[306] Heute nacht erschien ich mir
Als ein sonderbares Tier.
Hatte Krallen
Aus Korallen,
Hatte Hörner wie ein Stier.
Doch sie waren, ich gab wohl acht,
Waren aus Muschelkalk gemacht.
An ihren Spitzen saßen,
Geschliffen aus Topasen,
Zwei Augen, die waren wie wolkichte Nacht.
[306]
Wo sonst die Augen sitzen,
Sah ich aus schmalen Ritzen
Ein grünes Funkeln gehn;
Da glaubte ich mein Leben
Verfunkeln, verschweben,
Verblitzen zu sehn.
Ich hatte Lippen keine;
Es lagen zwei Steine
Malmend übereinander her,
Die waren ganz glatt gerieben;
Es stand darauf geschrieben
All meine Schuld und Sünde; – gottlob, ich weiß es nicht mehr.
Es hatte das Tier ein Fell, das war
Aus grünem Grase, nicht aus Haar,
Und war geblümt, – höchst wunderbar:
Lauter Herbstzeitlosen.
Statt eines Schweifes schwang es einen großen
Fleischigen, dicken Lilienstengel
Mit einer quittegelben Lilie dran.
Das Ding bewegte sich gleich einem Glockenschwengel
Und sah sich eigentlich lächerlich an.
Ich kam überhaupt bald auf den Verdacht,
Hier wird sich über dich lustig gemacht.
Auch fragt ich mich: Wie?
Ich wäre das Vieh?
Das Vieh wäre ich?
Ich bin doch weiß Gott nicht so wunderlich.
[307]
Indes eben das
War so über alle Maßen kraß:
Es tanzte das Monstrum
Nicht bloß so umsonst rum
Zu meinem Pläsier.
Nein ... ich ... war ... das .. Tier.
Es läßt sich nicht sagen, wieso, – es war
Mir einfach klar.
Also gut! dacht ich mir:
Wir sind eins: ich und – das;
Aber ich wüßte nun wenigstens gerne: was,
Bitte, was soll das bedeuten?
Wie ich so dachte, hört ich ein Läuten,
Oder vielmehr ein Glöckeln: gingging.
Es war die gelbe Lilie, das komische Ding,
Das auf seine Weise zu reden anfing:
Gingging, gingging, nein so was, nein:
Jetzt sieht der Kerl sich selber nicht ein!
Gingging, gingging, welch ein Kamel!
Er kennt nicht seine eigene Seel.
Gingging, gingging, wie dumm, wie dumm!
Er fragt: wieso, weshalb, warum?
Gingging, gingging, man glaubt es kaum:
Es denkt das Schaf sogar im Traum.
Gingging, gingging, ich habe es dick:
Der Kerl übt an sich selbst Kritik!
[308]
Gingging, gingging ... Da gabs einen Krach:
Weg war das Monstrum, und ich war wach.
Wie seltsam kam – der Traum? Ach nein:
Wie seltsam kam der Tag mir vor!
Das da im Bett: – ich soll das sein?
Mein ganzes Ich das? –: Kinderein! –:
Ein Teil, der sich ins Licht verlor.
Ein Glied von mir:
Nichts weiter bin ich hier.
In der heiligen Allnacht, im unendlichen Raum
Streck ich mich, dehn ich mich tausendgestaltig,
Bin Pflanze, Luft, Stein, Wasser, Tier:
Leben in allen Formen, lächerlich und gewaltig.
Gingging, es denkt das Schaf sogar im Traum.
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
|
Buchempfehlung
Jean Pauls - in der ihm eigenen Metaphorik verfasste - Poetologie widmet sich unter anderem seinen zwei Kernthemen, dem literarischen Humor und der Romantheorie. Der Autor betont den propädeutischen Charakter seines Textes, in dem er schreibt: »Wollte ich denn in der Vorschule etwas anderes sein als ein ästhetischer Vorschulmeister, welcher die Kunstjünger leidlich einübt und schulet für die eigentlichen Geschmacklehrer selber?«
418 Seiten, 19.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro