Siebzigster Brief

[468] Paris, Donnerstag, den 19. Januar 1832


Lassen Sie die Leute immerhin sprechen von meiner Heftigkeit, die nicht nütze, die nur schade; das sind alles Worte ohne Sinn, wären sie auch noch so gut gemeint. Wer nützt? Wer schadet? Die See geht hoch, der Wind ist gut, und Gott sitzt am Steuer. Ich armer Schiffsjunge[468] schwanke oben im Mastkorbe und rufe: »Klippe und Sandbank und feindliche Segel und Land« herab. Als wenn ich mit dem Rücken gelehnt stünde an der Mauer der Welt und nur so vor mir mich zu bewegen brauchte, wie und wohin ich wollte! Ich habe keine Freiheit hinter mir, und darum keine vor mir. Ich treibe, weil ich werde getrieben, ich reize, weil ich werde gereizt. Der Wind ist heftig, der mich schüttelt; ist das meine Heftigkeit? Habe ich den Wind gemacht? Kann ich ihn schweigen heißen? Gibt es Menschen ohne Brust, die nicht zu atmen brauchen – gut für sie; aber sie mögen nicht rechten mit mir; ich brauche die Lebensluft der Freiheit, um fortzudauern. Und wenn Sie wieder einmal von einem meiner guten Freunde sagen hören: er dauert mich, er darf es gar nicht wieder wagen, nach Deutschland zu kommen, er würde in jeder Gesellschaft, an jedem öffentlichen Orte beschimpft werden – so mißtrauen Sie dem Herzen oder dem Kopfe dieses guten Freundes. Er ist entweder einer jener Gossen, welche die Verleumdungen der Polizei weiterschwemmen, oder ist ein matscher Schwamm, der jedes, worin man ihn getaucht, gedankenlos aufnimmt und es bei der Berührung behaglich wieder abtröpfelt. Wir haben das gleich vom Anfange bemerkt und verstanden, wie jene, die ich in das Herz getroffen, das Volk gegen mich aufzuwiegeln suchen. Alle Hunde, die ihren Hof bewachen, haben sie von der Kette losgelassen; alle hungrigen Zeitungschreiber mußten ein Geschrei erheben, ehe man ihnen die Schüssel füllte, und dieses Gebell und dieses Geschrei sollen das Konzert der öffentlichen Meinung bilden! Seien Sie nur ruhig, wie ich es auch bin; ich bin ganz der Mann, solche Gauklerkünste zu vereitlen. Die Aristokraten möchten den Streit aus ihrem Gebiete entfernen; denn sie wissen recht gut, daß er sie gilt und nicht das Volk; aber wir kennen das und spotten ihrer vergebenen[469] List. Das Vaterland herabwürdigen! Deutsches Volk beschimpfen! Hätte ich wirklich getan, was sie durch ihre Ausrufer mich beschuldigen lassen – die Hände küßten sie mir dafür! Vaterland, Volk, Ehre, Schande, das sind den Aristokraten nur mythologische Geschöpfe, und sie hätten mich glücklichen Jäger bewundert, dem solche Fabeltiere einmal wirklich in den Schuß gekommen und der sie getroffen und dann abgetan. Ihr Vaterland ist der Hof; ihre Ehre ist in der Unterwürfigkeit des Volks; ihre Schande in dessen Freiheit, und das Volk ist nichts, ein Stuhl, ein Tisch, ein Ofen, das man weder schänden noch ehren kann. Vor solchen Menschen soll ich mich fürchten? Sie, ohne Herz und ohne Gott, was vermögen sie mir gegenüber, der ich liebe und glaube? Mit einem einzigen Worte durchbreche ich den Nebel ihrer Verleumdungen; mit einer einzigen Zeile zünde ich ihre Lügenbände an und verkenne sie zu Asche. Ich erwarte sie, wenn ich nach Deutschland komme.

Gestern las ich wieder in hiesigen Blättern von Mautzerstörungen im Hessischen, ich weiß aber nicht, ob das die alten oder neuen Geschichten sind. Indessen wahrscheinlich das erstere, da Sie mir in Ihren letzten Briefen von keinen spätern Vorfällen schreiben. Das sind recht traurige Verhältnisse, und am traurigsten ist, daß sich die Regierungen nicht zu helfen wissen. Immer Gewalt, immer Blutvergießen! Warum suchen sie das Volk über die wahre Beschaffenheit der Maut, ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit nicht aufzuklären? Warum suchen sie es nicht durch Sanftmut zu beruhigen, durch Überredung zu gewinnen? Warum tragen sie den Geistlichen nicht auf, von der Kanzel herab ihre Gemeinten im Zollwesen zu unterrichten? Wäre ich Pfarrer von Fechenheim, Bergen oder Bockenheim, hätte ich am ersten Sonntage nach dem monarchischen Gemetzel an[470] der Mainkur ohngefähr folgende Predigt gehalten und dadurch gewiß zur Erhaltung der Ruhe mehr beigetragen, als zehn Schwadronen Husaren imstande sind.


»Liebe Gemeinde!


Am Freitag wart ihr wieder rechte Esel gewesen und habt euch totschießen lassen. Wißt ihr, warum? Ich will die ganze Woche keinen Tropfen Wein trinken, wenn ihr es wißt. Dummköpfe seid ihr und Schwerenöter! Ihr jammert über die Maut, ihr wollt keine Maut bezahlen! Wißt ihr denn, was die Maut ist heutzutage? Wißt ihr, was sie sonst gewesen? Begreift ihr denn gar nicht, wie viel besser ihr es jetzt habt als in frühern Zeiten? Nun, so gebt acht; ich will euch eine Laterne in den Kopf hängen.

Viele von euch sind doch schon einmal den Rhein hinabgefahren; der Hans dort, das weiß ich, ist oft als Flotzknecht nach Holland gekommen, ehe er sich eine Frau genommen – ein kreuzbraves Weib, sie hat mir gestern eine fette Gans geschickt. Und wer von euch nicht am Rhein war, der ist doch einmal in Königstein gewesen und am Falkenstein vorbeigekommen. Nun, das ist alle eins. Oben auf den Bergen an beiden Seiten des Rheins, da seht ihr viele verfallene alte Schlösser, die man Burgen nennt. Sie waren aber nicht immer so öde und verfallen, wie sie jetzt sind. Ehemals waren es prächtige Schlösser, worin die Ritter wohnten, und es ging lustig daher. Liebe Kinder! Die Ritter, das waren prächtige Leute! An denen hatte doch der liebe Herrgott noch seine Freude. Wenn sie sich recht wild herumtummelten in ihres Vaters Garten, und er lag am Sonnenfenster und sah zu, wie sie spielten, lachte er und sagte: Jugend hat keine Tugend, das will sich austoben; aber es ist mein Herz und mein Blut. Wenn aber der liebe Herrgott uns jämmerliche Wichte sieht, seine jüngsten[471] Kinder, die den ganzen Tag hinter den Büchern hocken und heulen, wenn sie der gestrenge Herr Schulmeister mit seinem Lineal anrührt, dann schämt er sich, unser Vater zu sein, schlägt das Fenster zu und brummt: Ja, ja, ich bin alt geworden! So ein Ritter war kerngesund, stark wie ein Stier, und wenn er sein Kreuz gegen den Teufel geschlagen hatte, fürchtete er sich vor nichts mehr in der Welt. So ein Kerl hat euch den Tag zehen Pfund Rot- und Schwarzwildbret gegessen, sechs Pfund Hammelfleisch, ein schön Stück Schinken, einen großen Rosinenkuchen, aber wenig Brot. Dazu hat er getrunken zwei Eimer Bacharacher oder Rüdesheimer und abends vor dem Schlafengehen ein paar Maß warmen Gewürzwein. Ich sage euch, Kinder, es ist nichts gesünder als warmer Wein mit Zucker, Nelken und Zimt gemacht. Gestern hatte ich einen starken Schnupfen, und ich legte mich früh zu Bette. Wie ich nun das Licht auslöschen wollte, wer kömmt herein? Meine Haushälterin. Sie hatte mir kein Wort davon gesagt, war in die Küche gegangen und hatte mir eine Kumpe Glühwein gemacht. Den setzt sie vor mein Bett und sagt: Herr Pastor, das wird Euch guttun. Ich habe den Glühwein getrunken, habe tüchtig geschwitzt, und heute morgen war der Schnupfen weg. Merkt ihr noch was davon? Seht ihr, solch ein lustig Leben haben die alten Ritter geführt: gut gegessen, gut getrunken und gut geschlafen. Und die übrige Zeit haben sie gejagt und sich untereinander herumgebalgt. Das war aber kein Kriegführen wie heute, es war ein wahrer Spaß. Man schlug sich einander auf Helm und Schild, und war einer tüchtig getroffen, so ging er zum Schmied, und den andern Tag war alles wieder gut. Das hundsföttische Pulver war noch nicht erfunden.

Nun hört weiter! Die Ritter hatten zwar große Schlösser, schöne Pferde, viele Jagdhunde und Knechte; aber[472] sie hatten kein Geld. Woher wollten sie Geld haben? Sie arbeiteten niemals und verdienten also nichts. Aber alle Menschen sind Gottes Kinder, und wenn es einen Menschen gibt, der nichts arbeitet, ist es Christenpflicht, daß der andere, welcher arbeitet, ihn ernährt. Die frommen Ritter, welche Gottes Gebot kannten und ehrten, richteten sich auch darnach, und sooft sie Geld brauchten, nahmen sie es von den Arbeitsleuten, die welches hatten; und das machten sie so. Auf die hohen Türme ihrer Burgen stellten sie einen armen Knecht mit einem Horn, der mußte Tag und Nacht achtgeben und umherschauen, und sobald ein Schiff mit Waren den Rhein hinauffuhr oder ein Wagen auf der Chaussee kam, um ihre Ladung auf die Frankfurter Messe zu bringen, stieß der Knecht ins Horn. Die Ritter, die das Zeichen verstanden, sprangen darauf vom Tische oder aus dem Bette auf, ergriffen ihr Schwert und eilten die Burg hinab. Schiff und Wagen wurde angehalten, Schiffer, Fuhrleute und Kaufherrn wacker durchgebläut, Kisten und Kasten aufgeschlagen und alles herausgenommen. Darauf sagten die Ritter: Viel Glück zur Frankfurter Messe, Ihr Herrn, und kehrten mit ihrem Fange jubelnd zur Burg zurück. Und weil sie auf diese Art ihr Brot verdienten, nannte man sie Raubritter. Die Waren verkauften sie dann um einen Spottpreis an Juden, und so hatten sie Geld. Die Juden verkauften den geplünderten Kaufleuten ihre eigenen Waren wieder, und darauf zogen sie zur Frankfurter Messe, und alles war gut. So ist die Maut entstanden, und was damals die Raubritter waren, das sind heute die Zöllner.

Jetzt gebt weiter acht. Die Kaufherrn überlegten endlich bei sich: Wäre es nicht gescheiter, wir gäben den Rittern lieber gleich so viel bar Geld, als sie für unsere Waren von den Juden bekommen? Diese Spitzbuben lassen sich von uns zweimal soviel bezahlen, als sie selbst[473] bezahlt. So wäre die Hälfte Profit, und die Prügel wären auch gespart. Sie schickten also dem Ritter Kunz eine Deputation; die trug ihm vor: Herr Ritter, Ihr seid ein ehrlicher Mann, Ihr habt uns nie etwas zuleid' getan; aber Euer Nachbar, der Ritter Ruprecht, ist ein Spitzbube und ein Räuber, der, sooft wir vorbeikommen, uns mißhandelt und beraubt. Wir kommen also, Euch einen Vorschlag zu machen. Sooft wir an Eure Burg kommen, begleitet uns mit einem Fähnlein bis vor der Burg Eures bösen Nachbarn vorüber, beschützt uns und duldet nicht, daß er uns beraube und zugrunde richte. Für Euern guten Willen geben wir Euch jedesmal hundert Goldgulden. Ritter Kunz erwiderte: Ihr seid kluge Leute, und ich will es bedenken, heute abend gebe ich meinen Nachbarn einen Schmaus: Habt ihr nicht vielleicht ein Fäßchen Bacharacher auf euerem Schiff? Die Kaufleute holten das Fäßchen, gingen darauf zu Ritter Ruprecht und sagten ihm: Herr Ritter, Ihr seid ein ehrlicher Mann, Ihr habt uns nie etwas zuleid getan; aber Euer Nachbar, der Ritter Kunz, ist ein Spitzbube und ein Räuber, der, sooft wir vorbeikommen, uns mißhandelt und beraubt. Wir kommen also, Euch einen Vorschlag zu machen. Sooft wir an Eure Burg kommen, begleitet uns mit einem Fähnlein bis vor der Burg Eures bösen Nachbarn vorüber, beschützt uns und duldet nicht, daß er uns beraube und zugrunde richte. Für Eeuern guten Willen geben wir Euch jedesmal hundert Goldgulden. Ritter Ruprecht erwiderte: Ihr seid kluge Leute, und ich will es bedenken; morgen mittag gebe ich meinen Nachbarn einen Schmaus, habt ihr nicht vielleicht einige gute Schinken auf euerm Wagen? Die Kaufherrn holten die Schinken und gingen darauf zum Ritter Eberstein, und so gingen sie von einem Ritter zum andern von Rüdesheim bis nach Bonn und sprachen mit allen auf die nämliche Weise. Und wie abends viele Ritter[474] zum Ritter Kunz zum Schmause kamen und jeder seinem Nachbarn erzählte, wie die Kaufherrn ihn ins Gesicht einen ehrlichen Mann gescholten und seinen Nachbarn als Spitzbuben gelobt, lachten sie alle ganz unbändig und zechten, bis der Morgen graute. Die Handelsleute hatten es aber jetzt viel besser als früher.

So währte das einige Jahrhunderte lang. Endlich merkten die Kaiser, Könige, Herzöge, Fürsten, Landgrafen, die Vorfahren unserer gnädigsten Landesherrn, daß sie lang dumm gewesen. Sie dachten: Ei, die Ritter verdienen ein schön Stück Geld an den Bürgers- und Landleuten, sind wir nicht rechte Narren, daß wir es nicht selbst verdienen? Wer ist Herr im Lande, wir oder die Ritter? Das muß anders werden. Sie sagten also den Kaufleuten: Ihr untersteht euch nicht mehr, euch von den Rittern loszukaufen; das Geld, das ihr ihnen gegeben, gebt ihr künftig uns selbst, und dagegen beschützen wir euch gegen jede Gewalt. Die Kaufleute mußten das zufrieden sein, und den Rittern wurde von den Landesherrn untersagt, sie zu beunruhigen. Diese ließen sich aber nicht wehren, und wenn die Kaufleute vorüberkamen und nicht bezahlten, wurden sie wie früher geplündert und totgeschlagen. Sie mußten also, wollten sie Ruhe haben, die Ritter auch bezahlen. Unsere gnädigsten Landesherrn erfuhren dies und dachten bei sich: Unsere Kaufleute geben für jede Ladung Ware den Rittern hundert Goldgulden und uns hundert Goldgulden; wäre es nicht klüger, sie gäben uns zweihundert Goldgulden und den Rittern gar nichts? Sie ließen also die Kaufleute rufen und sagten ihnen: Ihr gebt uns künftig zweihundert Goldgulden für jede Fuhre und den Rittern gar nichts; und diesen wollen wir schon das Handwerk legen. Auch hielten sie Wort, zerstörten alle Raubburgen, nahmen die Ritter gelangen und führten sie an ihren Hof, wo sie durch gutes Futter[475] bald zahm gemacht wurden. Den Kaufleuten aber gaben sie das Geleit, sooft sie auf die Messe zogen. Als es nun keine Ritter und keine Räubereien mehr gab und die Kaufherrn keine Furcht mehr hatten, gingen sie zu ihren Landesherren und sagten ihnen: wir danken untertänigst für den bis jetzt geleisteten Schutz; aber wir brauchen ihn nicht mehr, denn die Straßen sind sicher. Die Fürsten erwiderten darauf: es freut uns, daß ihr uns nicht mehr braucht, wir brauchen aber euer Geld, und den Geleit müßt ihr bezahlen nach wie vor, und das ist jetzt altes Herkommen. Nach einiger Zeit bedachten die Fürsten: Ist es nicht ganz überflüssig, daß wir den Kaufleuten Husaren zur Begleitung mitgeben, da doch die Wege sicher sind? Die Kosten des Geleits könnten wir ja sparen. Sie hoben also das Geleit auf und ließen sich statt Geleitsgeld Zoll bezahlen. An allen Ein- und Ausgängen des Landes wurden Zollhäuser errichtet, und sooft da Waren vorüberkamen, mußten sie den alten Raub und das alte Geleit abkaufen, welche Abgabe man Zoll nannte. Beklagte sich nun ein benachbarter Fürst, daß man seine Untertanen drücke, antwortete der diesseitige: Herr Bruder, macht es mit meinen Untertanen, wie ich es mit den Eurigen mache; laßt Euch auch Maut von ihnen bezahlen; Schafe wollen geschoren sein, sonst gedeihen sie nicht.

Jetzt werdet ihr deutlich einsehen, daß ihr Ochsen seid, wenn ihr euch über die Maut beklagt. Habt ihr es nicht ehemals noch viel schlimmer gehabt? Sonst wurdet ihr beraubt und gemißhandelt; jetzt werden euere Kisten mit Ordnung geöffnet, man nimmt euch mit Höflichkeit euer Geld ab, und ihr bekommt keine Schläge mehr. Zwar werdet ihr noch jetzt, wie zu den Zeiten der Raubritter totgemacht, wenn ihr die Maut nicht bezahlen wollt und euch zur Wehre setzt; ihr werdet aber nicht mehr wie damals totgehauen, welches grob war,[476] sondern totgeschossen, welches viel höflicher ist und gar nicht wehe tut; und da ihr auf Befehl eueres gnädigen Landesherrn totgeschossen werdet, so ist das noch eine Ehre für euch. Wenn ihr aber fragt: warum nimmt unser gnädigster Landesherr, der doch so reich ist, uns armen Teufeln ihre paar Pfennige weg; warum müssen wir das Pfund Zucker mit dreißig Kreuzer bezahlen, das uns noch vor acht Tagen nur achtzehn gekostet? so zeigt ihr wieder, daß ihr Ochsenköpfe seid. Behält denn unser gnädigster Landesvater euer Geld für sich? Ei bewahre! Das braucht er nicht, er hat mehr als genug. Aber mit euerm Geld ernährt er die Nachkommen jener Raubritter, die wie ihre Vorfahren nicht arbeiten und nichts erwerben, als Müßiggänger an seinem Hofe leben, und für die ihr, da sie euch nicht mehr berauben dürfen, wie billig, sorgen müßt. Und nicht bloß für diese Räuberbrut braucht unser gnädigster Landesfürst euer Geld, sondern auch, seine vielen Soldaten zu bezahlen. Und jetzt seid mir keine Esel und fragt: wozu braucht er so viele Soldaten? Das habt ihr ja am Freitag selbst gesehen, wozu er sie braucht! Hätte er keine Soldaten gehabt, hätte er ja mit euch nicht fertig werden können, als ihr die Maut gestürmt. Nun sagt ihr aber vielleicht: aber wäre keine Maut da, wären wir ruhig geblieben; sind wir ruhig, braucht man keine Soldaten; hat man keine Soldaten, braucht man unser Geld nicht, ist die Maut unnötig. In dem, was ihr da sagt, ist etwas Verstand, und ich sehe, ihr seid gar nicht so dumm, wie ihr ausseht. Aber, liebe Kinder, ihr müßt noch etwas bedenken. Unser gnädigster Landesvater braucht nicht bloß seine Soldaten gegen euch, seine Kinder, sondern er braucht sie auch gegen Fremde, gegen den äußern Feind. Fragt ihr nun: Wer ist sein Feind, wer will ihm etwas zuleide tun? muß ich euch aufrichtig antworten: es denkt keiner daran. Aber unser gnädigster Landesherr[477] hat eine große Familie, für die er auch sorgen muß. Alle Kaiser, Könige, Großherzoge, Herzöge und Fürsten sind seine nahen Verwandte, denen er in der Not beisteht; das ist Christenpflicht. Macht ihr es nicht auch so? Der Kaiser von Rußland ist sein Bruder, der Kaiser von Österreich ist auch sein Bruder, der König von Preußen ist sein Schwager. Nun seht: der Kaiser Nikolas will Polen haben, der Kaiser Franz will Italien haben, der König Friedrich Wilhelm weiß selbst nicht, was er haben will; denn er will alles haben. Nun ist aber das mächtige Frankreich drüben; dort ist der König nicht Herr über alles, er ist nicht mehr als jeder andere, er ist nur der erste Bauer im Lande. Das Volk ist dort alles, und für das Volk geschieht alles. Nun sagen die Franzosen: alle Völker sind mit uns verwandt, wir sind alle von einer Familie. Die Polen sind unsere Brüder, die Italiener sind unsere Vettern, die Deutschen sind unsere guten Nachbarn. Und wir wollen nicht leiden, daß ihnen jemand etwas zuleide tue, sondern ihnen helfen. Darum leiht unser gnädigster Landesfürst den Kaisern und Königen seine Soldaten, damit sie mit den Franzosen fertig werden, und darum müßt ihr Maut bezahlen. Und die Soldaten, die man gegen die Franzosen schickt, das sind euere eigenen Söhne und Brüder, und damit sie gern marschieren – denn wer könnte sie zwingen, wenn sie nicht wollten –, lügt man ihnen vor, die Franzosen wären Feinde der Deutschen und wollten unser Land erobern. Glaubt es nicht! Die Franzosen sind euere besten Freunde, und wenn sie kommen, kommen sie bloß, den Polen und euch beizustehen, und ihr müßt sie mit Jubel empfangen und gleich in die Schenke führen. Aber schließt eure Mädchen ein bis sie wieder fort sind!

Jetzt habe ich euch erklärt, was die Maut ist; nun geht und bessert euch. Wie wollt ihr es denn vor Gott und[478] euerem Gewissen verantworten, wenn ihr widerspenstig seid gegen euren gnädigsten Landesherrn und ihn zwingt, Soldaten gegen euch zu schicken, die ja alle euere Brüder und Söhne sind und die, wenn sie euch erschießen, Vater- und Brudermörder werden? Geht und bezahlt die Maut. Und wollt ihr ja einmal wieder kommen und die Maut zerstören, so seid keine Ochsen und bleibt weit von den Soldaten stehn, was ihnen Herz macht, auf euch zu schießen, sondern geht ihnen ganz nahe auf den Leib, damit sie euch erkennen. Bringt eure Töchter mit. Die Liese dort wird unter den Jägern gewiß mehr als einen Schatz finden – brauchst nicht rot zu werden, Liese, wir waren alle einmal jung –, und wenn sie nun zu ihnen tritt und sagt: aber Peter, aber Hans, seid ihr denn stockblind? Seht ihr denn nicht, daß ich es bin? Haben wir nicht auf der vorigen Kirchweih miteinander getanzt? Peter, da ist ja mein Vater, der dir manchen Apfel von seinem Baume geholt? Hans, da ist ja mein Bruder, dem du erst neulich den Bierkrug an den Kopf geworfen? Lieber Peter, kennst du deine Liese nicht mehr? Willst du um ein Stück Kommißbrot ein Mörder werden? Bist du nicht selbst ein Bauerkind? Was gehen dich die Fürsten, was geht dich die Maut an? Komm zu uns, lieber Hans! Du sagst nichts? Nun, da steh' ich, schieß mich armes Mädchen tot, wenn du das Herz hast. Aber ich sage euch, meine geliebten Kinder, Hans und Peter werden nicht das Herz haben zu schießen, sondern das Gewehr wird ihnen aus der Hand fallen, und sie werden anfangen zu weinen. Und alle ihre Kameraden werden das Gewehr wegwerfen, euch in die Arme stürzen und heiße Tränen vergießen, daß sie so gottlos verblendet gewesen. Dann braucht ihr keine Maut mehr zu bezahlen. Jetzt geht nach Hause und bessert euch. Wer mich nicht verstanden, ist ein Esel. Amen!«[479]

Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 3, Düsseldorf 1964, S. 468-480.
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