Der Abend

[101] Nach seiner Heimat kühlen Lorbeerhainen

Schwebt auf der goldnen Schale

Schon Helios, es glühen rings die Wellen,

Der Ozean erschwillt in frohen Scheinen,

Die wie mit Blitzesstrahle

Die ernste Nacht der fernen Ufer hellen,

Und über alle Schwellen

Ergießt der Gott die stillen Feuerwogen

Zum ew'gen Himmelsbogen,

Daß von den Bergen durch das dunkle Leben

Des Tages Flammen widerhallend beben.


Hoch auf den Bergen wehen seine Flammen,

Den raschen Mann zu führen,

Der seiner Reise Ziel noch nicht errungen,

Er strahlet mit dem Glanze stets zusammen,

Wenn gleich die Füße gleiten,

Bleibt von dem Lichte doch sein Haupt umschlungen.

Nie von der Nacht bezwungen

Lenkt ruhig nach der Sterne heil'gem Feuer,

Das ernste Schiff den Steuer

Und wandelt heimwärts durch die dunkeln Fluten

Vertrauend auf des Leuchtturms hohe Gluten.[101]


Vom kühnen Felsen rinnen Lichter nieder,

Die Täler zu ergründen,

Und wo des Feuers milde Quelle ziehet,

Verglimmen bald des Haines wilde Lieder,

Denn alle Töne schwinden,

Bis sie des Abends Flammen rein geglühet –

Und welch ein Lied erblühet –

Es flicht die Nachtigall die goldnen Schlingen

Und süß gefangen ringen

Im Liede Liebesschmerz und Schmerzesliebe,

Daß Schmerz in Liebe, Lieb' in Schmerz sich übe1.


So drang der Töne Frühling aus dem Schweigen,

So auch in reinen Seelen

Des Tages wilde Kämpfe bald zerrinnen,

Wenn Lieb' und Schmerz sich hold zusammen neigen,

Die Zwietracht zu verhehlen,

Und rührend doch den ew'gen Streit beginnen.

Ach keine mag gewinnen! –

Ein Wundergift fließt beiden von den Pfeilen,

Zu töten und zu heilen –

Denn er muß stets an ihrem Pfeil gesunden,

Und sterbend lebt sie nur in seinen Wunden.


Doch bald wird nun die Ruhe niederschweben,

Daß alle Schmerzen fliehen,

Den heißen Kampf die stillen Schatten kühlen,

Dann mag der Sehnsucht ungelöstes Leben

In heil'gen Phantasien,

In schönen Träumen dichtend sich erwühlen.

Könnt ihr solch Leben fühlen?

So will, mit seinem Rausch euch zu erfüllen,

Mein Bild ich gern enthüllen,

Mein Bild, wie in des Abends Heiligtumen

Die Jungfrau redet mit den holden Blumen.


Fußnoten

1 Ich konnte das schöne Tonspiel des Italiänischen von amare und amaro nicht anders geben.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 101-102.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon