De krank Sœhn

1.

[365] Hier, Moder! Hier is gor keen Tog;

hier achter schint de Sünn

grad as in'n Mai so warming noch,[365]

dat's noch nich lat – du weest dat doch,

wu girn ick buten bün.


Grad hier bi üns' oll Immenschur,

wenn'ck dor so sitt un denk

un't sümmst so dichting vör min Uhr,

dat stimmt so recht to min Natur –

dor stell man hen de Bänk!


De Kirch vörbi un Kirchhoff kann'ck

mi dor so wit ümsehn,

de grote Wisch un Schapdrift lank,

de heel deep Grund noch af un mank

de Hellbarg beid de Seen.


Denn ward mi gor to schön to Mot,

as wir keen Hoor mi krümmt –

ick denk denn gor nich an den Dod,

ick meen denn, all ward wedder got,

noch ihr de Winter kümmt.


Un wenn de Sünn denn deeper stiggt

un geiht to Rüst dor still,

denn ward mi as sonn Vagel licht,

de grad sin irst Swunkfeddern kriggt

un se versöken will.


2.

Sünd dat de Kronen, Moder?

De Kronen, de dor tehn?

Furt is all lang de Adebor –

kik du! Mi is de Kopp so swor,

ick kann se so nich sehn.


Sünd dat de Kronen, Moder?

De Kronen, wat dort schrit?

Mi is, as röp een äben mal[366]

hoch ute Luft vun baben dal –

ick glöw, dat's all ehr Tit.


Sünd dat de Kronen, Moder?

Mi drömt verlägen Nacht,

wenn irst de Kron ehr Order kreg,

wat ok min Feewer af denn tög,

denn würr'ck noch bäter sacht.


Un wenn't de Kron is, Moder!

Böhr mi min'n Kopp to Hög,

ick will, ick möt dat sülm mit sehn,

wenn se dor hoch vörœwer tehn,

ick stürw, wu'ck dat nich seg.


3.

Ach, Moder, Moder, gah nich furt

un lat mi nich alleen!

De gnäterswart oll Spenn de lurt

un rögt ehr langen Been.


Sühst nich? De gnäterswart oll Spenn –

dor löppt s' de Eck to Hög –

de kickt so nürig nah mi hen,

as wir'ck sonn arm lütt Fleeg.


Ach, Moder, Moder! Wenn du geihst,

denn schütt se glik heran

un sett't grad vör min Og mi meist

an't Hart ehr Fadens an.


Un mennigmal un mennigmal,

denn ward – denn is mi so,

as bögt ehr scharpen Tähn se dal

un bet un bet nu to.
[367]

Ach, Moder – Moder, gah nich furt

un lat mi nich alleen!

De gnäterswart oll Spenn de lurt

un rögt ehr langen Been!


Quelle:
John Brinckman: Vagel Grip. Rostock 1976, S. 365-368.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Klingemann, August

Die Nachtwachen des Bonaventura

Die Nachtwachen des Bonaventura

Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon