Nachtrag zu vorstehender Kritik

veranlaßt durch das »Tübinger Literaturblatt«,

herausgegeben von Müllner

›Das erste Heft des zweiten Bandes meiner lieben Zeitschrift, der Wage, wird in der genannten Beilage zum Morgenblatte (12. Dezember 1820, Nr. 104) viel gelobt und wenig getadelt. Mit dem erstern bin ich vollkommen einverstanden, mit dem andern aber nicht, und ich will die Gründe sagen, warum ich es nicht bin. Der Buchrichter1 hat sich geäußert, bei mir überwiege der[467] Witz die Urteilskraft; und, an einer andern Stelle, ich hätte mehr Witz als Urteil. Eigentlich wäre dieses kein Tadel; denn da es nicht zwei Dinge in der Welt gibt, die gleich groß oder gleich schwer sind, so muß auch notwendig von verschiedenen Geistesgaben, die ein Mensch vereinigt, die eine schwerer oder größer sein als die andere. Ich dürfte mich also des erhaltenen Lobes freuen und dem freundlichen Spender dafür danken. Es ist aber eine eigene Erscheinung, daß, wenn einem hochstehenden bedeutenden Manne ein Wörtchen entfällt, wie eine Schneeflocke so leicht, es oft als Lawine auf die Köpfe der Menge stürzt und dort manche Stellung verrückt oder gar umwirft. Freunde und Nicht-Freunde hatten früher mein Urteil immer richtig gefunden, sobald sie aber das Literaturblatt gelesen, erzählten sie, es stünde darin, ich hätte durchaus kein Urteil, und dies sei wahr. Ja, ein Bekannter kam zu mir und fragte: »Haben Sie das Morgenblatt gelesen?« und als ich mit Ja geantwortet, rief er: »O weh!« und ging fort. Da nun kein Richter abgesetzt werden kann, außer im Falle eines überwiesenen Verbrechens, also auch kein Kunstrichter, so muß mir viel daran gelegen sein, meine Unschuld darzutun, damit ich mein Kunstrichteramt nicht verliere. Ich werde also beweisen, daß das Literaturblatt unmöglich habe behaupten wollen, es mangle mir durchaus an Urteilskraft, da man wohl Urteilskraft ohne Witz, aber nie diesen ohne jene haben kann. Freilich werden es die Leser unschicklich genug finden, daß ich wie ein Tölpel von meinem eigenen Witze und von meiner eigenen Urteilskraft rede; denn wie bekannt, darf jeder Mensch seinen[468] guten Magen, sein gutes Herz, sein gutes Gedächtnis und seine Geliebte öffentlich loben; seinen Geist, seinen Witz und seine Frau aber nur im stillen. Aber ich verletze auch diese Anstandsregel nicht. Ich behaupte bloß, daß wenn ich Witz habe, wie er mir im Literaturblatt zugesprochen, ich auch Urteilskraft besitzen müsse.

Die Monarchen U und W des Konversationslexikons haben mir zum Kriege gegen die Rebellen, wel che die Verfassung meines Kopfes umgestoßen, indem sie ihm die gesetzgebende, richterliche und ausübende Gewalt entzogen und nur den Hofprunk des Witzes gelassen, ihren Beistand angeboten. Aber das Hülfsheer meiner Verbündeten verstärkt mich wenig. Meistens ausgediente Soldaten, noch von der Kantischen Kriegsschule, mit langen gepuderten Zöpfen und mit so großem Gepäck beladen, daß sie nicht von der Stelle können. König U schickte mir: »Urteilskraft (judicium) ist die zweite Handlungsweise des Verstandes im weitern Sinne oder des Denkvermögens (welches Begreifen – Verstand im engern Sinne – Urteilen und Schließen umfaßt), nämlich die Fähigkeit des Geistes, das Verhältnis der Dinge durch Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere und Unterordnung des Besondern unter das Allgemeine zu bestimmen.« Diese schweren Reiter werden wenig ausrichten, sie fangen mir noch keinen einzigen Kohlenbrenner in den Schluchten der Abruzzen. Ferner: »Die Urteilskraft ist das Spezifische des Mutterwitzes.« Ungeübtes Fußvolk – schade! es kämpft mit Wärme für meine Sache. Aber Mutterwitz ist nur Lottoglück: die ihn haben, treffen die Gewinste auf Zahlen, die sie blind gezogen. Endlich: »Ein großer Mangel der Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« Diese unglückselige Artillerie weiß nicht, wo der Feind steht, und richtet ihr Geschütz gegen meine eigenen Glieder. Wenn[469] ich jetzt nicht alles aufbiete, noch den Sieg zu erringen, so bin ich ganz verloren, ich bleibe dumm und komme nie wieder auf die Beine. Das Hülfsheer des Königs W fand ich nach der Musterung etwas brauchbarer, doch traute ich ihm nicht ganz und stellte es in den Hinterhalt; denn seine Äußerung: »Witz ist eine spielende Urteilskraft«, schien mir ein Einverständnis mit dem Feinde zu verraten.

Ich beginne die Schlacht. Urteilen heißt: eine wirkliche Sache oder deren Spiegelbild (den Begriff) ur–teilen, sie in ihre Ur-Teile zerlegen, ihre Grundstoffe auseinandersondern, um ihr inneres Wesen, ihre Beschaffenheit kennenzulernen. Es gibt Dinge, die den körperlichen Sinnen, oder wenn sie sich an den Pforten des Geistes melden, äußerlich an Gestalt, Größe und Farbe ganz gleich erscheinen, obzwar ihre innere Natur voneinander abweicht; es gibt wieder andere Dinge, die bei äußerer Ungleichheit dem innern Wesen nach übereinstimmen. Das Urteil ist daher entweder trennend oder bindend; jenes straft die äußere Übereinstimmung, dieses die äußere Uneinigkeit Lüge. Man hat das eine Scharfsinn, das andere Witz genannt und hat nicht gut daran getan, wenn man nicht etwa dadurch bloß einen doppelten Ausfluß, sondern auch eine doppelte Quelle des Urteils bezeichnen wollte; denn es gibt nur eine Urteilskraft, die nur in ihrer Tätigkeit verschieden ist. Aber nicht einmal darin verschieden ist der Witz, welcher bloß ein schnelles Urteil ist. Wie die voltaische Säule mit der Schnelle eines Augenblicks Alkalien und Erden zersetzt, während die gemeine Chemie sich auf trocknem und nassem Wege erst abmatten muß, so entdeckt der Witz bald und leicht die Grundstoffe einer Sache, die das Urteil nur langsam und mit Mühe ausfindig macht. Der witzige Kopf unterscheidet sich von dem bloß urteilskräftigen wie der Reisende in einem Wagen von dem Fußgänger: jener erreicht früher[470] das Ziel. Die Andersdenkenden werden freilich behend hierauf erwidern: »Das eben ist es! an dem vornehmen Reisenden gehen Landschaften, Städte, Dörfer und Menschen eilig vorüber, er kann die Gegenstände weder kennenlernen, noch genießen; der bescheidne Fußwanderer aber hat Zeit alles genau zu untersuchen.« Wohl wahr; doch es kömmt hier darauf an, ob der Weg Zweck des Reisens war oder das Ziel? Beim Urteilen aber ist der Schluß das Ziel, nicht das Urteilen; die Teilung, nicht die Art des Teilens. Der Witz hebt eine große Kraft mit einem Hebel, das Urteil braucht viele Menschenhände dazu. Der Witz ist nicht so belehrend als das Urteil, aber er will auch nicht belehren, er spricht nur für Ausgelernte und erinnert sie an das, was sie schon wissen. Jede Sache, jedes Verhältnis hat eigene Gesichtszüge, alle Dinge haben äußere Kennzeichen, die ihrer innern Natur entsprechen; der Witz kennt diese Zeichen, das Urteil will das Bezeichnete selbst sehen; jener erratet, wozu dieses erst die Beweise sucht. Ein Fremdling in der Naturkunde will die Art eines Baumes kennenlernen; er gräbt die Wurzel aus, er schält die Rinde ab, er spaltet das Holz, er steckt die Frucht in den Mund. Da kömmt ein Pflanzenkundiger, dem das Sexualsystem bekannt ist; er wirft einen Blick auf die Blüte, und ein einziger Staubfaden führt ihn glücklich durch das Labyrinth. Dieser ist Witz, jener Urteil. Die Aussprüche des Witzes verdienen so starkes Vertrauen als die des Urteils, aber sie erhalten es nicht; denn der letztere beweist, und jener fordert Glaube. Das Urteil, wie jedes gerichtliche sollte, gibt Gründe an, der Witz aber verdammt oder spricht frei, ohne sich zu erklären. Man spricht von der Oberflächlichkeit des Witzes; es gibt allerdings eine solche, aber sie liegt nicht in seiner Natur, sondern in seinem Grade, wie es auch ein oberflächliches Urteil gibt. Ich glaube also hinlänglich bewiesen zu haben, daß der[471] Witz nichts anders als das geflügelte Urteil ist; man kann aber keine Flügel haben ohne einen Körper, an dem sie hängen. Habe ich das Schlachtfeld behauptet, so verdanke ich den Sieg ganz allein meinen eigenen Kriegsvölkern; denn weder die Königlich Uhuschen, noch die Königlich Weheschen Truppen, sind ein einziges Mal zum Schusse gekommen.‹

Das Literaturblatt sagt von mir: ›(ich erzähle es mit sichtbarem aber ungesehenem Erröten allen Nichtlesern des Morgenblattes)‹ »Herr B. scheint uns ein offener gewandter, ungemein witziger Kopf zu sein; ganz geeignet, unterhaltende Rezensionen zu schreiben ... was aber die echte Kritik betrifft, so dürf[te] ihm – vielleicht der Umstand im Wege sein, daß der Witz die Urteilskraft überwiegt. Diese Vermutung beruht hauptsächlich auf der vor uns liegenden Theaterkritik, die er von Houwalds Trauerspiel Das Bild geliefert hat. Er hat scharfsichtig alle Gebrechen der Vorfabel und der Handlung ausgefunden und mit anziehender Leichtigkeit anschaulich gemacht. Aber wenn Houwald von dem Maler, der aus Bosheit das an den Galgen geschlagene Bild eines Verfolgten täuschend ähnlich gemalt und dadurch diesen ins Verderben gestürzt haben soll, in folgenden Bildern spricht:


Besonnen brütet' er die Schandtat aus

Und gab das Kücklein in des Henkers Pflege,

Daß es im luft'gen Käfig dort gedeihe,

Wo es von fremder Ehr' und Leben fraß –


so ist darinnen mehr Witz – tragischer nämlich, Witz des Pathos – als in den gemachten Einwendungen: ›Wer hat je einen Hühnerkorb unter dem Galgen aufgehängt? Und das Kücklein wird mit fremder Ehr' und Leben gefüttert, statt mit Gerste!‹ Herr B. hat hier offenbar übersehen, daß die poetische Diktion nicht füglich nach[472] den Grundsätzen der Hühnerzucht beurteilt werden kann.« ›Dieses ganze richterlich Verfahren enthält eine Nichtigkeit im Sinne der Rechtslehre, wie der Herausgeber des Literaturblattes, der ein gutes Buch über die richterliche Entscheidungskunde geschrieben hat, selbst bekennen muß. Die Anklage lautet auf Mangel an Urteil; die Aussage des Zeugen aber auf Mangel an Witz die Behauptung des letztern mag wahr sein, indessen bin ich nicht darüber vorgeladen worden. Auch ist der geführte Beweis falsch.‹ Übersehen habe ich nicht, daß die poetische Diktion nicht nach den Grundsätzen der Hühnerzucht beurteilt werden könne. Wenn ich das Gegenteil irrig behauptet, so war es ein Fehler der Überlegung, keiner der Sinne; denn ich behaupte es noch. Der Dichter spricht in Bildern – was heißt das? Das heißt: er will etwas Unsichtbares (eine Empfindung, einen Gedanken) durch etwas Sichtbares anschaulich machen; er will ein unbekanntes Größenverhältnis durch ein bekanntes finden lassen. Dann muß aber, soll der Zweck der poetischen Diktion erreicht werden, das vorgestellte Bild wirklich in der sinnlichen Welt vorhanden, die als bekannt angenommene Größe wirklich bekannt sein. In der bemerkten Stelle wollte Houwald seine Empfindung, wie sich Saat, Wachstum, Frucht und Ernte einer Übeltat zusammengesellten, bis endlich das bestimmte Opfer vergiftet hinstürzt, den Lesern durch ein Bild versinnlichen. Was tut er? Er läßt einen Menschen sich niederkauern, ein Ei legen, wie eine Henne gackern und endlich das Ei, welches unter der schweren Last unbegreiflicherweise ganz bleibt, ausbrüten. Dieses ist weder dem Ohre noch dem Auge faßlich. Man sagt zwar bildlich: der Mensch brütet über eine Schandtat, aber die Sache selbst, das Original darf man ihn nicht verrichten lassen. Nun ist das Kücklein auf der Welt, es soll leben, aber all sein Tun und Leiden darf allerdings nur nach den Grundsätzen[473] der Hühnerzucht beurteilt werden, man darf nichts mit ihm vornehmen, was dem entgegen ist, was Naturgeschichte oder Landwirtschaft rücksichtlich des Federviehs verfügt haben. Das Kücklein darf also weder in die Pflege eines Henkers gegeben, noch darf es an den Galgen gehängt, noch mit Ehr' und Leben, am wenigsten aber mit fremder Ehr' und Leben gefüttert werden; denn für einen Henker, der Diebe bestraft, würde es sich gar nicht schicken, selbst zum Diebe zu werden. Bei der Sprachmalerei fällt man aus Zerstreuung leicht und oft in solche falsche Bilder. Nun kann wohl der Dichter mit der Wärme seiner Empfindung den Mangel an Aufmerksamkeit entschuldigen, aber der kalte Beurteiler nicht, und diesem kommt daher zu, die entdeckten Fehler zu rügen. So mochte wohl Houwald in der besprochenen Stelle, da er vom Fressen der Ehr' sprach, ganz das Kücklein vergessen und sich nur der Schandtat erinnert haben. Daraus entstand die fehlerhafte Mischung von Kunst und Natur; man darf, wie ich ›in der Wage‹ ohngefähr gesagt habe, einen gemalten Baumstamm nicht mit natürlichen Blättern und Blüten krönen, etwa aus Mangel an Farben. Es wäre dieses, als wie wenn ein Übersetzer, wo ihm die verdolmetschenden Worte mangeln, die Worte der Ursprache einmischen wollte. Hätten übrigens die vier besprochenen Verse auch nicht gegen die poetische Diktion gefehlt, so hätten sie sich doch immer gegen die poetische Kunst vergangen. Der Witz des Pathos mag allerdings in der wirklichen Welt seinen Quintilian vergessen und in tolle Redensarten ausbrechen; die wahre Verzweiflung macht allerdings garstige Gesichter – aber auf der Bühne darf sie es nicht; dort müssen selbst die Krämpfe der Seele sich in den Wellenlinien der Schönheit bewegen.

Das Literaturblatt urteilt ferner: »Endlich, wenn der Verfasser den Gebrauch der Blindheit an einer Hauptperson[474] in der Tragödie u.a. aus diesem Grund tadelt: 'Was kümmert uns ein Jammer, der durch Blindheit veranlaßt wird? Wir haben unsere guten Augen, wir sehen umher, uns kann so etwas nicht erreichen' usw., so hat er nicht nur den Ödip in Kolonos vergessen, sondern auch den Umstand übersehen, daß bei jedem Zuschauer wenigstens so viel Phantasie vorausgesetzt werden muß, als nötig ist, um sich mit sehenden Augen in den Zustand eines Blinden zu versetzen. Wird wohl irgendeiner am Schlusse des 'Wallenstein' das Mitleid mit der Terzky durch den Einfall von sich scheuchen: Was kümmert mich die Gräfin, ich habe keinen Gift im Leibe«? Der Grund freilich ist nicht fest genug, ob zwar auch nicht ganz so locker, als behauptet wird. Man kann wohl mit sehenden Augen sich in den Zustand eines Blinden versetzen, aber nicht in alle Folgen dieses Zustandes, nicht in jeden Kummer jeder einzelnen Entbehrung. Das Gesicht des Schmerzes, welches die unglückliche Liebe zeigt, wird uns rühren, doch haben wir für jede der tausend Sorgen, die heimlich an dem Herzen des Unglücklichen nagen, keine besondere Träne. Wir schenken ihm eine runde Summe des Mitleids und haben uns dann abgefunden. Gegen diesen Grund, warum tragische Personen nicht blind erscheinen dürfen, läßt sich, wie auch geschehen ist, Einwendung machen; ich habe aber bessere Gründe teils dargereicht, teils angeboten. Ich sagte, es dürfe kein tragisches Geschick in einer Krankheit des Leidenshelden seine Quelle haben. Die Ursache liegt ganz oben. Der Zweikampf zwischen der Freiheit und der Notwendigkeit, oder wahrer und christlicher gesprochen: Der Kampf der Freiheit des einzelnen gegen die Freiheit der Welt ist es, was in der Tragödie uns bewegt. Dann muß es aber eben die Freiheit sein, welche stritt und unterlag, nicht die gefesselte Sklaverei. Der kranke Mensch jedoch ist ein Leibeigener, dem, weil er nicht[475] ebenbürtig mit der freien Welt, kein ritterlicher Kampf gebührt. Er fiel – denken wir Gesunden – weil er die Waffen nicht zu führen verstand, wir aber werden uns zu verteidigen wissen. Kann der tragische Dichter diese Hoffnung des Siegs aufkommen lassen, wenn er dem unbezwingbaren Geschicke die gebührende Ehrfurcht erhalten will? Ich hatte freilich, als ich die Blindheit der Gräfin Kamilla getadelt, nicht an Ödip in Kolonos gedacht, aber jetzt, da ich daran erinnert worden, finde ich dort eine Stütze mehr für meine Behauptung. Hätte Ödip seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet, weil er, als Blinder, sie als solche nicht erkannte, dann hätte Sophokles den Fehler Houwalds begangen. Aber Ödips Blindheit war nicht die Quelle, sie war die Folge seiner Tat und seines Mißgeschickes. Nicht seine Blindheit, seine Selbstblendung rührt uns, und sie macht die höchste tragische Wirkung. Wir lernen darin, daß man dem Verhängnisse nicht entgehe, indem man die Werkzeuge seiner Rache meidet; denn weichen wir diesen aus, so muß unsere eigene Hand die Strafe des Geschickes an uns selbst vollstrecken. Bei Ödip erschüttert uns der boshafte Witz, das grausame Vorspiel des neckenden Schicksals: Er sah, solange er blind war, und war blind, sobald er sah. Daß es nicht das Blind-sein, sondern das Blind-werden ist, was für Ödip aufregt, kann man leicht versuchen, wenn man beide Tragödien dieses Namens voneinander trennt. Ödip der König weggedacht, macht Ödip in Kolonos durchaus keine Wirkung; ja es ist – ich kann kein anderes Wort finden – es ist ekelhaft, den alten augenlosen Bettler zu begleiten, zu sehen, wie unbehülflich er ist, wie ihm seine Tochter beistehen muß, wenn er sich setzt oder aufsteht, wie er alles greifen muß, um es zu erkennen! Das blutende Schlachtopfer kann rühren, aber nicht das abgeschlachtete – dem Leichnam wenden wir den Rücken. – Auch das Beispiel der [476] Terzky am Schlusse des Wallensteins ist nicht anwendbar gegen mich. Haben wir auch kein Gift im Leibe, so haben wir doch Gefäße im Leibe, die des Giftes empfänglich sind. Auch ist es nicht das Gift, die Vergiftung ist es, die tragisch auf uns einwirkt. Es entsteht nicht der Wunsch in unserem Herzen: Möchte doch eiligst ein Arzt herbeigeholt werden und möchte, bis er kommt, die Gräfin einstweilen Öl oder Seifenwasser trinken! Nein, sie mag sterben; wir beklagen nur den Untergang ihres Hauses. So sehen wir bewegt die Blätter vom Baume fallen, – an den Blättern verlieren wir nichts, nur der Winter macht uns traurig, der sie herabschüttelt.

›Es ist mir zum Vorwurfe gemacht worden, daß ich einen Sprachfehler gerügt, der doch nur auf Rechnung des Abschreibers oder des Schauspielers zu setzen gewesen wäre. Ich muß diesen Vorwurf hinnehmen. Wie ich zu jener unschicklichen Rüge gekommen, begreife ich selbst nicht; doch war es nur Vergessenheit, nicht Mangel an Wohlwollen, wie gemeint wird. Ich kenne so wenig den Dichter als ich die Dichtkunst übe, und sooft ich auch geirrt haben mag, ich irrte nie aus Leidenschaft. Zwar äußert sich das Literaturblatt, ich möchte wohl bei der Beurteilung des Bilds »durch bekannte Lobhudeleien« ein wenig gereizt worden sein; allein dieses sollte gewiß nicht heißen, empfindlich gemacht, sondern veranlaßt, und ich muß gestehen, daß es sich wirklich so verhält. Jede Kritik sollte nur auf eine solche Veranlassung geschrieben werden. Wenn ein Dichtwerk, oder sonst ein anderes, nicht gelobt wird, wenn es keinen Beifall findet, ist es dann nicht eine abscheuliche zwecklose Grausamkeit, es öffentlich herabzusetzen und einen Schriftsteller, der, sei er noch so bescheiden, für seine Erzeugnisse immer Vaterliebe hat, zu kränken? Aber sobald es unverdientes und allgemeines Lob erlangt, muß die Kritik ihre Härte üben. Ich glaube nicht,[477] daß eine schlechte dramatische Dichtung den Geschmack des Lesers oder Hörers verdirbt, ich glaube aber, daß sie, indem sie dem verdorbenen Geschmacke huldigt, diesem gesetzliche Herrschaft und Erblichkeit gibt und daß man solchem verderblichen Einflusse begegnen müsse. Ich habe Houwalds Bild von keinem tadeln, von vielen preisen hören. Auch Böttiger in der Abendzeitung hat es hoch erhoben. Ein so kenntnisreicher Beurteiler! Was soll ich denken? Es wäre doch traurig, wenn mir keine andere Wahl bliebe als zwischen der Erklärung: ich habe den Verstand verloren, oder: Böttiger hat ihn verloren; ich müßte das erstere wählen. War es Wohlwollen? Das wäre sehr zu tadeln! Ich bin so glücklich, keine Freunde zu haben, die schlechte Bücher schreiben; aber hätte ich solche – nun freilich, ich würde sie auch nicht tadeln, ich schwiege. Weiter darf sich die Nachsicht nicht erstrecken; man kann sich selbst, aber man darf nicht fremde Rechte dem Freunde opfern, und auf Wahrheit hat die ganze Welt heiligen Anspruch.

Einige Bild-Verehrer haben mich als einen Ikonoklasten feindlich behandelt und den Bildersturm abzuschlagen gesucht. Die in Frankfurt erscheinende Iris sagte inbezug auf mich, man habe Houwalds Tragödie, »mißverstehend den tiefen Sinn der Dichtung, streng getadelt; aber der reine Geist, der darin waltet, ist unverwundbar.« Von der Enkelin des Oceanus wundert es mich sehr, daß sie mir hierin entgegen war. Meine Landsmännin hätte wissen sollen, daß Karl der Große selbst schon vor länger als tausend Jahren gegen die Bildverehrung geschrieben und daß eine damals in unserer Vaterstadt gehaltene Kirchenversammlung ihm feierlich recht gegeben hat. Wollte die Iris anderer Meinung sein, so hätte sie wenigstens Karl dem Großen und mir ihre Gründe angeben und die von mir gegebenen Gründe der Verwerfung widerlegen sollen. – Die der Ikonolatrie warm[478] ergebene Abendzeitung kam mit großer Macht zu Wasser und zu Lande (in Prosa und Versen) mir entgegengezogen. Ein Frankfurter Briefwechsler (so genannt weil sie Briefe gegen Geld wechseln) schrieb nach Dresden: »Houwalds schöne Dichtung hat in Hrn. Börne, der in zwei neuen Heften seiner Zeitschrift (Die Wage) der Welt zeigt, daß er noch in ihr ist, einen ereiferten Gegner gefunden. Nach seinem Ausspruche taugt der Plan nichts, die Sprache ist unpoetisch, und es findet sich sogar – man höre! – ein Verstoß gegen die Jurisprudenz. Mit dem genialen A.E. Hoffmann und dem Edelmanne Hrn. A.v. Schaden geht Hr. Börne nicht besser um. Da entstand denn in einem Kreise billiger Kunstfreunde, welche Hrn. Börnes Aussprüche nicht billigen konnten, folgendes Distichon:


Adolf von Schaden zu tadeln? Mag sein! Dahin reichet dein Maßstab;

Aber von Hoffmann laß ab, Lieber, der steht dir zu hoch!

Nimmst du gar Houwalds so treffliches Bild auf die richtlose Wage,

Ja, dann hängt es fürwahr in contumaciam da. –


Die billigen Kunstfreunde mögen wohl damals billigen Wein getrunken haben, als das Distichon in ihrem Kreise entstand. Es ist mir nicht klar geworden, ob der Dichter mein Freund oder Feind sei, ob er mich loben oder tadeln wollte. Zwar duzt er mich und nennt mich »Lieber«, doch vielleicht ist er mir nur aus metrischen Gründen zugetan. Den Schwung, das Malerische des Distichons habe ich lebhaft aufgefaßt. Das »von Hoffmann laß ab!« ist wahrhaft plastisch; ich fühlte die Hand des Polizeidieners, der mich beim Arme packte, um mich aus dem Prügelgemenge zu ziehen. Aber über den Sinn des letzten Zeilenpaars bin ich zweifelhaft. Heißt es: meine Wage wäre ein Galgen! Das bin ich zufrieden; denn an den Galgen wird keiner unverdient gehängt. Oder wollte der[479] Dichter sagen: ich sei ein Galgenstrick? Ich wollte ihm nicht raten, dieses gemeint zu haben. Das wäre schlecht von ihm, ich bin ein ehrlicher Mann und bin kein Galgenstrick, und hat er mich wirklich einen Galgenstrick genannt und ich bringe heraus wie er heißt, dann verklage ich ihn bei der Dresdner Polizei.

Mit dem Prosaisten aber bin ich nicht zufrieden, das ist ein grober Mensch. Warum beleidigt er mich? Wozu sagt er von mir, ich hätte durch zwei Hefte der Wage der Welt zeigen wollen, daß ich noch in ihr sei? Mich ärgert das sehr. Solche Grobheiten belustigen weder, noch belehren sie die Welt. Der Herausgeber der Abendzeitung hätte diese Kränkung nicht aufnehmen sollen. Das Blatt ist sonst immer fein, immer wohlriechend; wahrscheinlich hat der Lampenbub vorn, ohne daß es der Hausherr wußte, dieses brenzlige Öl in die Lampe gegossen.‹[480]

Fußnoten

1 »Rezensent« ist ein helles und heiteres Wort, das seinen nächtlichen Sinn falsch bezeichnet; es dringt lustig ins Ohr wie Schalmeienklänge aus dem sonnigen Tale herauf. Buchrichter aber ist grauenvoll und malerisch, es tönt fast wie Blutrichter. Als Versuch will ich in dieser meiner kunstgerichtlichen Einrede sehen und zeigen, wie es sich ausnimmt. Uns arme Sprachreiniger aber verlache man ja nicht – das ist unsere Beute aus dem Befreiungskriege der Deutschen![467]


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Quelle:
Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Band 1, Düsseldorf 1964, S. 467-482.
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