IV.

[777] Frankfurt, den 3. Mai


Wie ich im Jahre 1819 veranlaßt worden, nach Paris zu reisen, welchen Eindruck diese schöne und merkwürdige Stadt damals auf mich gemacht und wie ich dort aufgenommen worden, das will ich auch niederschreiben, ehe es meiner Erinnerung entschwindet. Sind doch meine Angelegenheiten nicht bloß die meinigen; sind doch meine Gesinnungen die von Millionen andern, die froh sind, wenn sich ein Fürsprecher findet, der sie ausspricht. Wie Frösche, Spinnen, Hunde und die Tiere überhaupt der Natur näher stehen als der königliche Mensch auf seinem Throne und darum das Wetter, ja die bedeutendsten Veränderungen und Krankheiten der Natur inniger[777] fühlen und, ehe sie noch eintreten, voraus empfinden und anzeigen: so gibt es auch Menschen, die gerade, weil sie niedrig stehen in der bürgerlichen Gesellschaft, mit der Geschichte inniger verbunden sind und die Witterung der Zeit, die Völkerstürme und Kriege von weiterer Ferne kommen sehen und sie früher fühlen, als es selbst die Herrscher, Vornehmen und Mächtigen vermögen, die, in ihrem Egoismus gefangen, nicht eher erfahren, was sich draußen begibt, als bis die Welt an den Pforten ihrer Selbstsucht pocht. Zu diesen Menschen gehöre ich auch. Was seit einer Reihe von Jahren mir geschah, geschah der Welt; was Staaten, Völkern, Fürsten begegnete, begegnete mir selbst. Die Geschichten betrafen mich nicht, sie brachten mir keinen Vorteil und keinen Schaden, sie erhoben mich nicht, warfen mich nicht um und rückten mich nicht vom Platze; aber ich spürte sie in meinen Nerven. Diese Sympathie gibt mir in politischen Dingen eine große Keckheit der Ansicht und einen Prophetenstolz, der mich lächerlich machen würde, wenn ihn die Leute kennten. Ich gehöre gerade nicht zu den Menschen, die sich auf ihren Verstand viel einbilden, ich halte mich für gar nicht pfiffig und gebe gern zu, daß jeder Schnurrjude mich zwanzig Male im Tage überlisten kann. Kömmt mir aber ein Minister und sagt, er wäre klüger als ich, so lache ich ihn aus. Seit funfzehn Jahren ist nichts geschehen, auch das Überraschendste nicht, das ich nicht vorhergewußt, das ich nicht vorhergesagt habe. Hätte ich meine Prophezeiungen dürfen drucken lassen, man würde mich angestaunt haben, ich wäre gewiß Hofprophet, vielleicht gar Simultanprophet der heiligen Allianz geworden, und diese hätte mich, um alles besser übersehen zu können, ohne Zweifel recht hoch plaziert. Den Tod der heiligen Allianz selbst hatte ich der Wäscherin eines Legationsrates auf das bestimmteste vorhergesagt und mich dabei nur um so viele Jahre geirrt, als[778] sie früher gestorben, als ich erwartet hatte. Das habe ich getan; die Staatsmänner aber haben nichts vorhergewußt. Dieses schließe ich nicht daraus, daß sie nicht davon gesprochen, keineswegs; denn sie verschweigen nicht bloß, was sie nicht wissen, sondern auch sehr oft, was sie wissen. Ich schließe es daraus: weil so manches unsern Ministern Verderbliche und Verhaßte, das eingetroffen, durch ihre tätigen Mittel und Ratschläge gerade herbeigeführt worden.

Minister sollten feine Kanaillen sein, die den Mantel nach dem Winde hängen; aber so sind unsere nicht. Sie sind vielmehr halsstarrige Catonen, die lieber das Dach über sich zusammenstürzen lassen, als daß sie baufällige Grundsätze räumten. Sie machen sich über die politischen Schwärmer und deren Buchprinzipien lustig und haben keine Ahndung davon, daß sie selbst solche Schwärmer und Ideologen sind, nur darin verschieden, daß sich jene für neue, sie selbst aber sich für alte Ideen begeistern. Welche Schwärmerei ist aber die gefährlichste, welche wird schlimmer getäuscht? Zukunft und Vergangenheit sind beide Nichtexistenzen; doch was nicht ist, kann werden, was war ist es für immer gewesen. Man kann einen Menschen, der noch nicht lebt, machen; aber einen Menschen, der gelebt hat, ruft keine Kunst, schleppt keine Gewalt aus dem Grabe zurück. Und wenn auch unsere Staatsmänner einmal erkennen, was die Zeit will und daß sie darf und kann, was sie will, so macht sie das in ihrer Handlungsweise doch nicht klüger. Dem Unvermeidlichen suchen sie so lange als möglich auszuweichen, denn sie meinen: Zeit gewonnen, alles gewonnen. Aber verliert denn der Feind die Zeit, die ihr gewinnt? Der junge Löwe wächst im Käfig wie im Freien, und kömmt einmal der Tag, daß ihr ihm die Türe öffnen müßtet, dann springt er um so größer, um so stärker, um so grimmiger heraus und wird es euch wahrlich[779] nicht danken, daß ihr die Wärter seiner Jugend waret.

Was ist seit funfzehn Jahren durch unsere weisen Staatsmänner, diese Hochschüler der französischen Revolution, die beim Examen alle durchgefallen und keine Doktoren wurden, nicht alles Tolles geschehen! Sie haben Napoleon gestürzt – nicht im Rausche des Sieges, unter dem Durste der Rache, nicht von der günstigen Gelegenheit überrascht; nein, sie hatten zwei Jahre Zeit, zur Besonnenheit zurückzukehren, und sie ließen ihn untergehen. Ich hatte ihnen alle mögliche Unklugheit zugetraut, aber das überflügelte meine Einbildungskraft; es ist das Märchen von der Dummheit. Napoleon war der letzte Monarch, mit ihm ist die monarchische Regierungskunst ausgegangen, und jetzt herrschen die Naturelemente der bürgerlichen Gesellschaft so demokratisch, als es ein Jakobiner nur wünschen mag.

Griechenland ist frei, seine Freiheit und Unabhängigkeit sind anerkannt, und dieses haben die Griechen am meisten den Leidenschaften ihrer Gegner zu verdanken. Diejenige Macht, welche Rußlands Vergrößerung und darum den Sturz des türkischen Reiches am meisten fürchtet, hat am meisten getan, jene und diesen herbeizuführen. Sie intrigierten, sie zögerten, sie haben Zeit gewonnen. Der russisch – türkische Krieg hat den irländischen Katholiken und englischen Juden die Emanzipation und den Venetianern ihren Freihafen verschafft, welches letztere auch seine eigenen Folgen haben wird. Don Michel wurde belohnt und angetrieben, die Konstitution des Landes umzustoßen; ja, hätte ein Schneidergeselle die portugiesische Krone gestohlen – gegen das Versprechen, keine Freiheit aufkommen zu lassen, hätte man sie ihm auch verbürgt. Wenn aber Don Michel, was Gott, verstatten möge, noch zwei Jahre regiert, und wenn der geflickte König von Spanien seinen absoluten Thron noch zwei[780] Jahre von Straßenräubern bewachen läßt, dann wird der konstitutionelle Geist in der Halbinsel größere Fortschritte gemacht haben, als es in zehen Jahren unter der Herrschaft der Cortes geschehen wäre. Tyrannen sind in unsern Tagen die gefährlichsten Freiheitsprediger. Und so findet sich – wie wunderbar! daß gerade diejenige Macht, die seit vierzig Jahren alles, was die Farbe der Freiheit trägt, mit düsterem, glühenden Hasse verfolgt, daß gerade sie für deren Entwickelung und Befestigung am meisten getan. Wir wollen unsere Feinde lieben, unsere Freunde haben uns oft beschädigt.

Wer Gesichte haben will, darf nicht sehen; der äußere Sinn tötet den innern. Die Staatsmänner wissen und sehen nichts voraus, weil sie zu viel wissen, sehen und hören. Sie bekümmern sich zuviel um das Einzelne, besonders um die Einzelnen. Das Trommeln und Schießen unserer kriegerischen Zeit betäubt die Horchenden; der Harthörige hört unter Geräusch am besten. Hardenberg, der einzige liberale Staatsmann; den Deutschland seit funfzehen Jahren hatte, war taub. Das hat wahrhaftig seinen Zusammenhang. Hardenberg war ein guter Staatsmann, weil er nicht zum Polizeiminister taugte. Die Polizei! Die Polizei!

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 2, Düsseldorf 1964, S. 777-781.
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