|
[242] Ratsam ist und bleibt es immer
Für ein junges Frauenzimmer,
Einen Mann sich zu erwählen
Und womöglich zu vermählen.
Erstens: will es so der Brauch.
Zweitens: will mans selber auch.
Drittens: man bedarf der Leitung
Und der männlichen Begleitung;
Weil bekanntlich manche Sachen,
Welche große Freude machen,
Mädchen nicht allein verstehn;
Als da ist: ins Wirtshaus gehn. –
Freilich oft, wenn man auch möchte,
Findet sich nicht gleich der Rechte;
Und derweil man so allein,
Sucht man sonst sich zu zerstreun.
Lene hat zu diesem Zwecke
Zwei Kanari in der Hecke,
Welche Niep und Piep genannt.
Zierlich fraßen aus der Hand
Diese goldignetten Mätzchen;
[242] Aber Mienzi hieß das Kätzchen.
Einstens kam auch auf Besuch
Kater Munzel, frech und klug.
Alsobald so ist man einig. –
Festentschlossen, still und schleunig
Ziehen sie voll Mörderdrang
Niep und Piep die Hälse lang.[243]
Drauf so schreiten sie ganz heiter
Zu dem Kaffeetische weiter. –
Mienzi mit dem sanften Tätzchen
Nimmt die guten Zuckerplätzchen.
Aber Munzels dicker Kopf
Quält sich in den Sahnetopf.
Grad kommt Lene, welche drüben
Eben einen Brief geschrieben,
Mit dem Licht und Siegellack
Und bemerkt das Lumpenpack.
Mienzi kann noch schnell enteilen,
Aber Munzel muß verweilen,
[244] Denn es sitzt an Munzels Kopf
Festgeschmiegt der Sahnetopf.
Blindlings stürzt er sich zur Erd'.
Klacks! – Der Topf ist nichts mehr wert.
[245] Aufs Büfett geht es jetzunder;
Flaschen, Gläser – alles runter!
Sehr in Ängsten sieht man ihn
Aufwärts sausen am Kamin.
[246] Ach, – Die Venus ist perdü –
Klickeradoms! – von Medici!
Weh! Mit einem Satze ist er
Vom Kamine an dem Lüster;
[247] Und da geht es Klingelingelings!
Unten liegt das teure Dings.
Schnell sucht Munzel zu entrinnen,
Doch er kann nicht mehr von hinnen. –
[248] Wehe, Munzel! – Lene kriegt
Tute, Siegellack und Licht.
Allererst tut man die Tute
An des Schweifs behaarte Rute;
Dann das Lack, nachdem's erhitzt,
Auf die Tute, bis sie sitzt.
[249]
Drauf hält man das Licht daran,
Daß die Tute brennen kann.
Jetzt läßt man den Munzel los –
Mau! – Wie ist die Hitze groß!
[250]
Ausgewählte Ausgaben von
Die Fromme Helene
|
Buchempfehlung
In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro