Eisblumen zu Weihnachten

[260] Das unfruchtbare Eis, kalt, panzerglatt,

Verhärtet Leben, das dem Tode dient,

Der sich, der Farblose, mit ihm umschient –

Das Eis, das keine Seele hat,

Das unbewegte, allen Lebens Bann:


Das starre Eis selbst ist nicht tot.

In ihm auch wirkt gestaltendes Gebot,

Der Schönheit Triebkraft ward auch ihm:[260]

Es setzt geheimnisvolle Blüten an,

Und Schwingenrispen, wie dem Seraphim

Gefiederüppig sie aus Schulternrund,

Gekraust, geschwungen, tausendförmig und

In tausend Formen eine Form, entsprießen,

Siehst du im Eis nach innerstem Gesetz,

Ein wunderbares Bild, zusammenschießen.

Die ärmste Scherbe trägt ein Wundernetz,

Und alles gleißt von Wundersilberfliesen.


Sieh, Mensch, mit Andacht diesem Wunder zu

Und glaub ans Leben! Überall sind Triebe.

Es ist kein Wahn: Im Tode selbst ist Liebe,

Und neues Werden und bewegte Ruh.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 260-261.
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