|
[163] Der Monat September war auf Mittelbach unweigerlich dem Vergnügen gewidmet. Die Ernte auf allen großen Gütern der Gegend war eingeheimst, der gesellige Verkehr, der im Sommer fast schlummerte, begann mit dem Besuch in Mittelbach. Graf Taiß mit seiner Gemahlin und deren Schwester wohnten dann einige Wochen bei Fanny, die eine entfernte Verwandte der beiden Damen war; ferner erschien als regelmäßiger Gast ein Herr von Dören mit seiner Gattin. Beide Familien wohnten zu entfernt, um nach etwaigen Festlichkeiten, wie die Gutsnachbarn pflegten, abends wieder heimfahren zu können.
Fanny erwies ihren Bekannten dann Gastfreundschaft im größten Stil. Bei aller Freiheit, welche die Hausordnung jedem einzelnen ließ, gestaltete sich das Zusammenleben bei ihr doch unwillkürlich etwas anders als zum Beispiel beim Grafen Taiß, wo man sich im November versammelte. Da ein Hausherr fehlte, nahm man erhöhte Rücksichten auf die Hausfrau[163] und die Damen überhaupt. Anstatt ausgedehnter Billardpartien, langer Sitzungen im Rauchzimmer und dergleichen gab es für die Herren mehr Unterhaltung mit den Damen zusammen. Zwar gingen sie zuweilen früh morgens unter Joachims Führung auf die Jagd – Lanzenau mußte sich oft davon fern halten, weil ein feuchter Morgen ihm unfehlbar einen leisen Ischiasanfall brachte, doch war dies sein Geheimnis, und er gab vor, kein Vergnügen mehr an der Jagd zu finden – allein der übrige Tag sah sie mit den Damen bei Spazierfahrten, beim Lawntennies, am Schießstand, auf Kahnpartien. Zum Diner, das in dieser Zeit um sechs Uhr stattfand, machten die Damen besondere Toilette, wobei ein gewisser wetteifernder Luxus nicht fern blieb. Abends setzte sich zuweilen jemand an den Flügel, zum Tanz aufzuspielen, oder es gab ein Dilettantenkonzert, dessen Kosten Lanzenau, Joachim und die Schwester der Gräfin Taiß, das Fräulein von Grävenitz, trugen.
In diesen rauschenden Tagen erwachte Adrienne zu neuem Leben; das war eine Art zu sein, wie sie es geträumt hatte. Alles, was Sorge, Entbehrung, Unfreundlichkeit, Langeweile hieß, schien nicht zu existiren, man hatte keine Zeit, über seelische Zustände zu grübeln, hier war nicht von Pflichten, von Selbsterziehung, von Beschränkung die Rede, all die verschiedenen Charaktere lebten in heiterster Harmonie neben und mit einander, niemand schien irgend einen[164] lieben Eigenwillen zu opfern, und doch hatte jeder neben dem andern Platz.
Seltsam, und sie und Arnold hatten nicht einmal in ihrer Einsamkeit zusammen Platz gehabt, das mußte unleugbar an Arnold gelegen haben, denn da sie hier gegen niemand anstieß, ja, im Gegenteil sich dem Kreis einfügte, als habe sie immer in demselben gelebt, so war damit erwiesen, daß ihm alle Schuld an ihrem kalten Verhältnis zuzuschreiben sei. Adrienne äußerte das einmal gegen Fanny, als diese ihre Freude aussprach, die Schwägerin so aufblühen zu sehen.
»Aber, mein Kind,« sagte Fanny ernst, »die Gemeinsamkeit in einem Vergnügen ist doch ein ander Ding als die Gemeinsamkeit in einer Ehe. Die Anforderungen für die erste sind die leichtesten, die an Menschen gestellt werden können, man braucht sich bloß von seiner vorteilhaftesten Seite zu zeigen, was jeder schon aus Eitelkeit thut. Die Anforderungen für die zweite sind die schwersten, die an uns ergehen können, da sollen wir just die unvorteilhafte Seite des andern mit Demut und Liebe ertragen, was natürlich nur nöglich ist, wenn wir uns vorstellen, daß der andere ja ebenso auch unsere Unerträglichkeiten geduldig trägt. Zum Glück ist in rechten Ehen diese Erkenntnis dann die Meisterin, sie bröckelt hier und dort Schroffen ab, bis beide Charaktere glatt zusammenpassen.«
Adrienne bereute sogleich, von Fanny eine solche Belehrung herausgefordert zu haben.[165]
Sie besaß jetzt in Fräulein von Grävenitz eine bessere und verständnisvollere Freundin. Das Fräulein, noch jung genug, um von der Zukunft irgend etwas Besonderes zu erwarten, und doch zu alt, um sich zu Severina oder gar zu der lustigen kleinen Frau von Dören zu gesellen, hatte alsbald in Adrienne die geeignete Zuhörerin für ihre Erinnerungen und Phantasien erkannt, die sie laut vorzutragen liebte. Sie war in jungen Jahren verlobt gewesen, der Bräutigam wurde indes vom Grafen Taiß auf Wegen betroffen, die eine Verbindung mit Lucy von Grävenitz unmöglich machten. Lucy wollte selbst den Beweisen nicht glauben, daß ihr angebeteter Arthur nur mit ihrem Vermögen den Aufwand zu bestreiten dachte, den eine berüchtigte Tänzerin in der Residenz trieb. Mit einer Zähigkeit, die bis zur Unwürdigkeit ging, hielt sie an ihm fest. Glücklicher- oder unglücklicherweise fallirte damals der Bankier der alten Frau von Grävenitz und brachte sie um den größten Teil ihres Vermögens. Augenblicklich löste Arthur seine gegen den Willen der Familie noch heimlich unterhaltenen Beziehungen zu Lucy.
Diese, obschon anfangs wahrhaft trostlos, suchte später in der Literatur Trost; das gebrochene Herz blieb ihre Spezialität, sie schrieb Romane, in welchen viel von der Knechtung der Frau, der Notwendigkeit ihrer Befreiung und der Gleichberechtigung der Geschlechter die Rede war; jeder Held sah übrigens aus wie ihr bleicher Arthur mit dem schwarzen Vollbart;[166] ihre Romane hatten zur Verzweiflung des Grafen Taiß, dank einer gewissen Ueberschwenglichkeit, Schönfärberei, lebendigen Phantasie und versteckten Sinnlichkeit, viel Erfolg.
Das Fräulein von Grävenitz also, die sich, nebenbei gesagt, auch zu Taiß' Verzweiflung nicht der Mode gemäß, sondern »individuell« kleidete, das heißt in rot- oder gelbseidenen Blusen und mit einer Goldspange im schwarzen Lockenhaar einherging, während ihren Unterkörper ein weißer oder schwarzer, faltiger Seidenrock umwallte – das Fräulein hatte sich an Adrienne geschlossen, ihr ihre Märtyrergeschichte der Vergangenheit und Gegenwart erzählt und Adrienne auf den Kopf zugesagt, daß sie mit einem Manne nicht glücklich sein könne, der die Barbarei habe, sein junges Weib zu verlassen. Die Zwangspflichten, die für einen tüchtigen Mann aus seinem Beruf entstammen können, erkannte das Fräulein nicht an, über so gemeine Fragen wie Broterwerb und die Nötigung, deshalb einen Beruf zu haben, dachte sie nicht nach; natürlich gab ihr Adrienne zu, daß ihrem Leben allerdings die rechte Wärme fehle, aber ein volles Geständnis ging ihr doch nicht über die Lippen.
Alle anwesenden Männer fand Lucy gräßlich, mit der einzigen Ausnahme von Magnus.
»Es sind alle Barbaren! Dieser alte Geck von Lanzenau mit seinem steifbeinigen Gang – ah, wie schritt mein Arthur stolz dahin! Dieser Herr von[167] Dören – sieht er nicht mit seiner geraden, abgestumpften Nase, seinen Schlitzaugen und seinem auseinander gesträubten Schnurrbart aus wie ein Kater? Ach, Sie hätten Arthurs wundervollen Bart sehen sollen! Und dann Ihr Schwager! Pardon – aber diese blonden Jünglinge mit dem plebejischen Vergnügen am Dasein sind mir entsetzlich, wenn ich an die interessante Schwermut meines Arthurs denke! Haben Sie meinen Roman ›Erfrorene Herzen‹ gelesen? Darin habe ich ihm ein Denkmal gesetzt. Von Taiß spreche ich nicht erst, dieser Tyrann meiner Tage wäre meines Hasses würdig, wenn meine arme Schwester sich nicht einbildete, von ihm glücklich gemacht zu werden. Lassen wir ihr die Illusion, sie kennt nichts Besseres! Aber dieser junge Doktor Hesselbarth – ach, Adrienne, er hat so einen gewissen Augenaufblitz hinter seinem Lorgnon. Adrienne, er gilt Ihnen, dieser Aufblitz – Sie sind Magnus nicht gleichgiltig. Arme Freundin, dieser Mann wäre Ihrer würdig, er verstände Sie! Erwidern Sie sein Gefühl? O – Sie können mir vertrauen, ganz vertrauen, ich will Sie und ihn schützen gegen eine Welt von Philistern!«
»Aber wohin denken Sie,« stotterte Adrienne bestürzt, »ich bin verheiratet und – und – und liebe meinen Mann.«
Lucy schloß die Freundin in die Arme, in stummer Rührung über den Heldenmut des Herzens, das zu stolz war, Leiden zu gestehen.[168]
Magnus hatte seinerseits das ihm von Lucy geschenkte Wohlwollen bald herausgefühlt und halb belustigt, halb, um diesen Typ eines Blaustrumpfs zu studiren, fand er sich immer in ihrer Nähe ein, wo natürlich auch Adrienne meist weilte.
Die kleine Frau von Dören spottete darüber und nannte sie »die drei Gebildeten«. Fanny sah indes diese Intimität mit heimlichem Unbehagen, ihr ein Ziel zu setzen, daran war nicht zu denken; die einzige Hoffnung blieb, daß der skeptische und vernünftige Magnus allezeit das Gegengewicht zu den überspannten Lebensanschauungen des Fräuleins hergeben werde.
Fanny war in dieser Zeit sehr glücklich.
»Ich weiß nicht,« sagte sie einmal zu Lanzenau, »wie das so kommen mag – seit vielen Jahren habe ich immer im September diese oder andere lieben Gäste gehabt, aber es hat mich nie so gefreut wie diesmal. Wie schön ist doch das Leben, wenn man es mit guten Menschen teilen darf!«
Lanzenau blickte ihr beunruhigt in die strahlenden Augen, das verhängnisvolle Fragewort: »Ist auch einer unter uns, von dem der neue Sonnenschein ausgeht?« kam ihm zum Glück nicht von den Lippen, er bezwang sich.
»Ja, es ist schön, liebe Fanny, und es ist am allerschönsten, daß Ihr Glücksgefühl der innern Zufriedenheit ihrer Seele und der äußern Klarheit Ihres Lebens entspringt; möge das so bleiben, und möge ich allezeit meinen alten Platz an Ihrer Seite behalten!«[169]
»O gewiß, mein Freund, Sie sind mir der Nächste meinem Herzen. Sie wissen es ... bitte, bitte, Achim – ein Wort ...«
Joachim ging unfern mit Dören vorüber, er lief auf Fanny, Fanny auf ihn zu.
»Nur ein Wort ... sind die Schießstände in Ordnung?«
Dören, Joachim und sie besprachen die Einzelheiten des für den Nachmittag geplanten Wettschießens. Lanzenau stand vergessen von fern.
Lanzenau schloß die Augen, er war blaß geworden, langsam ging er tiefer in den Park hinein, seine Füße trugen ihn nicht weit, er stand an einer Buche still, legte die Handflächen gegen den Stamm und die Stirn gegen die Hände.
»Unmöglich,« dachte er, »unmöglich! Es kann nicht, es soll nicht sein! Vielleicht wird sie nicht erkennen, was jetzt in ihr keimt, es verdorrt im Beginn, gewiß, ganz gewiß, denn er ist ein unbefangener Jüngling, er wagte es nicht einmal, davon zu träumen, das sieht man wohl. Sie muß blind bleiben, sie muß!«
Er stöhnte schwer.
Nein, das nicht, nur das nicht! Sein Lebenlang neben Fanny hergehen, ohne sie zu besitzen – ja, aber sie einem andern überlassen – nie! Sechzehn Jahre in Treue einem Weibe gehören und dies Weib dann einem hübschen jungen Menschen geben müssen? – Lieber diesen niederschießen wie ein Stück Wild.[170]
Aber wie – wenn der sie wieder liebte, wenn ein Tag käme, wo er ihre Neigung merkte und dann – schon aus Vorteilsgründen – sich erklärte? Aber nein, einer Berechnung war Joachim nicht fähig. Doch welcher junge Mann würde kalt und unempfindlich bleiben, wenn eine Fanny ihn liebte?
Lanzenau dachte an seine Jugend zurück, er lächelte schmerzlich. Joachim müßte kein Mensch von Fleisch und Blut, er müßte eine Puppe von Zeug und Hobelspänen sein, wenn er kalt bleiben sollte bei der Liebe einer schönen Frau.
Und gab all seine Treue ihm denn ein Recht, von Fanny etwas zu fordern? Seine Hand hatte sie mehrfach ausgeschlagen; durfte er erwarten, daß sie seinetwegen ihr Leben als Nonne beendigen würde?
»Sie muß blind bleiben,« dachte er, mit Gewalt sich zu vernünftiger Fassung zwingend, »aber ich muß hell sehen!«
An diesem Tage erschienen Gäste aus der Nachbarschaft zu dem Wettschießen, das Fanny anberaumt hatte. Die Schießstände lagen neben der Parkgrenze am Ufer der Elbe, man wanderte gemeinsam durch den Park dahin; es war bald nach dem zweiten Frühstück und die Damen noch alle in ihren Morgenkleidern.
»Du bist reizend,« flüsterte Joachim Severina zu, die er jetzt zu ihrer beider Qual immer nur in Gegenwart aller sehen konnte, höchstens gestattete ihnen abends der Tanz oder eine Promenade im Park einmal[171] die Gelegenheit zu einem innigen Händedruck, der der einzige Dolmetscher ihrer Sehnsucht bleiben mußte.
»Still!« entgegnete Severina ebenso; »was wagst Du?«
Herr von Dören ging an ihrer andern Seite, plauderte aber lebhaft mit der Gräfin Taiß, die er führte und bei der er seit Jahren eine neckische Courmacherei anzubringen suchte, die sie mit Humor und Grazie ermunterte, um sie immer wieder zurückschlagen zu können. Joachim war deshalb unbesorgt.
»Ich vergehe,« flüsterte er weiter; »kann ich Dich denn nie einmal in Muße sehen?«
Severinas Kniee bebten. Wenn jemand ihr Geflüster bemerkte!
»Bitte?« fuhr er fort.
Ach, wie leidenschaftlich, wie unsäglich gern hätte auch sie ihm einmal wieder voll und heiß ins Auge geschaut.
»Wann soll – wann kann ich?«
»Heut abend, wenn im Pastorenhause alles schläft.«
»Nein, mein Zimmer liegt neben dem der Mutter, sie wacht bei jedem Laut.«
»Heut nach Tisch – im dunklen Park – an der Stelle, wo ich Dich zuerst gesehen. Schleiche Dich weg, es sind so viele Menschen da, man vermißt uns nicht.«
Severina nickte stumm, ein schneller Blick fuhr wie ein sengender Blitz zwischen ihnen hin und her.[172]
Das Gespräch ward dann unter den vier Zusammenwandernden durch eine Frage Dörens ein allgemeines. Sie kamen zuletzt am Schießstand an.
»Natürlich,« sagte Frau von Dören lachend, »mein Mann war zu sehr mit den schönen Augen der Gräfin beschäftigt. Lieber Taiß, ich glaube, wir raffen uns doch noch zur Eifersucht auf.«
»Laßt das nur,« sprach Dören, sein Weibchen um die Taille fassend, »die Niederlagen bei der gnädigsten Gräfin sind mir als Gegengewicht Deiner zu großen Liebe sehr gesund, Du siehst, ich thue selbst das Möglichste, um mich vor Eitelkeit zu bewahren.«
»Auch eine Form der Selbsterziehung,« meinte Taiß heiter.
»An die Gewehre, meine Herrschaften, an die Gewehre!« mahnte Lanzenau.
Die Schießstände, es waren ihrer zwei, zeigten sich dem Bedürfnis der lustigen Gesellschaft angepaßt, an dem einen boten sich den Damen Ziele dar, wie man sie in Schießbuden auf Jahrmärkten sieht, an dem andern konnten die Herren ihre Zielsicherheit an einer Scheibe bewähren. Fanny hatte zwei Preise gestiftet, für die schußfertigste Dame lag ein kostbares Jagdgewehr, für den besten Schützen ein sehr wertvoller Spitzenfächer bereit.
»Man sieht,« sagte Fanny, »mich hat die ruchlose Absicht geleitet, die Sieger in peinlichste Verlegenheit zu bringen, denn sie sollen ihren Preis einer Dame[173] respektive einem Herrn der Gesellschaft hier an Ort und Stelle verehren.«
»Paris' Verlegenheit war ein kleiner Embarras gegen die Wahlschwierigkeit des Fächergewinners,« sagte Herr von Dören; »zum Glück bin ich ein schlechter Schütze und komme somit gar nicht in Gefahr, mir durch eine Huldigung viele Feindinnen zu machen.«
»Und was mich anbetrifft,« rief Frau von Dören, »erkläre ich mich bei dem Fächer hors de concurrence, hoffe hingegen, über das Jagdgewehr verfügen zu dürfen!«
Auf dem Platz unter den alten Baumriesen, die zum Park gehörten, waren Stühle, Tische und ein kleines Buffet errichtet. Adrienne und Fräulein von Grävenitz setzten sich zusammen; die erstere hatte nicht allzu viel Interesse an dem Sport, die letztere fand Schießen eine kavaliermäßige Kunst, aber für Damen dünkte es sie selbst im Scherz abscheulich; jedesmal, wenn die Reihe, deren Folge man ausgelost hatte, an sie kam, drückte sie zitternd, erst nach langem Zureden und mit einem Schrei die harmlos geladene Flinte ab, natürlich mit geschlossenen Augen ins Blinde hinein.
Fanny und die Gräfin Taiß hatten keine ruhige Hand, Adrienne war überhaupt kurzsichtig. So stritten Severina und Frau von Dören um den Sieg. Die Herren sahen eifrigst interessirt zu, man lachte und wettete sogar.
Triumphirend behielt die kleine Frau den Sieg, den sie sich prophezeit.[174]
»Das Gewehr – das Gewehr!«
»Erst sollen die Herren auch so weit sein,« bestimmte Fanny.
Es waren unter den Gästen aus der Nachbarschaft einige bekannte Schützen. Das Spiel, welches bisher nur Amusement gewesen, nahm sofort den Charakter eines leidenschaftlichen Sports an. Magnus und Herr von Dören traten alsbald freiwillig aus der Reihe. Mit Spannung, ja, mit einem fieberhaften Eifer wurden die Schüsse erwartet, beobachtet, notirt.
Und Joachim traf mit spielender Leichtigkeit, ohne langes Wägen, jedesmal den Kernpunkt.
Es war am Ende nicht etwas so Erstaunliches, in einer Kunst, die hauptsächlich Uebung, sichere Hand und scharfes Auge erfordert, zu glänzen, zumal für einen Mann von Joachims Erziehung und Beschäftigung; aber Fanny war sehr stolz auf seine Fertigkeit und konnte sich nicht genug thun, sie zu bewundern. Gewandtheit in solchen Künsten ist dem Mann in den Augen jeder Frau vorteilhaft.
Joachim sagte zuletzt, als die ganze Gesellschaft sich schon bewundernd um ihn und einen der heutigen Nachmittagsgäste drängte, während die anderen Herren sich für besiegt erklärten, daß man so nie zur Entscheidung kommen werde und ob sie nicht ein anderes Ziel nehmen wollten.
Taiß schlug vor, eine Visitenkarte auf einen hohen Stecken zu befestigen und diesen im Felde weit hinter[175] der Scheibe aufzupflanzen. Als man noch, aufgeregt wie über eine wichtige Sache, darüber debattirte, flog eine Krähe aus den Gipfeln der Parkbäume in hohem Fluge schräg über den Fluß.
»Aufgepaßt!« sagte Joachim, zielte – alles hielt den Atem an – und drückte ab.
Schwer schoß das Tier durch die Luft herab in den breiten Strom.
»Ich ergebe mich,« sprach Joachims Konkurrent, »das wäre ich nicht im stande.«
»Es ist nicht viel dabei,« meinte Joachim.
»Das hab' ich mir gedacht,« sagte Fanny triumphirend; »Sie sind allen überlegen.«
Lanzenau, der das hörte, lächelte bitter.
»Aber nun die Preise!« rief Frau von Dören. Sie erhielt das Gewehr und sprach zu ihrem Gatten: »Du meinst natürlich, meine Schwäche für Dich gehe so weit, daß ich Dir und keinem andern dies Geschenk mache, aber die Stunde ist gekommen, mich zu rächen; Graf Taiß, empfangen Sie dies als Zeichen meiner besondern Gunst.«
»Meine Gnädigste, ich werde mich bestreben, sie zu verdienen, und nehme dies pränumerando als Lohn,« sagte der Graf mit einer übertrieben tiefen Verneigung.
Während dieses kleinen Vorgangs konnte Joachim sich entscheiden, welcher Dame er den Fächer geben wolle, den Adrienne gerade in der Hand hielt und verlangend besah, aber seiner Schwägerin konnte er[176] doch unmöglich das Geschenk überreichen; es hätte sich wohl geschickt, ihn Fanny, seiner gütigen Herrin, als Huldigung zu Füßen zu legen, aber er fand, daß es im Grund ein Unsinn wäre, Fanny den Fächer zurückzugeben, den sie selbst angeschafft, obenein, da sie, wie er zufällig wußte, einen reichhaltigen Vorrat von Fächern in allen Formen und Stoffen besaß, und in Severinas Seele brannte das Verlangen, von seiner Hand vor allen Anwesenden ausgezeichnet zu werden, das wußte er, obschon er sie mit keinem Blick ansah.
Man bemerkte die Zweifel auf seinem Gesicht und lachte ihn aus.
Darauf trat er an Fanny heran und fragte leise:
»Fände unsere gnädige Königin es nicht am taktvollsten, wenn ich den Fächer der einzigen Dame im Kreise schenke, die nicht im stande ist, sich einen solchen zu kaufen?«
»Das ist ein hübscher Gedanke,« sagte Fanny, von seinem Zartgefühl entzückt, »sie wird ebenso überrascht als beglückt sein.«
Und Joachim überreichte der erglühenden Severina den Fächer mit einer so förmlichen Verbeugung, als sei sie ihm wildfremd. Das wäre nun niemand aufgefallen und jeder hätte die Förmlichkeit für die komisch-feierliche Betonung des Vorgangs genommen, wenn nicht Lanzenau allein, seit einiger Zeit Joachim gegenüber immer auf dem Beobachterposten, das fremd-höfliche Gesicht des jungen Mannes um so sonderbarer gefunden hätte, je[177] mehr ihm vorher ein rascher Blick aufgefallen war, mit dem Joachim und Severina sich begegneten.
Er beschloß, fortan auch das Mädchen im Auge zu behalten, eine unbestimmte, freudige Hoffnung beschlich ihn. Wenn diese beiden im Begriff wären, sich zu finden oder wohl gar schon sich gefunden hätten ... dann zog die Gefahr an ihm vorüber und über Fannys Haupt dahin wie eine Wetterwolke, die mit fernem Blitzgeleuchte droht, aber ihre Flammen nicht über uns entladet.
Der Zufall war ihm günstig. Noch am selben Abend, als die Gesellschaft sich im Saal, auf der Terrasse und im Spielzimmer zwanglos verteilt hatte und Lanzenau suchend von einem Raum in den andern ging, sagte man ihm im Saal, Fräulein Severina sei auf der Terrasse, und auf der Terrasse, sie sei im Saal. Nach Joachim, der auch fehlte, fragte er nicht, er ging ohne weiteres in den Park.
Es war stockdunkel, der Mond sollte erst später aufgehen, Lanzenau verirrte sich mit seinen sorgsam vorwärts tastenden Füßen mehrmals auf einen Rasensaum oder ein Blumenbeet, einmal geriet er auch in einen großen, wilden Rosenbusch, die stacheligen Zweige, die wider seine Brust schlugen, verwickelten sich in die Schnur seines Monocles. Ingrimmig versuchte er loszukommen, er riß und riß und hatte nur den Erfolg, daß die Schnur entzwei ging und am Busche mitsamt dem Augenglas hängen blieb.[178]
Plötzlich hörte er in unmittelbarer Nähe Stimmen. Er erinnerte sich, daß das Gebüsch von wilden Rosen dicht bei der großen Tanne mit der Rundbank sich befand; aber die, denen die Stimmen gehörten, mußten eben erst von der andern Seite ankommen, sonst hätten sie das Geräusch in den Zweigen gehört, das seine greifenden Hände gemacht.
Worte konnte Lanzenau nicht verstehen, Gestalten nicht einmal in den Umrissen erkennen, nur das ward ihm alsbald aus den Lauten, die sein Ohr vernahm, sehr deutlich, daß ein Liebespaar dort saß. Aber wer sagte ihm, daß es nicht jemand aus dem Dorf oder jemand von den Dienstboten sei? Er zog sich zurück und näherte sich auf dem direkten Weg dem Hause. Hier, wo das Licht den Platz unter den Linden matt erhellte, lehnte er sich an einen Stamm und rauchte geduldig eine Cigarrette. Wenn die, welche sich dort küßten, ins Haus gehörten, mußten sie den Lichtkreis durchschreiten oder doch an seiner Grenze hinhuschen. Und richtig – da floh ein weibliches Wesen in weißem Kleid vorbei und um das Haus herum, wahrscheinlich, um vorn einzutreten. Severina allein trug heute weiß; und da kam auch Joachim, ganz gemächlich, eine Cigarrette im Munde, schritt er mitten durch den hellsten Lichtschein gerade auf die Terrasse zu.
Lanzenau atmete tief auf, ein Alp fiel von seiner Brust. Daß die jungen Leutchen ihre Liebe noch geheim hielten, war ja bei Joachims Vermögenslage[179] ganz natürlich, und daß Fanny von dieser Liebe ganz allmälich Kenntnis bekam, so vorsichtig, daß ihre Gedanken sich daran gewöhnten, ehe ihre Seele voll für Joachim aufflammte, das sollte seine, Lanzenaus, Sorge sein, auch nahm er sich vor, all seine Verbindungen bis zur äußersten auszunützen, um für Joachim eine Administratorenstellung zu suchen, die diesen in den Stand setzte, Severina zu heiraten. Vielleicht fand Fannys sichtliche Schwäche für Joachim voll Befriedigung und Freude, wenn sie mütterlich für ihn und seine Braut sorgen durfte. Bei Fanny war kein Ding unmöglich, wenn ihre Gefühle für Joachim vielleicht nur jenes Gemisch von Mütterlichkeit und weiblicher Zärtlichkeit waren, dessen Grundton wunschlose Resignation ist, dann wollte Lanzenau ihr beistehen, dies Gefühl ganz zu sättigen, und ihr helfen, ihn sehr glücklich zu machen.
Mit freudigem Herzen kehrte er in die Gesellschaft zurück.
Alsbald, da er dort seine Meinung über eine neue Photographie der Gräfin Taiß abgeben sollte, vermißte er sein Monocle. Jedermann half suchen, bis Lanzenau sagte, es sei unnütz, er habe es im Freien verloren.
Am andern Morgen entdeckte Severina es am Rosenbusch, ein unnennbarer Schreck überwältigte sie einen Augenblick, gegen Mittag fand sie Gelegenheit, Joachim davon zu sagen, auch diesem war der Gedanke nicht sehr rosig, daß Lanzenau sie belauscht haben könne.[180]
»Wenn er es Fanny sagt,« meinte Severina zitternd.
»O, Fanny – das macht nichts, die hält viel von mir, das merke ich wohl, sie geht reizend mit mir um – wenn sie mich so ›Achim‹ nennt, denke ich immer, meine Mutter könnte es nicht gütiger gesagt haben,« sprach Joachim mit nachdenklichem Gesicht; »aber es ist mir um Dich – wegen des Gezeters, das die Pastorin dann ohne Zweifel anfängt, und es ist wegen Arnold, dem Adrienne es schriebe, er hat schon so viel Opfer und Sorgen für mich gehabt im Leben und ich bin ihm deshalb Gehorsam schuldig, er aber hat mir oft aus Herz gelegt, mich nie zu binden, ehe ich nicht eine Frau ernähren kann, damit stürzte ich nur zwei Familien in Sorgen und trübte meine und eines Mädchens Jugendfreude.«
»Du bist nicht gebunden,« rief sie heftig, »ich will Dir und niemand eine Last sein, habe mich nur eine Weile lieb, nachher sei frei – geh und laß mich sterben!«
»Aber, Närrchen,« flüsterte er, neu von ihrer Leidenschaftlichkeit entzückt, »wer spricht von solchen Dingen! Uebrigens ist es ja noch gar nicht ausgemacht, daß Lanzenau gerade am Rosenbusch stand, wie wir unter der Tanne saßen. Gib mir das Augenglas, wenn ich es ihm überreiche, soll die Situation zwischen ihm und mir wenigstens klar werden.«
»Herr Baron,« sagte Joachim, als man bei einander stand, des Dieners Meldung, daß servirt sei,[181] erwartend, »Sie haben Ihr Glas gestern abend am Rosenbusch verloren, hier ist es.«
Dabei sah er ihn herausfordernd an. Lanzenau zwinkerte mit den Augen sehr lustig und sehr wohlwollend.
»Hat Severina suchen helfen?« fragte er, und klopfte Joachim auf die Schulter.
»Wenn sie es gethan hätte,« sagte Joachim halblaut, mit einem herzlichen Bittton in der Stimme, »dann würden Sie gewiß nicht die Indiskretion haben, es irgend jemand zu erzählen.«
»Gewiß nicht, gewiß nicht, mein Lieber, ausgenommen, es wäre zu eurem Glück. Junge Leute in eurer Lebenslage können oft einen deus ex machina brauchen.«
»Wenn Sie den Beruf in sich fühlen, diesen für uns zu spielen,« erwiderte Joachim heiter, »werde ich der letzte sein, es Ihnen zu verbieten; aber selbst in diesem Falle muß ich ernstlich bitten, immer nur mir die Mitteilung einer Thatsache zu überlassen, die mein Bruder durchaus von mir und durchaus an einem geeigneten Zeitpunkt erfahren muß, soll sie ihn nicht verstimmen.«
Was blieb Lanzenau übrig, als sein Wort zu geben; aber diese Fessel ließ ihm immer noch die Freiheit, dem jungen Paar der fördernde Schutzgeist zu sein und auch Fanny unauffällig und indirekt zur Erkenntnis zu leiten.[182]
Ausgewählte Ausgaben von
Fanny Förster
|
Buchempfehlung
Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.
54 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro