[184] Einige gingen heraus, andere suchten den Spielmann, um wieder zu tanzen; aber der war in einem Winkel des Flurs eingeschlafen, und da baten einige, man möge ihn in Ruhe lassen: »seitdem sein Kamerad Lars hier zuschanden geschlagen worden ist, hat Ole die ganze Zeit über aushalten müssen.« Unterdes war Thorbjörns Pferd angelangt; es wurde vor einen andern Wagen gespannt, da er trotz allen Zuredens weiter wollte. Besonders der Bräutigam gab sich alle Mühe, ihn zurückzuhalten: »Hier ist nicht soviel Freude für mich, wie mancher glaubt«, meinte er; und das brachte Thorbjörn auf eigene Gedanken; aber fort wollte er doch noch vor Abend. Als die anderen sahen, daß er darauf bestand, ließen sie ihn nach und nach allein; es waren viele Menschen da; aber es ging recht still zu, und das Ganze machte gar nicht den Eindruck einer richtigen Hochzeit. Thorbjörn brauchte einen Pflock für sein Pferdegeschirr, und suchte danach; auf dem Hof war nichts Rechtes zu finden, so ging er weiter, kam zu einem Holzschuppen und trat dort ein – langsam und nachdenklich; die Worte des Bräutigams klangen ihm noch immer in den Ohren. Er fand, was er suchte, und setzte sich ganz zufällig, mit Messer und Pflock in Händen, an die Wand. Da hörte er neben sich ein Stöhnen; das[184] mußte von der Innenseite der dünnen Wand kommen, hinter der die Wagen standen; Thorbjörn lauschte. »Du bist es? – Du?« brachte mit langen Zwischenräumen und mühsam eine Stimme heraus; eine Männerstimme. Darauf vernahm er, wie jemand weinte; aber das konnte kein Mann sein. – »Warum mußtest Du auch noch herkommen?« wurde gefragt; und jedenfalls von der Person, die weinte; denn Tränen klangen aus den Worten. – »Hm – zu welcher Hochzeit sollte ich denn aufspielen, wenn nicht zu Deiner?« sprach die erste Stimme. Das kann kein andrer wie Lars, der Spielmann, sein, dachte Thorbjörn. – Lars war ein ansehnlicher, hübscher Gesell, dessen alte Mutter in einer Kate unweit vom Gutshof zur Miete wohnte. Aber die andere Stimme, das mußte die Braut sein! – »Warum hast Du nie gesprochen?« sagte sie gedämpft, aber so gedehnt, als ob sie sehr bewegt sei. »Ich glaubte, das sei zwischen uns beiden nicht nötig«, lautete die kurze Antwort. Einige Augenblicke blieb es still, dann sagte sie wieder: »Du wußtest aber doch, daß er meinetwegen herkam.« – »Ich habe Dich für stärker gehalten.« – Dann hörte Thorbjörn nur, daß sie weinte; endlich stieß sie die Worte hervor: »Warum hast Du nicht gesprochen?«
»Es hätte wohl dem Sohn der alten Birthe viel genützt, wenn er mit der Tochter von Nordhoug gesprochen hätte«, erwiderte er nach einer Pause, in der er schwer Atem geholt und oft gestöhnt hatte. Die Antwort ließ auf sich warten; – »wir haben doch so manches Jahr ein Auge aufeinander gehabt«, klang es endlich.
– »Du warst so stolz, man konnte gar nicht richtig mit Dir reden.« – – »Es war doch nichts auf der Welt, was ich lieber gewollt hätte. – Ich wartete jeden Tag darauf; – wo wir uns trafen – mir kam es fast vor, als drängte ich mich Dir auf. Da dachte ich, Du machtest Dir nichts aus mir.« – Es wurde wieder ganz still; Thorbjörn hörte weder eine Antwort, noch weinen; er hörte nicht einmal den Kranken Atem holen.[185]
Thorbjörn dachte an den Bräutigam; er hielt ihn für einen braven Mann, und er tat ihm leid; und im selben Augenblick sagte auch sie:
»Ich fürchte, er wird wenig Freude an mir haben, – er, der –«
»Er ist ein braver Mann«, erwiderte der Kranke, und dann fing er an, unruhig zu werden, da ihm die Brust schmerzte. Es war, als ob sie die Schmerzen mitfühlte, denn sie sagte: »Mir ist schwer ums Herz Deinetwegen, – aber – wir hätten uns wohl nie ausgesprochen, wenn das nicht dazwischen gekommen wäre. Erst als Du Dich mit Knud gerauft hast, habe ich alles begriffen.« – »Ich konnte es nicht länger ertragen«, antwortete er, und einen Augenblick darauf: »Knud ist ein schlechter Kerl.« – »Ja, gut ist er nicht«, sagte sie, Knuds Schwester.
Sie blieben eine Weile stumm, dann sprach er: »Ich bin gespannt, ob ich wieder mal aufkomme; ach, das ist auch jetzt ganz einerlei.« – »Geht's Dir schlecht, so geht's mir schlechter,« darauf lautes Weinen. »Willst Du fort?« fragte er. – »Ja, ach, Du lieber Gott, – Du lieber Gott, was wird das für ein Leben werden!« – »Weine nicht so,« sagte er, »unser Herrgott macht hoffentlich bald ein Ende mit mir, und dann, wirst Du sehen, geht es auch Dir besser.« – »Jesus, Jesus, wenn Du nur gesprochen hättest!« rief sie mit verhaltener Stimme und schien die Hände zu ringen; Thorbjörn meinte, sie sei fortgegangen, oder nicht mehr imstande, weiter zu sprechen; er hörte eine ganze Zeitlang nichts mehr, und ging dann selber.
Den ersten, besten, den er im Garten traf, fragte er: »Warum sind denn Spielmann Lars und Knud Nordhoug aneinander geraten?« – »Warum, ja –« sagte Per Hausmann und zog sein Gesicht in Falten, als ob er was drin verstecken wollte; »danach kannst Du wohl fragen, denn es war nur um eine Kleinigkeit; Knud fragte Lars, ob seine Fiedel bei der Hochzeit hier auch gut gestimmt sei.« In demselben Augenblick ging die[186] Braut vorbei; sie hatte erst ihr Gesicht seitwärts gewendet; aber als sie den Namen Lars hörte, drehte sie es ihnen zu, und da zeigte es sich, daß ihre großen Augen ganz rot waren und flackerten; aber ihre Züge erschienen kalt, so kalt, daß Thorbjörn nichts von ihren früheren Worten mehr herauslesen konnte; da wurde ihm manches noch klarer.
Weiter vorn im Hof stand sein Pferd fertig zur Abfahrt; er schlug den Pflock ein und schaute nach dem Bräutigam, um Abschied zu nehmen. Er hatte keine Lust, ihn aufzusuchen; es war ihm fast lieber, daß der Bräutigam unsichtbar blieb, und so setzte er sich auf den Wagen. Da entstand mit einem Mal ein großer Lärm links von ihm, bei der Scheune; er hörte rufen, ein Menschenhaufen kam herangezogen, ein großer Mann, der voranging, schrie: »Wo ist er? – Hat er sich versteckt? – Wo ist er denn?« – »Dort, dort«, riefen ein paar Stimmen. »Laßt ihn nicht hin,« riefen wieder andere, »sonst gibt's ein Unglück.« – »Ist das Knud?« fragte Thorbjörn einen kleinen Jungen neben seinem Wagen. »Ja, er ist betrunken, und dann will er immer raufen.« Thorbjörn hatte sich schon zurechtgesetzt und trieb sein Pferd an. – »Halt! Halt! Kamerad!« rief es hinter ihm; er zog die Leine an, aber da das Pferd im Trab blieb, ließ er es gehen. »Hast Du Angst, Thorbjörn Granliden?« schrie es unweit; da hielt er an, sah aber nicht hinter sich.
»Steig ab, hier triffst Du gute Gesellschaft!« rief einer. Thorbjörn drehte sich um. »Danke, ich muß nach Hause«, sagte er. Wie sie ein bißchen hin- und herredeten, war der ganze Haufen herangekommen; Knud ging auf das Pferd zu, streichelte es und faßte es beim Zaum, um es anzusehen. Er war groß, hatte blondes, aber struppiges Haar und eine Stumpfnase, breite, dicke Lippen und milchblaue Augen, doch einen frechen Blick. Seiner Schwester ähnelte er wenig, nur etwas in einem Zug um den Mund; er hatte auch die gleiche gerade Stirn, aber nicht so eine hohe wie sie; alle ihre[187] feinen Züge waren bei ihm vergröbert. »Was willst Du für Deine Schindmähre haben?« fragte Knud. »Mein Pferd ist nicht zu verkaufen«, antwortete Thorbjörn. »Du meinst wohl, ich kann's nicht bezahlen?« sagte Knud. – »Ich weiß nicht, was Du kannst oder nicht kannst.« – »So, – also Du meinst: nein, – Du! Nimm Dich in acht«, sagte Knud. Der Bursche, der vorhin in der Stube an der Wand gestanden hatte und den Mädchen ins Haar gefahren war, äußerte jetzt zu einem Nachbar: »Diesmal hat Knud keine rechte Schneid.«
Das hörte Knud.
»Keine Schneid? Wer sagt das? Ich keine Schneid?« schrie er. Mehr und mehr Menschen kamen heran.
»Aus dem Weg! Achtung, das Pferd«, rief Thorbjörn und trieb seinen Gaul an; er wollte fort. – »Hast Du zu mir aus dem Weg gesagt?« fragte Knud. »Ich habe nur zum Pferd gesprochen, ich muß fort«, antwortete Thorbjörn, bog aber nicht aus. »Warum fährst Du gerade auf mich los?« fragte Knud. »Weg da!« – und das Pferd reckte sich in die Höhe, sonst hätte es mit dem Kopf Knud vor die Brust gestoßen. Da packte Knud es am Zaum und Gebiß, und das Pferd, das diesen Griff noch frisch im Gedächtnis hatte, fing an zu zittern. Das wirkte auf Thorbjörn; das mahnte ihn daran, was er selbst dem Pferde angetan hatte; den Ärger über sich übertrug er auf Knud. Nun sprang er auf und zog mit der Peitsche diesem eins über den Kopf. »Du schlägst?« schrie Knud und kam auf ihn zu. Thorbjörn sprang ab. »Du bist ein schlechter Kerl«, sagte er und wurde dabei totenblaß; die Zügel gab er dem Burschen aus der Stube, der herangetreten war und sich angeboten hatte. Aber der alte Mann, der nach Aslaks Erzählung von seinem Platz an der Tür aufgestanden war, ging nun auf Thorbjörn zu und zog ihn am Arm. »Sämund Granliden ist ein zu braver Mann, als daß sich sein Sohn mit solchem Raufbold abgeben sollte.« Das besänftigte Thorbjörn; Knud aber schrie: »Ich ein Raufbold? Das ist er gerade so gut wie ich, und mein Vater ist gerade[188] so gut wie seiner. Komm 'ran! Dumm genug, daß die Leute nicht wissen, wer von uns der Stärkere ist«, fügte er hinzu und legte sein Halstuch ab. »Die Probe darauf machen wir noch immer früh genug«, sagte Thorbjörn. Da meinte der Mann, der vorhin im Bette gelegen hatte: »Sie sind wie zwei Katzen, erst müssen sie sich anprusten beide.« Thorbjörn hörte das wohl, aber antwortete nicht. Einige lachten; andere sagten wiederum, das sei doch zu toll mit den vielen Raufereien auf dieser Hochzeit; sie sollten doch einen Fremden in Frieden lassen, der ruhig seiner Wege ziehen wollte. Thorbjörn sah sich nach seinem Pferd um, es war seine feste Absicht, weiter zu fahren; aber der Bursche, der es ihm abgenommen, hatte es eine ganze Strecke beiseite geführt und stand selbst wieder dicht bei Thorbjörn. »Was siehst Du Dich um?« fragte Knud, »Synnöve ist weit fort.« – »Was geht Dich Synnöve an?« – »Nein, so'ne scheinheiligen Frauenzimmer gehen mich gar nichts an,« sagte Knud, »aber vielleicht benimmt sie Dir den Mut!« Das war für Thorbjörn denn doch zu viel; die Umstehenden merkten, daß er das Terrain für den Kampf untersuchte. Nun traten wieder ältere Männer dazwischen und meinten, Knud habe bei dem Fest schon genug auf dem Gewissen. »Mir soll er nichts anhaben!« sagte Thorbjörn und darauf verstummten sie. »Laßt sie doch raufen,« sagten andere, »dann werden sie gute Freunde; sie haben sich lange genug mit bösen Blicken verfolgt.« – »Ja,« setzte einer hinzu, »jeder von beiden will der Stärkere sein; jetzt wird sich's ja zeigen.« – »Habt Ihr nicht das Bürschchen Thorbjörn Granliden irgendwo gesehen?« fragte Knud laut, »eben war er doch noch hier.« – »Hier ist er«, sagte Thorbjörn, und in demselben Augenblick bekam Knud einen Hieb über das rechte Ohr, daß er nahestehenden Männern in die Arme purzelte. Nun wurde es still in der Runde. Knud sprang auf – und vorwärts, ohne einen Laut von sich zu geben; Thorbjörn setzte sich zur Gegenwehr. Ein langer Faustkampf entspann[189] sich; beide wollten einander zu Leibe; aber beide waren geübt und jeder hielt sich den andern vom Leibe. Thorbjörns Hiebe fielen dicht und, wie einige sagten, auch recht wuchtig. »Da ist Knud mal an den Richtigen gekommen,« sagte der Bursche, der sich des Pferdes angenommen hatte, »macht Platz!« Die Frauen rissen aus, nur eine blieb oben auf der Treppe stehen, um besser sehen zu können; das war die Braut. Zufällig streifte Thorbjörns Blick sie; er zauderte einen Moment, da sah er ein Messer in Knuds Hand, erinnerte sich ihrer Worte: »Gut ist er nicht«, und traf mit einem wohlgezielten Hieb Knuds Arm so über dem Handgelenk, daß das Messer auf die Erde fiel, und der Arm kraftlos sank. »Au – das war ein Hieb!« rief Knud. »Spürst Du's?«, fragte Thorbjörn und stürzte auf ihn los. Knud war durch den gelähmten Arm in starkem Nachteil; er wurde hochgehoben, weitergeschleppt, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er geworfen war. Mehrmals wurde er so hingeschleudert, daß jeder andere mehr wie genug gehabt hätte; aber sein Rückgrat vertrug viel; Thorbjörn zog mit ihm herum, überall wichen die Leute zurück, – aber Thorbjörn schritt immer weiter mit ihm – er trug ihn um den ganzen Hof herum, bis sie vor die Treppe gelangten, dort schwang er ihn noch einmal hoch in die Luft und drückte ihn dann zu Boden; da gaben Knuds Knie nach, und er stürzte auf die Steinfließen, so lang wie er war, und es sang ihm und es klang ihm in den Ohren. Regungslos blieb er liegen, stöhnte tief und schloß die Augen. Thorbjörn richtete sich auf, sein Blick fiel gerade auf die Braut, die noch immer starr dastand und zusah. »Legt ihm etwas unter den Kopf«, sagte sie, drehte sich um und ging ins Haus.
Zwei alte Frauen kamen vorbei; die eine sagte zu der andern: »Herrgott! Da liegt schon wieder einer; wer ist denn das?« Ein Mann antwortete: »Er – der Knud Nordhoug.« Da meinte die zweite Frau: »Dann werden wohl die ewigen Raufereien mal ein Ende nehmen – die Menschen können doch ihre Kräfte zu[190] was Besserem brauchen.« – »Da hast Du ein wahres Wort gesprochen, Randi,« meinte die erste; »unser Herrgott helfe ihnen, daß sie lernen, weniger an sich als an Besseres zu denken.«
Das traf Thorbjörn und ergriff ihn tief; bisher hatte er kein Wort hervorgebracht; er stand nur da und sah den Leuten zu, die für Knud sorgten; einige sprachen ihn an, doch er antwortete nicht. Er wandte sich fort und überließ sich seinen Gedanken. Synnöve kam ihm vor allem in den Sinn, und er schämte sich fürchterlich; er überlegte, wie er ihr die Sache erklären könne, und es fiel ihm aufs Herz, daß er doch sein Leben nicht so leicht zu ändern vermochte, wie er geglaubt hatte. Im selben Nu rief es hinter ihm: »Paß auf, Thorbjörn!« und noch ehe er sich umdrehen konnte, wurde er von hinten an den Schultern gepackt und zu Boden geworfen; dann fühlte er nur noch einen stechenden Schmerz; aber er wußte nicht, an welcher Stelle. Er hörte Stimmen rings um sich her; es war ihm, als ob er weggefahren würde, manchmal glaubte er selbst die Zügel zu führen; aber bestimmt wußte er das nicht.
So ging es eine lange Zeit fort; ihm wurde kalt, dann wieder warm, und dann mit einem Male ganz leicht; so leicht, daß er zu schweben meinte, und nun begriff er: Baumkronen trugen ihn, eine zur andern, endlich hinauf zum Hügel; und wieder höher – zur Alm, und noch höher – hoch auf die höchste Felsenspitze, und Synnöve beugte sich über ihn und weinte und fragte: warum er nicht gesprochen habe? Sie weinte heftig und sagte dann, er habe doch gesehen, wie ihm Knud in den Weg getreten sei, und jetzt habe sie doch Knud nehmen müssen. Und dann streichelte sie ihn sanft auf der einen Seite, so daß er dort ganz warm wurde, und weinte so, daß sein Hemde ganz feucht wurde. Aber Aslak kauerte hoch oben auf einem großen, spitzen Stein und zündete die Baumkronen ringsum an; sie zuckten, sie zischten, Zweige flogen um ihn her, Aslak aber lachte mit weit aufgerissenem Mund: »Ich bin's[191] nicht gewesen, meine Mutter hat's getan!« Und auf der andern Seite stand Vater Sämund und warf Kornsäcke hoch, so hoch, daß die Wolken sie auffingen und das Korn wie Nebel verstreuten, und Thorbjörn wunderte sich, daß das Korn über den ganzen Himmel hinfliegen konnte. Und wie er wieder herunterblickte, war Sämund mit einem Male ganz klein geworden, so klein wie ein Punkt; aber er warf noch immer die Säcke, höher und höher und rief: Das mach' mir mal nach! Hoch, hoch oben in den Wolken stand die Kirche, und auf ihrer Turmspitze die blonde Frau aus Solbakken, die schwenkte in der einen Hand ein rotes Taschentuch, in der anderen ein Gesangbuch und sagte: »Hierher kommst Du mir nicht, solange Du noch raufst und fluchst!« – und als er schärfer hinsah, war es gar nicht die Kirche, – nein, es war Solbakken, und die Sonne strahlte so hell auf all die hundert Fensterscheiben, daß ihm die Augen davon weh taten und er sie schließen mußte.
»Vorsichtig, vorsichtig, Sämund!« hörte er mit einem Male rufen; er erwachte wie aus dem Schlummer, wie wenn er fortgetragen würde, und er sah sich um. Er war zu Hause in der Stube von Granliden; ein tüchtiges Feuer brannte im Herde; er erblickte neben sich die Mutter; sie weinte, der Vater wollte ihn eben aufnehmen – um ihn in eine Seitenkammer zu bringen, da ließ er ihn sacht wieder nieder: »Es ist noch Leben in ihm«, sagte er mit bebender Stimme und wandte sich zur Mutter; die schrie: »Lieber, lieber Gott, er schlägt die Augen auf! Thorbjörn, Thorbjörn, barmherziger Himmel, was haben sie mit Dir gemacht!« und sie beugte sich über ihn, streichelte ihm die Backen, und ihre Tränen fielen dabei warm auf sein Gesicht. Sämund wischte sich mit dem einen Ärmel die Augen, schob die Mutter sacht beiseite: »Ich möchte ihn doch jetzt gleich 'rübertragen«, sagte er, und legte die eine Hand vorsichtig unter Thorbjörns Schultern, die andere unter das Rückgrat. »Stütz' ihm den Kopf, Mutter, wenn er ihn nicht hochhalten kann.« Sie ging voran und stützte[192] den Kopf, Sämund suchte gleichen Schritt mit ihr zu halten, und bald war Thorbjörn umquartiert. Nachdem sie ihn gut gebettet und ordentlich zugedeckt hatten, fragte Sämund, ob der Knecht schon fortgefahren sei. »Da kannst Du ihn noch sehen«, sagte die Mutter und zeigte nach dem Hof hinaus; Sämund machte das Fenster auf und rief: »Wenn Du es in einer Stunde schaffst, kriegst Du doppelten Jahreslohn – und sollte das Pferd auch dabei drauf gehen!«
Er trat wieder ans Bett; Thorbjörn sah ihn mit großen, klaren Augen an; des Vaters Augen waren immer wieder auf den Sohn gerichtet und wurden feucht. »Ich wußte, es würde solches Ende mit ihm nehmen«, sagte er, drehte sich um und ging hinaus. Die Mutter setzte sich auf einen Schemel zu Füßen Thorbjörns und weinte, sprach aber nicht. Thorbjörn wollte sprechen, fühlte jedoch, daß es ihm zu schwer fiel, und schwieg darum. Aber beständig sah er seine Mutter an, und sie hatte früher nie einen solchen Glanz in seinen Augen bemerkt, noch empfunden, daß sie so schön wie jetzt waren, und das nahm sie für ein schlechtes Zeichen. »Gott der Herr steh' Dir bei,« stieß sie hervor, »ich weiß, es ist Sämunds Tod, wenn Du von uns gehst.« Thorbjörn sah sie an; seine Augen, sein Gesicht waren starr. Sein Blick drang ihr tief in die Seele, und sie begann das Vaterunser für ihn zu beten; denn sie hielt seine Stunden für gezählt. Und als sie so bei ihm saß, ging es ihr durch den Sinn, wie überaus lieb sie alle gerade ihn hatten; und jetzt war nicht eins von seinen Geschwistern zu Hause. Da schickte sie zur Alm, um Ingrid und den jüngern Bruder zu holen; dann setzte sie sich wieder an das Bett. Er sah sie unverwandt an; und sein Blick wirkte auf sie wie ein Gesangbuchlied, das sie sanft auf zu Höherem führte; und die alte Ingebjörg wurde andächtiglich ergriffen, nahm die Bibel und sagte: »Jetzt will ich laut zu Deinem Frommen lesen, auf daß es Dir gut ergehe.« Da sie ihre Brille nicht bei der Hand hatte, schlug sie eine Stelle auf, die sie von ihrer[193] Kinderzeit noch so ungefähr auswendig konnte, und die Stelle war aus dem Evangelium Johannis. Sie konnte nicht wissen, ob er es höre, denn er lag nach wie vor starr da, – aber sie las, – wenn nicht für ihn, so für sich selbst.
Bald kam Ingrid nach Hause, um die Mutter abzulösen; aber da schlief Thorbjörn gerade. Sie weinte unaufhörlich; sie hatte schon geweint, ehe sie von der Alm fortging; denn sie dachte an Synnöve, die ohne Nachricht blieb. – Dann kam der Doktor und untersuchte. Thorbjörn hatte einen Messerstich in die Seite bekommen und noch andere Verletzungen, aber der Doktor sagte nichts, und es fragte ihn keiner. Sämund begleitete ihn in die Krankenstube, stellte sich neben ihn und blickte ihm beständig ins Gesicht, ging mit hinaus, da der Doktor ging, half ihm hinauf auf seinen zweirädrigen Wagen und nahm den Hut ab, als der Doktor sagte, er werde am nächsten Tage wiederkommen. Dann drehte er sich zu seiner Frau um, die neben ihm stand: »Wenn der Mann nichts sagt, steht es schlecht«, seine Lippen zitterten, er drehte sich auf den Hacken um und ging querfeldein.
Niemand wußte, wo er steckte, er kam weder am selben Abend, noch in der Nacht, sondern erst den nächsten Morgen nach Hause, und da sah er so finster aus, daß sich keiner zu fragen getraute. Er selbst sagte nur: »Na?« – »Er hat geschlafen,« sagte Ingrid, »aber er ist so von Kräften, daß er nicht die Hand heben kann.« Sämund wollte in die Krankenstube, aber dicht vor der Tür machte er Kehrt.
Der Doktor kam am nächsten Tage wieder und auch die folgenden Tage. Thorbjörn konnte sprechen, aber er durfte sich nicht bewegen. Ingrid saß am meisten bei ihm, auch die Mutter oft und sein jüngerer Bruder; aber er richtete keine Frage an sie und sie nicht an ihn. Der Vater war niemals in der Stube. Die anderen sahen, daß der Kranke das merkte; er blickte gespannt hin, sobald die Tür aufging; jedenfalls doch, weil er den Vater[194] erwartete. Schließlich fragte ihn Ingrid, wen er wohl außerdem noch gern sehen möchte? »Ach, mich will ja keiner sehen«, antwortete er. Das wurde Sämund wiedererzählt; der entgegnete im Augenblick nichts, und als an diesem Tage der Doktor kam, war er nicht zu Hause. Aber ein Stück Weges vom Hofe erwartete er ihn bei der Rückfahrt; er hatte auf dem Grabenrand gesessen, stand auf, als der Wagen vorbeifuhr, grüßte und fragte nach dem Zustand seines Sohnes. »Sie haben ihm böse mitgespielt«, lautete kurz die Antwort. »Wird er durchkommen?« fragte Sämund und bastelte am Bauchgurt des Pferdes. »Danke, der Gurt sitzt ja gut«, sagte der Doktor. »Nicht stramm genug«, antwortete Sämund. Dann waren beide eine Zeitlang stumm; der Doktor sah ihn an; Sämund arbeitete eifrig an dem Gurt herum, blickte aber nicht auf. »Du hast gefragt, ob er durchkommen wird; ja, das glaube ich wohl«, sagte der Doktor langsam; Sämund blickte schnell auf. »Dann ist keine Lebensgefahr mehr?« fragte er. »Seit ein paar Tagen nicht mehr«, antwortete der Doktor. Da rollten Tränen aus Sämunds Augen; er wischte sie ab, aber sie kamen wieder, »'s ist 'ne reine Schande, wie lieb ich den Jungen habe,« schluchzte er, »aber einen prächtigern Burschen hat's im ganzen Gau noch nicht gegeben.« Der Doktor wurde gerührt: »Warum hast Du nicht schon früher gefragt?« – »Ich hätt' es nicht hören können«, antwortete Sämund und wollte die Tränen herunterschlucken; aber es gelang ihm nicht; »und dann waren die Frauensleute dabei,« fuhr er fort, »die sahen immer hin, ob ich Dich nicht fragen wolle, und da kriegte ich's nicht fertig.« Der Doktor ließ ihm Zeit, wieder ordentlich zu sich zu kommen, und nun blickte Sämund ihn fest an: »Wird er wieder ganz gesund?« fragte er plötzlich. »Soweit es möglich ist; übrigens läßt sich darüber mit Sicherheit nichts sagen.« Da wurde Sämund ruhig und nachdenklich. »Soweit es möglich ist«, murmelte er und blickte zu Boden. Der Doktor wollte ihn nicht stören; es war[195] etwas in dem Mann vor ihm, das es ihm verbot. Plötzlich hob Sämund den Kopf: »Ich danke für die Auskunft«, sagte er, reichte dem Doktor die Hand und ging nach Hause.
Währenddessen saß Ingrid bei dem Kranken. »Wenn Du es hören kannst, will ich Dir etwas vom Vater erzählen«, sagte sie. »Erzähle«, antwortete er. »An dem Abend, als der Doktor zum ersten Male hier war, war Vater plötzlich weg, und niemand wußte, wo er war. Da war er zum Hochzeitshause gegangen; den Leuten wurde schlecht zumute, als er eintrat. Er setzte sich an den Tisch und trank mit den andern; und der Bräutigam hat später erzählt, er habe geglaubt, Vater sei ins Taumeln gekommen. Aber dann erst hub er an, nach der Rauferei zu fragen, und erhielt auch genauen Bericht. Nun kam Knud; Vater wünschte, Knud solle erzählen, und ging auf den Hof zu der Stelle hin, wo Ihr gerauft hattet. Die ganze Gesellschaft ging mit. Knud erzählte, wie Du mit ihm umgesprungen seist, nachdem Du ihm die Hand lahm geschlagen hattest; aber als er nun nicht weiter mit der Sprache heraus wollte, richtete Vater sich hoch auf und fragte: ob das vielleicht dann so zugegangen wäre – und im selben Augenblick hatte er schon Knud vorn an der Brust gepackt, dann hob er ihn hoch und warf ihn auf die Steinfließen, wo noch Blut von Dir klebte; mit der linken Hand drückte er ihn nieder, mit der Rechten zog er sein Messer; Knud wechselte die Farbe und alle Gäste standen stumm dabei. Einige hatten gesehen, daß Vater geweint hat; aber getan hat er Knud nichts. Der lag da und rührte sich nicht. Vater riß ihn wieder hoch, warf ihn eine Weile darauf wieder zu Boden. ›Es fällt einem recht schwer, Dich entwischen zu lassen‹, sagte er und nahm ihn scharf aufs Korn, indem er ihn festhielt.
Zwei alte Frauen gingen vorbei und die eine sagte: ›Denk an Deine Kinder, Sämund Granliden‹, und sofort, so erzählen die Leute, hat Vater den Knud losgelassen, und bald darauf war er herunter vom Hof;[196] aber Knud drückte sich zwischen den Häusern fort von der Hochzeit und wurde nicht mehr gesehen.«
Kaum war Ingrid mit ihrer Erzählung fertig, da öffnete sich die Tür; jemand sah hinein, und das war der Vater. Sie ging gleich aus der Stube; Sämund trat ein. Wovon Vater und Sohn miteinander gesprochen haben, das hat niemand erfahren; die Mutter, die an der Tür stand und lauschte, glaubte doch einmal verstanden zu haben, daß sie darüber redeten, ob Thorbjörn wieder ganz gesund werden könne oder nicht. Aber sie war ihrer Sache nicht sicher, und hineingehen wollte sie nicht, solange Sämund drin war. Als er herauskam, waren seine Züge sehr sanft, seine Augen etwas gerötet. »Wir werden ihn wohl behalten,« sagte er im Vorbeigehen zu Ingebjörg, »aber unser Herrgott weiß, ob er wieder ganz gesund wird.« Ingebjörg fing zu weinen an und ging ihrem Manne nach; auf der Treppe zum Schuppen setzten sie sich nebeneinander, und sie besprachen mancherlei.
Als aber Ingrid leise wieder zu Thorbjörn hineinkam, lag er da mit einem Zettel in der Hand und sagte ruhig und langsam: »Den Zettel gib Synnöve, sobald Du sie triffst.« Als Ingrid gelesen hatte, was darauf stand, wandte sie sich ab und weinte, denn auf dem Zettel stand:
»An die hochgeschätzte Jungfrau Synnöve, Tochter des Guttorm Solbakken.
Wenn Du diese Zeilen gelesen hast, so soll es aus sein zwischen uns beiden. Denn ich bin nicht der Mann, der für Dich bestimmt ist. Unser Herrgott sei mit uns beiden.
Thorbjörn, Sohn des Sämund Granliden.«
Buchempfehlung
Wenige Wochen vor seinem Tode äußerte Stramm in einem Brief an seinen Verleger Herwarth Walden die Absicht, seine Gedichte aus der Kriegszeit zu sammeln und ihnen den Titel »Tropfblut« zu geben. Walden nutzte diesen Titel dann jedoch für eine Nachlaßausgabe, die nach anderen Kriterien zusammengestellt wurde. – Hier sind, dem ursprünglichen Plan folgend, unter dem Titel »Tropfblut« die zwischen November 1914 und April 1915 entstandenen Gedichte in der Reihenfolge, in der sie 1915 in Waldens Zeitschrift »Der Sturm« erschienen sind, versammelt. Der Ausgabe beigegeben sind die Gedichte »Die Menscheit« und »Weltwehe«, so wie die Sammlung »Du. Liebesgedichte«, die bereits vor Stramms Kriegsteilnahme in »Der Sturm« veröffentlicht wurden.
50 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro