[Es stehet im Abendglanze]

[157] Es stehet im Abendglanze

Ein freies heiliges Haus

Da sehen mit schimmernden Augen

Viel Knaben und Jungfraun heraus,

Dort hab' ich mein Liebchen gesehen

Ein freundliches zierliches Kind,

Sie konnte wohl schweben und drehen,

Wie fallende Blüten im Wind.


Und die in dem Hause wohnen

Sind heilig und wissen es nicht

Sie leben mit Kränzen und Kronen

Alltäglich ein neues Gedicht

Sie sind gleich den Göttern und handlen,

Wohl täglich in andrer Gestalt,[157]

Mein Liebchen wird auch sich verwandlen

Das tut meinem Herzen Gewalt.


O Liebchen, wo bist du geblieben,

Ich steh' vor dem schimmernden Haus,

Und will dich bescheiden nur lieben

O Liebchen o sehe heraus

Ich will dein pflegen und warten,

Im Herzen so treu, als ich kann,

Da seh' ich dich sitzen im Garten

Wohl bei einem reichen Mann.


So kauf' ich mir Rechen und Spaten

Bind' mir ein grün Schürzelein vor

Und gehe wohl als ein Gärtner

An des reichen Mannes Tor

Tu auf, tu auf den Garten,

Ich will dir wohl ohne Sold

Die Blumen all pflegen und warten

Sie sind ja mein Silber und Gold.


So sei mir o Gärtner willkommen

Zieh hoch die Blumen mir,

Zieh lang sie zu blühenden Ketten

Ich habe ein Vögelchen hier,

Zieh hoch und dicht eine Laube

Zieh mir ein Gitterhaus

Daß keiner mein Vögelchen raube,

Und es nicht fliege aus,


Da klingt wohl sanft und süße

Im Garten ein heilig Lied

Die Bäume senden Grüße,

Die Blume lauschend blüht,

Da seh' ich mein Liebchen so weinen,

So blicken zu mir herauf,

Die Sonne will nicht mehr scheinen,

Die Blumen sie gehen nicht auf.[158]


So hast du dann verlassen

Der Götter freies Haus

Der Locken Gold muß blassen,

Der Augen Licht geht aus

O Liebchen o sei nicht so munter,

Du hast vergeudet dein Los,

Dein Sternlein, es gieng ja unter

Tief in des Meeres Schoß.


Ans Meer will ich mich stellen

Betrübt im Abendschein,

Und sehn, wie in die Wellen

Versinkt dein Sternelein,

Und niedersehn und weinen,

Die Tränen all hinab,

Sie wollen sich ja vereinen

Mit deines Sternes Grab.


Dies Lied hab' ich ersonnen

Wohl vor dem Zauberhaus,

Das glänzt in der Abendsonnen,

Du blickst nicht mehr heraus

Als Jugend um Liebe mußt brennen

In irrem Liebeswahn,

Da konnte sie ihn nicht erkennen,

Und blickte so hell ihn doch an.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 157-159.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Suttner, Bertha von

Memoiren

Memoiren

»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.

530 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon