Das brave Lenchen

Das brave Lenchen

[363] Auf einem Schlosse fern im Holz

wohnt eine Frau gar reich und stolz.

In einem Hüttchen arm und klein

wohnt Lenchen und ihr Mütterlein.

Das Mütterlein ist schwach und krank

und ohne Geld und Speis und Trank.


Da denkt das Lenchen: »Ach, ich lauf

um Hilfe nach dem Schloß hinauf!«


Das brave Lenchen

[363] Es nimmt sich nichts wie einen Schnitt

vom allerletzten Brote mit.

Und wie es kommt bis an den Steg,

sitzt da ein armer Hund am Weg.

»Ach!« – ruft der Hund – »mein Herr ist tot;

hätt' ich doch nur ein Stückchen Brot!«


Das brave Lenchen

»Hier!« – spricht das Lenchen – »hast du was!«

zieht's Brot hervor und gibt ihm das.

Und wie es weiter fortgerannt,


Das brave Lenchen

liegt da ein Fisch auf trocknem Sand.

»Ach!« – ruft der Fisch und zappelt sehr –

»wenn ich doch nur im Wasser wär!«


Das brave Lenchen

[364] Gleich bückt das Lenchen sich danach

und trägt ihn wieder in den Bach.

Dann ist es weiter fortgerannt,

bis es die Frau im Schlosse fand. –


Das brave Lenchen

»Ach, liebe Frau, erbarmt euch mein,

ich hab ein krankes Mütterlein!«


Das brave Lenchen

[365] »Fort!« – schreit die Frau – »nichts gibt es hier!«

und jagt das Lenchen vor die Tür.


Das brave Lenchen

Das Lenchen sieht vor Tränen kaum

und setzt sich stumm an einen Baum.

Und horch, im hohlen Baum erklingt

ein feines Stimmlein, welches singt:

»Mach auf, mach auf, ich bitt gar schön,

möcht gern die liebe Sonne sehn!«

Im Baum da ist ein Löchlein rund,

ist zugesteckt mit einem Spund.


Das brave Lenchen

Den zieht das Lenchen aus und spricht:

»So komm ans Licht, du armer Wicht!«

Sieh da, und eine Schlange schmiegt

sich aus dem Baum hervor und kriecht

und schlingt und schlängelt mit Gezisch

sich in das dichte Waldgebüsch,

und raschelt da herum und kam

und bracht ein Blümlein wundersam.
[366]

Das brave Lenchen

O Krankentrost, du Blümlein rot,

Herztulipan, hilf aus der Not!


Das Lenchen nimmt das Blümlein an

und eilt nach Haus so schnell es kann.


Das brave Lenchen

Und wie es kommt bis über'n Steg,

tritt ihm ein Räuber in den Weg.

Dem armen Lenchen stockt das Blut,

läßt's Blümlein fallen in die Flut.


Das brave Lenchen

Das brave Lenchen

[367] Da kommt der Hund und jagt zum Glück

Den Räuber in den Wald zurück.


Das brave Lenchen

Und unser Fisch ist auch nicht faul;

er trägt die Blume in dem Maul.


Das brave Lenchen

[368] Jetzt läuft das Lenchen schnell hinein

zum lieben kranken Mütterlein,

legt's Blümlein ihr auf Herz und Mund,

macht's Mütterlein sogleich gesund;

heilt auch noch sonst viel kranke Leut

und ist aus aller Not befreit.


Der Räuber aber hat bei Nacht

Die Frau im Schlosse totgemacht.


Das brave Lenchen

Quelle:
Wilhelm Busch: Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bde. I-IV, Band 2, Hamburg 1959, S. 363-370.
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