnung des Todes. Der Deutsche denkt, auch im politischen Meinungsstreite käme es darauf an, für die Wahrheit zu kämpfen und das zu sagen, was man für recht und billig hält. Er vergißt ganz, daß es ein Krieg ist wie ein anderer und daß nicht genug sei, für die gute Sache zu kämpfen, sondern daß man auch für die Mitstreiter sorgen müsse. Diese müssen angeworben, versammelt, ausgerüstet, ermuntert und belohnt werden. Wir halten keine Partei. Der Franzose lobt und begünstigt jeden, der auf seiner Seite, und tadelt und beschädigt jeden, der ihm gegenüber steht. Hierdurch vermehrt und verstärkt[774] er nicht bloß seine Partei, sondern er zwingt auch alle, die dieser heimlich entgegen sind, ihre Feindschaft offen zu erklären und selbst Partei zu bilden. Darum erreichen die Franzosen alles, und wir bringen es zu nichts. Eine Zeitung ist uns nur ein kritisches Blatt, für die politische Wissenschaft bestimmt. Eine politische Handlung, ein politisches Ereignis kritisieren wir wie ein Buch, ein für allemal, und schweigen dann still. Über die nämliche Sache täglich zu sprechen, das kömmt uns so langweilig und abgeschmackt vor, als wollten wir das nämliche Buch alle Tage von neuem rezensieren, und in unserer törichten Verblendung machen wir uns über die »stereotype Polemik« der französischen Journale lustig. Wir vergessen ganz, daß ein politisches Blatt eine Art Regierung übt, die nie stille stehen darf, wenn sie nicht gestürzt sein will. In solchen Irrtümern befangen war ich noch, als ich mit Prudhomme unterhandelte. Ich sagte: ich würde loben, was löblich, tadeln, was tadelnswert ist, und ich tat mir auf meine germanische Tugend viel zugut. Man verlangte aber von mir, daß ich unsere Freunde loben, unsere Feinde tadeln solle, sie möchten tun, was sie wollten – und man hatte recht. Ich war damals noch ein blutjunger Deutscher. Im Befreiungskriege mit tausend andern zu gleicher Stunde geboren, war ich Tausendling erst fünf Jahre alt. Ach, von allen den Tausendlingen bin ich einer der wenigen, die übriggeblieben und die ihre Zeit fortpflanzen werden! Es ist recht betrübt.

Ob ich nun zwar den Zeitungsplan gleich und Prudhomme mich bald aufgegeben hatte, verließ mich mein Journalmäkler und politischer Kuppler darum doch nicht. Er besuchte mich ferner und führte mich mehrere Male zu einem Restaurateur, wo er für mich zahlte. Ich ließ mir das alles sehr gut gefallen und schmecken. Eines Tages lernte ich bei Tische einen Deutschen kennen, mit[775] dem ich mich unter andern auch von politischen Dingen unterhielt. Als dieser weggegangen war, machte mir mein Gastfreund die zärtlichsten Vorwürfe, daß ich so unvorsichtig sein könnte, an öffentlichen Orten, wo die Spione nie fehlten, über die Regierung zu sprechen. Es dürfte mich keineswegs sicher machen, wenn ich Deutsch spräche, denn es gäbe auch Spione, die Deutsch verständen. – Was! Spione unter den Deutschen! Deutsche unter Spionen! Das ist eine niederträchtige Verleumdung! – Ich hätte dem französischen Kerl die Flasche an den Kopf werfen mögen; aber gut, daß ich es nicht getan und daß ich diesen kleinen patriotischen Monolog bloß leise in mich deklamiert. Denn als ich einige Jahre später ein anderes Mal nach Paris gekommen, lernte ich manchen deutschen Spion kennen. Ein solcher, der mich oft besuchte, kam eines Tages zu mir, setzte sich vor dem Kamine nieder und wärmte sich behaglich. Er hatte kein Holz im Hause, er brauchte keines, weil er im Palais Royal Nr. 13, wo er spielte, Tag und Nacht freie Heizung hatte. Nachdem er sich durchwärmt, machte er ein kaltes Gesicht und sagte, er hätte etwas mit mir zu sprechen. Ich fiel ihm augenblicklich in das Wort und fragte ihn, ob er mir nicht auf kurze Zeit vierhundert Franken leihen könne? Ich wollte ihm nämlich zuvorkommen, weil ich vermutete, er habe die Absicht, Geld von mir zu borgen, ein Antrag, den ich in Paris oft zu erdulden hatte, ob er mich zwar nie erschütterte. Aber er erwiderte: Geld haben sei bei ihm ein Verbum, daß im Indikativ keinen Präsens habe, sondern bloß ein Perfektum und Futurum. Er komme, mir einen Vorschlag zu machen. Die französische Armee wäre gegenwärtig in Spanien beschäftigt, und es sei jetzt der günstigste Augenblick, etwas auszuführen. Es lebten in Paris dreißigtausend Deutsche, zumeist tüchtige Handwerkspursche – er vergrößerte die Zahl nach bekannter Art der Verschwornen, um mich[776] zu locken und mir Mut zu machen. Wir, er und ich, wollten jetzt, da uns nichts hindern könne, an der Spitze der deutschen Handwerkspursche nach Deutschland ziehen und alles über den Haufen werfen, zuerst Preußen. Als ich merkte, daß er kein Geld von mir verlangte, sondern bloß meinen Beistand, Preußen zu erobern, erheiterte sich mein finsteres Gesicht, und ich antwortete ihm vergnügt: Der Einfall sei herrlich, ich wäre dabei; an gutem Erfolge sei nicht zu zweifeln, da unsere Handwerkspursche zu fechten gewohnt wären. Nur hätte ich jetzt unglücklicherweise einen starken Schnupfen, er solle einstweilen vorausziehen, ich würde mit der Mallepost nachkommen.

Stand dieser Narr und Schuft im Solde der französischen Polizei? Ich glaube es nicht; denn diese ist nicht so albern. Wahrscheinlich war er Spion einer deutschen Macht, die damals in Paris den Demagogen, oder die sie dafür hielt, sehr aufpaßte und manches schöne Tausend Taler auf solche Erbärmlichkeiten wendete.

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 772-777.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aus meinem Tagebuche
Fragmente Und Aphorismen; Aus Meinem Tagebuche

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Robert Guiskard. Fragment

Robert Guiskard. Fragment

Das Trauerspiel um den normannischen Herzog in dessen Lager vor Konstantinopel die Pest wütet stellt die Frage nach der Legitimation von Macht und Herrschaft. Kleist zeichnet in dem - bereits 1802 begonnenen, doch bis zu seinem Tode 1811 Fragment gebliebenen - Stück deutliche Parallelen zu Napoleon, dessen Eroberung Akkas 1799 am Ausbruch der Pest scheiterte.

30 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon