Ein Traum

[270] Das war wundervoll: Ich träumte:

Es stand ein Haus dicht an der grünen See.

Ihre Wellen, smaragden, rasten gegen seine Mauern:

Tausende, tausende vorgereckte Hälse,

Gebogene Nacken, gepeitschte Schweife,

Eine wütende Meute heiseren Gebelles.

Ich saß hinterm Fenster, das wie in einer Kirche hoch war,

In einem Porphyrthrone, belegt mit gelben Kissen

Aus rauhem chinesischen Brokat, vom Kaiser Kanghi

Im Jahre sechzehnhundertundfünfundneunzig mir verliehen

Für einen Hymnus auf den Sohn des Himmels im Stile

Der purpurblauen Päonie. Ich sah hinaus,

Gekleidet wie ein Amsterdamer Ratsherr zur Zeit Rembrandts.

Drüben, hinter dem bellenden grünen Meere,

Aus lauter Lapislazuli, aber Silber in den Klüften,[270]

Hob sich Gebirg. Der Himmel war aus Gold,

Gehämmertem, ein Hintergrund für Heilige.

Und eine Insel lag im grünen Meer

Mit einem Tempel, – nein: mit einem Schlosse, – nein:

Mit einem Haus der Venus. Silbergrau,

Von Feuchte überronnen, war das Haus.

Die Ecke, die es mir entgegenkehrte,

War schön behauen. Eine nackte Frau

Bog sich, aus gelbem rosaädrigen Gestein,

Wie Marmor, aber rauher, poriger,

Hervor und wog in ihren schmalen Händen

Die vollen Brüste. Und sie lächelte.


»Oh Theodora, Hure, Kaiserin!« rief da mein Ratsherrnmund,

»Ich komme gleich!«


Es war ein Traum. Drum ging ich übers Meer

Wie über eine weiche grüne Wiese.

Es war ein Traum. Drum sah ich ihren Schoß

Als einen Lotoskelch. Es war ein Traum,

Drum schlug man mich ans Kreuz.

Die schöne Dame mit dem Lotoskelch,

Es war ein Traum, sah mit Vergnügen zu,

Wie man die Nägel mir durch Hand und Fuß

Mit hölzernen Hämmern trieb. »Tuts gut, mi fili?«

Rief Ihre Majestät und nahm

Ein Pralinee aus ihrer Bonbonniere.


Es war ein Traum. Drum war mein Schmerz Genuß.

Es war ein Traum. Drum schoß der Kreuzesast,

Von einem unsichtbaren Riesen wie ein Bogen[271]

Erdwärts gezerrt, mich einem Pfeile gleich

Hinauf zum goldnen Himmel: wo ich nun,

Es war ein Traum, als byzantinischer

Hochheiliger Erzbischof in Mosaik

Prachtvoll und majestätisch leuchtete.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 270-272.
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