[Es war einmal die Liebe]

[416] Es war einmal die Liebe,

Die himmelklare Liebe,

Sie war in edlem Zorn

Und sprach zum blinden Triebe,

Verzeih, heut kriegst du Hiebe

Ganz ernst mit einem Dorn.


Der Trieb hört dies betroffen,

Doch kaum hat ihn getroffen

Der Liebe Dornenstreich,

Da war die Knospe offen,[416]

Der Dorn ganz ohn' Verhoffen

Schlug aus voll Rosen gleich.


Es war einmal die Liebe

Die himmelklare Liebe

Sie war vom Trieb betrübt,

Sprach drum zum blinden Triebe

An dir dem Friedensdiebe,

Wird Rache heut geübt.


Doch als sie sich wollt' rächen

Da stürzt in Tränenbächen

Das Herz ihr aus der Brust,

Sie kann den Stab nicht brechen

Die Lieb' wird aller Schwächen

Des Triebes sich bewußt.


Es war einmal die Liebe,

Die himmelklare Liebe,

Sie war vom Trieb gekränkt,

Und sprach zum blinden Triebe,

Wenn dir kein Trost auch bliebe,

Heut wird dir's nicht geschenkt.


Und um ihm's zu gedenken

Tut sie ein Füllhorn senken,

Voll von Gerechtigkeit,

Und hat des Triebes Ränken

Den Richtplatz mit Geschenken

Der Gnade überstreut.


Ei sag einmal du Liebe,

Du himmelklare Liebe

Wer hat dich das gelehrt,

Daß man dem blinden Triebe

Für scharfe Dornenhiebe

Nur Rosenglut beschert.[417]


Und daß man für die Rute

Dem blinden Übermute

Nur süßen Zucker giebt

Das lehrte mich der Gute

Der mich mit seinem Blute

Ob meiner Schuld geliebt.


Da sang einmal der Liebe

Der klaren Himmelsliebe

Der Trieb dies Liebeslied,

Daß sich dem blinden Triebe

Ein Licht ins Aug' er schriebe,

Daß er im Auge sieht.


Und als sie es gehöret,

Da fühlt sie sich erhöret,

Und sprach in Demut fromm

Wer hat mich dir gelehret

Wer hat dich mir bescheret,

Trieb sei der Lieb willkomm.


Da faßt einmal die Liebe

Die himmelklare Liebe

Sich einen frischen Mut,

Und war dem blinden Triebe

Daß er nicht irrend bliebe

Ein Blindenführer gut.


Da lernt der Trieb das Lieben,

Da ward die Lieb' getrieben

Bis sehend er, sie blind,

Und beide sind's geblieben,

Und ich hab dir's geschrieben,

Merk auf, und bleib ein Kind.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 416-418.
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