I.

[60] Bei seiner Rückkehr hatte Rother folgenden Brief gefunden:


»Geehrter Herr,


Verzeihen Sie, daß ich es wage, dieße Zeilen an Sie zu schreiben, es ist ja nur betreffs meines Bildes, um dessen Rückgabe ich Sie einst bat. Ich weiß, daß Sie mir zürnen. Denn wenn Sie Charakter haben, müssen Sie das thun, denn Ursache haben Sie vollauf, und eben weil ich das annahm, glaubte ich damals nicht eine wunde Saite bei Ihnen zu berühren, Erinnerungen bei Ihnen wachzurufen – – wenn ich Sie um Rückgabe meines Bildes bat, weil ich Selbes für Sie längst wertlos wähnte und außerdem sind Sie in ganz Deutschland der einzige Besitzer eines Bildes in dieß Genre, da ich seiner Zeit bloß drei machen ließ und die zwei andern in Händen meiner Familie sind.

Da ich nun aber aus Ihren Zeilen ersehen daß Ihnen noch ein klein wenig an dem Bilde liegt behalten Sie es als Erinnerung an eine traurige Zeit für Sie[60] und mich und wenn es Ihnen manchmal aus versehen in die Hände kommt, urtheilen Sie nicht zu strenge über daß Original, welches auch ein schlagendes Herz in der Brust hat und auch recht deutlich fühlt was wohl und wehe thut ... Mit dem Kohlrausch bin ich fertig für ewige Zeiten mein Ohr wird beleidigt wenn ich von ihm höre. Fragen Sie mich nicht wie es gekommen, sondern ziehen Sie den Charakter dieses K. in Betracht. Dann können Sie sich selbst Antwort geben. Nun sende ich Ihnen meinen letzten Gruß und wünsche Ihnen all das gute was man Jemand wünscht, für den man die größte Achtung im Herzen hegt«


Rother stützte sein Haupt in beide Hände. Große Thränen quollen aus seinen Augen und jede Thräne brannte.

Dann stürzte er sich auf sein Schreibzeug und entwarf in einem Zuge folgenden Brief:

»Verzeihen Sie, wenn Ihr Brief mich drängt, auf einige Punkte desselben noch einmal zu antworten.

Hätte ein Mann diesen Brief mit seiner ruhigen Vornehmheit der Gesinnung, in ehrlichem Eingestehen eigener Verschuldung und doch Bewahrung der eigenen Würde, geschrieben, so würde ich nicht anstehen zu urtheilen: Diesen Brief hat ein Gentleman geschrieben.«

Sie täuschen sich aber in zweierlei Dingen.

Sie meinen, ich müsse auf Sie »böse sein«, wenn ich Charakter hätte. »Charakter« zeigt sich aber nicht in kleinlichem Nachtragen, sondern in großmüthigem Verzeihen und vor allem in Beherzigung des französischen[61] Sprüchworts: »Alles verstehen heißt alles verzeihen.« – Ich bin eigentlich nie »böse« gegen Sie gestimmt gewesen, sondern habe nur Mitleid und Bedauern empfunden. Daß ich wie gewöhnlich auf den ersten Blick den Charakter jenes K. durchschaute, ist ja natürlich; daß Sie meine Warnung so sehr berechtigt finden mußten, freut mich wahrlich nicht, sondern betrübt mich tief. Es ist aber ein altes Porrecht der Frauen, oft den erbärmlichsten Wicht dem Besten vorzuziehen. »Schwachheit, dein Name ist Weib.«

Wenn Sie aber wähnen, daß ich jedes Interesse für Sie verloren hätte, so irren Sie sich leider sehr über die Tiefe der Empfindung, welche Sie mir eingeflößt haben. Stolze Naturen wie die meine, welche innerlich stets einsam sind, pflegen Liebe und Haß nicht täglich wie ein Hemd zu wechseln. Die landläufige Verliebtheit ist, bei Männern wenigstens, eine Sache, die mit Essen und Trinken auf einer Stufe steht. Solche »Liebe« ist Eitelkeit und Sinnlichkeit, wenn sie nicht Wahnsinn ist. Bei meiner großen Geringschätzung der weiblichen Natur habe ich das stets nur als Spiel und Sport betrachtet und behandelt. Bei Ihnen aber liegt die Sache anders. Ich glaube kaum, daß ich je wieder fähig bin, ähnlich selbstlose Gefühle für irgend ein weibliches Wesen zu hegen. Die Liebe hat ein sehr sicheres Warum, sie ist ein Naturtrieb. Ich zweifle daher nicht, daß Sie eine naturnothwendige Ergänzung meiner Natur geworden wären.

Doch das Leben ist rauh und erbarmungslos, und die Verhältnisse meist unüberwindlich, – wenn sie es[62] auch im äußersten Nothfall für Menschen von meiner Energie niemals sind. Doch – geschehn ist geschehn und vorüber ist vorüber.

Doch werden Sie begreifen, daß nach solchen Erlebnissen ein völliges Vergessen unmöglich ist und daß ich, wann und wo ich Sie auch je im späteren Leben wiedersehen mag, Sie niemals ganz gleichgültig für mich sein werden, ebenso wie Sie nie meinen Namen lesen werden, ohne daß ein seltsames Erinnerungsgefühl Sie beschleicht.

Jedenfalls aber danke ich Ihnen herzlich für Ihren Brief, und danke Ihnen, daß Sie mir »größte Achtung im Herzen« bewahrt haben. Ich erwiedere diese Achtung und bleibe Ihr schweigender Freund, der Ihnen für alle Zukunft aufrichtige Theilnahme ohne alles Nebeninteresse heimlich bewahrt und Ihnen mehr Glück und Seelenfrieden wünscht, als Ihr Schicksal es bisher Ihnen bescheert hat.

Schon wollte Rother diesen Brief absenden – natürlich an die alte Adresse in der Gerichtsstraße –, als sein Blick zufällig auf das Couvert fiel, das er natürlich nach Erkennung der Handschrift sofort erbrochen hatte, ohne den Poststempel zu beachten. Jetzt fiel ihm dieser ins Auge: – Hamburg! Was bedeutete das? Sie hatte sich dieses Kohlrauschs entledigt und ging nun dennoch nach Hamburg zurück?!

Ohne zu zögern, eilte er sofort zu Frau Lämmers.

Diese empfing ihn mit größter Verlegenheit.

Sie habe Herrn Rother aufgesucht, um ihm Mittheilung[63] zu machen – obschon sie ihn ja kaum kenne, sei dies doch ihre Pflicht gewesen. Und nun grade mußte sie erfahren, daß er verreist sei!

Worum es sich handele? O ganz einfach. Erstlich wollte Kathi durchaus nicht dulden, daß Rother in Ungelegenheiten gebracht werde, und erklärte, dabei werde sie nie gegen ihn zeugen. Und dann, sobald sie unter den dringenden Umständen mit Kohlrausch wirklich Ernst machen wollte, habe sich dieser unter allerlei Vorwänden »glatt wie 'n Aal« zurückgezogen. Endlich sei es klar geworden, daß er im Grunde auch nur darauf spekulirt hatte, das schöne Mädchen herumzukriegen. Endlich in einer heftigen Scene, als sie ihm Vorwürfe machte, erklärte er brutal gradheraus, daß es ihm nicht einfallen werde, ein Mädel ohne einen Pfennig in der Tasche zu heirathen. In einer Aufwallung wahnsinniger Wuth hatte sie ihn darauf geohrfeigt, ihm die Thür gewiesen und einen heiligen Eid geschworen, sie wolle ihn niemals wiedersehn. – Stundenlang, erzählte Frau Lämmers, habe sie sich auf dem Sopha in Weinkrämpfen gewälzt und immer wieder gerufen: »Das ist die Strafe! O Rother, Rother!«

Daraufhin sei sie, die Wirthin, heimlich zu Rother gegangen. Als sie dann Kathi mittheilte, was sie gethan – worüber diese aufgefahren sei: »Ich sterbe vor Scham!« – habe diese, sobald sie erfuhr, Rother sei nach England gereist (also jedenfalls für lange), sich würdig gefaßt. Das freue sie. Er sei nun wenigstens erlöst und gerettet. Nie werde sie ihm mehr unter die Augen treten können.[64]

Was aber nun! Wovon leben! Wieder die alte Geschichte, wie im vorigen Sommer! Einen ihrer alten Verehrer beglücken – ja, dazu war noch immer Zeit. Aber ehe sie das that, eher sterben!

Da führte ihr in einem Café der Zufall einen jungen eleganten Herrn in den Weg, mit dem sie in ein Gespräch kam. »Ja und was wollen Sie! In den hat sie sich verliebt! Und nun ist's obendrein ein sehr reicher junger Herr. Kurzum –«

»Kurzum! – Aha!« Es war Rother, als ob eine andre Stimme so dumpf aus ihm antworte. »Und da sind sie nun sozusagen auf der Hochzeitsreise?«

»Ja natürlich! Hier hätt' ich das Verhältniß nie geduldet und Kathi selbst wollte nicht – hier wäre sie ja doch leicht ausgespürt worden. Wohin sie sind, weiß ich nicht recht. Doch glaube ich –« Sie zögerte.

»Nur heraus mit der Sprache!«

»Ich hörte mal, wie er viel von Norwegen erzählte, wo er hin wollte. Das sei jetzt bei den Herrn Touristen so beliebt. Und sie ließ sich viel von ihm erzählen darüber.«

»Stimmt. Poststempel Hamburg. Und ... und – wie heißt ihr neuer Amoroso?«

Frau Lämmers zögerte. »Ja, ich weiß nicht ... Sie müssen mir versprechen, mich nie zu verrathen ...«

»Mein Ehrenwort.«

»Also gut. Er heißt Eugen Wolffert

»Eugen Wolffert! Der Sohn des Kommerzienrath[65] Wolffert – des Waffenfabrikanten, des fortschrittlichen Reichstagsabgeordneten?«

»Derselbe.«

Rother stand einen Augenblick regungslos. Es durchschauerte ihn jählings der Gedanke, daß es wohl gar keinen Zufall gebe, sondern alle Dinge innerlich aus Nothwendigkeit in einem abgezirkelten Kreise zusammenlaufen. Berg und Thal kommen nicht zusammen, aber wohl die Menschen in Berlin.

Er faßte sich jedoch rasch und that möglichst unbefangen. Daß die Sache nun also endlich aus und zu Ende sei, befriedige ihn. So sei Kathi denn besorgt und aufgehoben. Somit empfehle er sich Frau Lämmers und danke ihr für die vielen Unannehmlichkeiten, deren sie dieser Geschichte halber sich unterzogen.

Zu Hause steckte er sich eine Cigarre an und überließ sich Träumereien, die an seine Vergangenheit anknüpften.

Eugen Wolffert! Ja, den hatte er gekannt. Er dachte an eine Episode seines Jugendlebens zurück, an den Tag seiner Abiturientenprüfung.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[66]


Der würdige Pädagoge hatte gesprochen, ordnete seine weiße Kravatte, schob seine Brille zurecht und erglänzte von dem milden Lächeln väterlichen Wohlwollens. Die Mütter, völlig überwältigt von den klassischen Citaten und Rührung, weinten bitterlich. Die Schwestern starrten – nicht nach dem speziellen Bruder, sondern seinen speciellen Collegen. Die Väter versuchten ergriffen auszusehen. Kurz, alles ging so zu, wie es seit grauer Vorzeit bei Abiturientenentlassung herkömmlich ist. Leider schienen die »nicht ganz gewöhnlichen Charaktere,« wie Director Sprengler es so schön ausgedrückt hatte, »der drei Aspiranten des öffentlichen Lebens« am wenigsten sanfteren Gefühlen zugänglich. Der Eine lehnte mit verschränkten Armen (eine Stellung, die er zur äußersten Entrüstung des Pedells und der jüngeren Schulamtscandidaten während der letzten fünf Minuten kaltblütig behauptet hatte) an einem Pfeiler in der Haltung stolzer Gleichgültigkeit. Der Andere blickte dem Lehrer seiner unerfahrenen Jugend, die Augen halb geschlossen, in die Reuer der Beredsamkeit strahlenden Brillen, – mit dem kahlen und mitleidigen Lächeln, das sich bei näherer Besichtigung wie verächtlicher Hohn ausnahm.[67] Der Autokrat der Aula schien übrigens an diese verrätherischen Anzeichen eines schlechten Gemüths durch langjährige Erfahrung gewöhnt.

O, er fühlte es, der absolute Dynast, mit gerechtem Groll: dies war nicht mehr das Lächeln des Trotzes sondern das triumphirende Lächeln des Befreiten vor seinem früheren Kerkermeister.

»Dieser Jüngling nimmt ein schlechtes Ende!« murrte der wohlwollende Seher einem grauhäuptigen Oberlehrer der Anstalt zu – dem wohlbekannten Dr. Müffich, welchem jene von der gelehrten Welt mit solchem Beifall aufgenommene Abhandlung über den Bart des Sokrates gelang. »Recte!« versetzte dieser graue Trojaner. »Die Jugend wird immer verderbter!«

»Und welch schlechte Manieren!« wisperte der schöne Dr. Lucä, welcher einen Essay – beileibe nicht Dissertatio, heute wird die Wissenschaft modern und elegant, Schlafrock wird unschicklich selbst für Metaphysiker, und die schlafmützigste Gründlichkeit wirft sich in Frack und Glacee – über die Superiorität des französischen Geistes verbrochen hat: ein Thema, das ihm bei einem gerechten deutschen Publikum große Sympathien gewann. Lucä war auch mal in Paris gewesen und litt am Größenwahn der Gallomanie.

Der dritte Jüngling entfaltete indessen die Talente eines Satelliten. Erst versuchte er die stolze Nonchalance von Nr. 1, dann die sardonische Grimasse von Nr. 2 nachzuäffen. Schwankend zwischen der Verehrung zwei so illüstrer Vorbilder, gähnte und grinste er in schönem[68] Wechsel, bis er endlich, ermüdet von seinen erfolglosen Anstrengungen, das Kennzeichen seiner wahren Natur entwickelte, nämlich den träumerischen Blick phantastischer Duselei.

Der großartige Ritus der Entlassung war nun zu beendigen durch den ehrenvollen Akt des Händeschüttelns mit dem einstigen Despoten. Der Gleichgültige schüttelte mit jovialer Herablassung, der Träumerische wie ein verlegenes Kind, und der Höhnische mit einer beleidigenden kalten Höflichkeit.

Dann wandte sich der wohlerzogene junge Mann mit einem halb natürlichen, halb affektirten Gähnen zu seinen zwei Freunden, welche mittlerweile ihren Familien eine zarte Eröffnung über einen zu haltenden »Soff« bereitet hatten, den die drei Abiturienten für den Abend verabredet hatten. Für ihn selbst schien keine Familie anwesend. – Sie standen allein in der Vorhalle der Aula. »Eh bien!« rief der Gleichgültige, offenbar die Hauptperson dieses Kleeblatts, »all right? Gürten wir denn unsre Lenden und wandeln in das gelobte Land, wo Bairisch und Kutscher in Strömen fließet! – So leb' denn wohl, Du altes Haus! Herr Pedell, unsre Ueberzieher! Und hier, lieber Herr, ein kleines Souvenir für so viele Mühe!«

»Danke, danke, Herr Wolffert!« kratzfußte der gerührte Herr Baum, drei Thaler bis ins Herz hinein fühlend, »danke Sie vielmals! War mich immer eine große Ehre, einem so seinen jungen Herrn gefällig zu sein! Ich hatte, därf ich woll sagen, stets een Auge auf[69] Ihnen! Viele Mühe – hehe! Des dürfen Sie woll sagen! Schon – alleine –«

»Die Carcer!« lachte der junge Mann fröhlich. »O muß ich denn auch Dich verlassen, Wiege meiner Jugend? Wann war's denn das letzte Mal, lieber Herr Pedell?«

»Na, wissen Sie, mir däucht, als Sie Herrn Schulamtskandidaten Specht so frech – däs will sagen, ich meine – so kavaljeremang traktirten! Die Geschichte mit das Fenster!«

»Ich kann mich wirklich nicht erinnern!« behauptete der Schwerenöther. Er wollte es gern noch einmal hören.

»Nä, däs muß man sagen? Nich erinnern? Vier Stunden Brummen? Däs heißt – ich erinnere mir, gebrummt haben Sie nicht, aller jejrölt haben Sie janz laut ›Steh ich auf finstre Mitternacht‹ und andere jefühlvolle und patriotische Jesänge und – juter Jott! – jejessen haben Sie! Ich erinnere mir, der Career glich Sie einer Eßwaarenhandlung!«

»Bravo! Kapitales Gedächtnis! – He, Leonhart!« Der Höhnische hörte auf diesen Namen. »Willst Du nicht über die Functionen der Erinnerung in den Gehirnen der Masse philosophiren? Hier Herr Baum hat ein tief entwickeltes Stullengedächtniß!«

»Und ein Trinkgeldgedächtniß dazu! Ich habe nie daran gezweifelt: Seine ›Freuden der Erinnerung‹!«

»Na, was däs anbelangt, Herr Leonhart, so gaben Sie mich mindestens nich ville Jelegenheit, dies Jedächtniß zu exerciren!«[70]

Der erboste Pedell war offenbar schon lange von der Insolenz dieses Leonhart gereizt. Er riskirte lieber sein Trinkgeld zu verlieren; vielleicht wußte er, daß er doch keins bekam.

»Unsinn, lieber Herr Baum!« lachte Wolffert. »Er meint's nicht so! Er insultirt Leute manchmal nur, weil es so seine Gewohnheit ist. Keine böse Absicht!« Er versuchte augenscheinlich den Protektor zu spielen. »Und nun, um auf den besagten Hammel zurückzukommen« –

»Sie meenen den Specht? Nu, sehn Sie, die Sache war Sie die: Die Klassenfenster stehen offen. Und Monsieur Specht« – nach drei Thaler Trinkgeld darf man schon was riskiren! – »kommt in die Prima, wo er ja nischt zu suchen hat, und kreischt: ›Fenster zu! Sie da!‹ Und damit meint er Ihnen, Herr Wolffert, insofern als Sie zunächst das Fenster standen, sehn Sie –›Sie da,‹ sagt er ›machen Sie mal die Klappe zu!‹ Däs traf Ihnen. Und Sie sagen, sehen Sie: ›Herr, den ich nicht zu kennen die Ehre habe‹ – däs war frech, entschuldigen Sie mir, aber däs war frech!« (›Frech‹ bedeutet: tapfer und brav, im Schuljargon) »Sie sollen Ihre Lehrer kennen. Sehn Sie! – Also: ›Ehre habe!‹ sagen Sie ›machen Sie lieber selbst Ihre Klappe zu!!‹«

»Das war riesig frech!« jubelte der Träumerische und warf einen Blick tiefen Respekts auf seinen vom Bewußtsein edler »Frechheit« strahlenden Freund.

»›Oder bitten Sie mir erst!‹ sagen Sie. ›Man bittet in anständige Jesellschaft!‹ – Na, das Jesicht von Spechten können Sie sich man selber imaschuiren!«[71]

(Baums klassische Studien bereichern seinen Wortschatz mit Gebilden einer seltsamen Sprache, welche von Gelehrten der Tertia für Chaldäisch erklärt wird, mit Anklängen an das Etruskische.) »Roth, wie ein Puter schreit er: ›Sie impertinenter Flegel!‹ sagt er ›Ihren Namen!‹ – Hehe, impertinenter Flegel! sagt er – entschuldigen Sie mir, aber däs war stark! ›Impertinent‹ ist stark!«

»Wurde noch nie einem Primaner geboten!« bemerkte der Höhnische, mit schmunzelnder Befriedigung, daß man selbst diesem Heros so was bieten konnte!

»Lachen Sie nicht!« rief Wolffert jedoch mit herrischer Stimme, roth vor Zorn. »Ich werde diesen vulgären Burschen später zurecht setzten! Bei Philippi sehen wir uns wieder!«

»Na gut ›Impertinenter Flegel!‹ sagt er also –«

»Sie brauchen es nicht wiederholen!«

»No, nee! Entschuldigen Sie mir – hm! hm! Imper – das war stark! ›Ihren Namen!‹ sagt er. Sagen Sie: ›Mein Name ist Wolffert! Ich bin sonst ein sehr höflicher Mensch! Aber, wenn ich mit Grobianen –‹ hehehe! Das war frech. ›Das wird sich finden!‹ schreit er. Und es fand sich, daß Sie sich im Career fanden! Na, frech war es doch!«

»Danke für diese Erinnerungen einer schönen Seele und besonders Ihre erläuternden Bemerkungen! Adieu, lieber Herr! Muh i denn, muß i denn zum Städtle hinaus und Du mein Schatz bleibst hier? Hat mich sehr gefreut, Ihre langjährige Bekanntschaft gemacht zu haben!«

»Ileichfalls! Ileichfalls, Herr Wolffert! Erhalten[72] Sie mich Ihr schätzbares Wohlwollen! – Ihr Diener, meine Herrn!«

»Empfangen Sie die Segenswünsche eines kindlichen Herzens!« Leonhart klopfte ihm gravitätisch auf die Schultern, »Lieber Baum, wachsen und blühen Sie und mögen wir – wer von uns beiden wünscht's am innigsten – uns nimmer wiedersehn!« Er verschwand ohne Trinkgeld.

»Impfpudtanz!« (Sollte heißen: Impudenz), murmelte der verletzte Kastellan. »Redensarten hat er immer, die man nicht braucht, aber nie einen Dreier!« Der Träumerische gab eine Mark und sagte simpel Adieu. Der Pedell, welcher den Wert jedes Menschen richtig taxirte, dankte ihm kaum. Nur Unverschämtheit flößt den niederen Ständen Achtung ein.

Die Drei schritten rasch, um sich warm zu laufen, Arm in Arm vorwärts.

»Die langweilige Geschichte wäre also endlich vorüber!« hob Leonhart an. »Nun steht noch der Einjährige wie ein Gespenst vor meinem ahnenden Geist. Der Schuljunge ist todt, todt, todt!« Das »todt« tirilirte er mit einem Juchzer in die Luft hinaus.

»Pah, was sind Unteroffiziere und drei Millionen Donnerwetter, multiplizirt mit einer Erbswurst,« fiel der gewaltige Wolffert mit seiner üblichen gezierten Genie-Pupperei ein, »im Vergleich zu den Impertinenzen dieser Schulmeister! – Juchhe, ich bin so hungrig, als wäre heut nicht der feierlichste Moment meines Erdenwallens. Erst gezüchtet und auf die Lebensweide geschickt,[73] wie Hämmel mit Zeugniß Strichen auf dem Rücken! Dann auf die Thierschau geschickt und hartgeritten beim Militär und wieder mit Zeugnissen aus dem Militärdienst entlassen! Dann mit Zeugnissen vor den Altar getrieben und dann selig verstorben und beerdigt – mit Zeugnissen!«

»Sehr gut.« Leonhart lachte laut und bitter auf. »Wieviel Papiergepäck ein Mann auf die Reise über'n Styx mit sich bringt! Wieviel ›Zeugnisse‹ man braucht, um ehrlich sterben zu können!«

Rother schwieg und lauschte nur entzückt auf die krankhaft sprühende Lustigkeit dieser phosphorescirenden Nichtse. Mit der gleichen widerlichen Affektation, an die er heut nur mit verächtlichem Lächeln zurückdenken konnte, feierten sie dann ihr Abschieds-Convivium, wobei natürlich Wolffert wieder als Präses und Matador strahlte. Sie hatten sich dann mit dem Versprechen getrennt, auch im späteren Leben (jeder von ihnen ging vorerst verschiedene Pfade: Wolffert als forscher Corpsstudent nach Heidelberg, Rother auf die Malerakademie nach Düsseldorf, Leonhart nach seiner Heimat in Quedlinburg am Harz) zusammenzuhalten. Wie es gewöhnlich bei solchen Versprechen geht, hielt es keiner. Anfangs hatte man noch ab und zu von einander hören lassen. Bald erlosch jedoch jede Verbindung. – Leonhart und Rother hatten sich erst spät in Berlin wiedergetroffen, beide mittlerweile bekannte Namen in ihrem Fach geworden. Wolffert war für sie ganz verschollen.

Sohn eines sehr reichen Mannes, des Kommerzienrats[74] Wolffert, (Waffenfabrikant und fortschrittlicher Reichstagsabgeordneter), benutzte der bezaubernde Eugen natürlich diese natürlichen Vorteile, um vorerst das Leben zu genießen. Er lebte in Paris, London, Rom und tobte sich aus, ging dann nach Amerika. Nachher warf er sich auf naturwissenschaftliche Studien mit demselben Eifer, wie er früher Rudern, Schwimmen, Fechten, Reiten und ähnlichen Sport cultivirt hatte, und glaubte in der Chemie den Schlüssel zum Welträtsel entdeckt zu haben. Allein, er brachte es auch hierin zu nichts und der himmelstürmende Titane in Glacés, der auf der Schule sich als neuer Mirabeau von den Commilitonen anstaunen ließ, entpuppte sich, wie so viele »Genies« der Flegeljahre, als ein höchst gewöhnlicher Dilettant und Weltbummler. Wer hätte damals prophezeit, daß der blasse süffisante Leonhart ein berühmter Dichter und der träumerisch schüchterne Rother ein sehr bekannter naturalistischer Künstler werden könne! Aber auf den schneidigen eleganten Wolffert – ja, auf den hätte Jeder geschworen, daß etwas Außerordentliches in ihm stecke! Und nun nichts, gar nichts – ein reicher junger Mann, der den Namen seines Vaters führte – der Sohn seines Vaters!

Ach, Rother erinnerte sich mit wehmüthiger Ironie an verschiedene Wunderkinder, in welchen die Herrn Schulmeister neue Säulen der Wissenschaft geahnt hatten, – besonders einen gewissen neuen Mommsen. Ach, dem jungen »Doctor« war er kürzlich begegnet. Wie hatte nicht er selbst den früher bewundert! Und nun mit seinen welt- und leidgeschärften Augen sah er einen[75] kümmerlichen philiströsen Durchschnittsmenschen in dieser jungen Leuchte der Wissenschaft – ein Menschlein, grade gut genug, um in alten Pergamenten zu büffeln und Inschriften mit seiner blöden Brille zu entziffern.

Eugen Wolffert! Eine unaussprechliche Verachtung ergriff ihn bei diesem Namen. Dann keimte allmählich ein düsterer Haß in ihm empor. Ein solcher Halb-Mensch, der nie wahrhaft gelitten, nie wahrhaft gelebt, nie wahrhaft gestrebt, geschweige denn gewirkt – ein solcher Eunuch geschwätziger Pseudo-Bildung kreuzte seinen Weg und nahm ihm, was sein durch das Recht der Liebe und des Leids. Wie er auf der Schule durch seine imponirende Aeußerlichkeit den unscheinbaren bescheidenen Rother niedergedrückt, so sollte er auch jetzt den Sieg davontragen?

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 2, Leipzig 1888, S. 60-76.
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