Die redende Bluhme

[108] Mein Bruder, lieber Mensch, (verwundere dich nicht,

Daß meine Wenigkeit zu dir: mein Bruder! spricht.

Ich habe Recht dazu, du wirst es selbst gestehen,

Wenn du mich angehört, und mich recht angesehen.)

Mein Bruder, sprech' ich denn noch einmahl, sage mir,

Wie kommst du dir so groß, ich so verächtlich, für?

Sind wir, durch eines Schöpfers Macht,

Nicht alle beyd' hervor gebracht?

Ist deine Mutter nicht die Erde, so wie meine?

Werd' ich von ihr nicht auch sowohl, als du, genährt?

Wie dein, ist auch mein, Leib mit Adern gantz durchröhrt,

Und diese sind mit Saft so wohl gefüllt, als deine.

Ich habe zwar nur eins, du aber hast zwey Beine;

Doch überhebe dich des Vorzugs halber nicht,

Weil sonst ein Ochs' zu dir

Mit ja so grossem Rechte spricht:

Wie karg ist gegen dich die gütige Natur,

Armselige zweybeinigte Figur!

Hab' ich nicht ihrer vier?

Sprich ferner nicht: Ich kann mich rühren, lauffen, gehen;

Du arme Bluhme must beständig stille stehen.

Sprich, sag' ich, nicht also: sonst werd' ich Vögel kriegen,

Die sagen: Ist der Mensch nicht plump? er kann nicht fliegen!


Ey, pochst du, gantz vom Eifer roth:

Wie elend, wie veränderlich und flüchtig,

Seyd ihr, wie so vergänglich und wie nichtig![109]

Bist du nicht auch, wie wir, vielleicht schon morgen todt,

Und must du nicht so wohl zur Erden,

Als ich mit meinen Blättern, werden?

Es richten dich annoch mehr Fäll', als uns, zu Grunde.


Wir reden: du bist stumm! ruff'st du mir ferner zu.

Ach höre, lieber Mensch, mit meinem stummen Munde

Lob' ich den Schöpfer mehr, als du.

Ich will nicht einst von meiner Schönheit sagen,

Worin der Vorzug ja unstreitig mir gebührt,

Nicht von dem lieblichen Geruche, der dich rührt;

Denn, wie mich deucht, so hör' ich dich schon fragen,

Und zwar nicht sonder Heftigkeit:

Armseligs Nichts, bey der Vollkommenheit,

So die Natur dich würdigt, dir zu schencken,

Kannst du gedencken?


Die Art, wie ich gedenck', ist anders zwar, als deine,

Das geb' ich zu;

Alleine

Wofern auch du,

Wenn du mich siehst, nicht gleich dein Dencken lenckest

Auf Den, Der uns gemacht,

Und an den Schöpfer nicht gedenckest,

Der uns so wunderbar hervor gebracht,

Der dir dein Wesen so, wie meines mir, gegeben;

So hast du, glaub' es mir, in deinem gantzen Leben

Nicht weniger, als ich, so gut als nichts, gedacht.


Quelle:
Barthold Heinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Stuttgart 1965, S. 108-110.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irdisches Vergnügen in Gott
Irdisches Vergnügen in Gott: Erster und zweiter Teil
Irdisches Vergnügen in Gott: Dritter und Vierter Teil

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon