76. An Nanda und Letty Keßler

[57] 76. An Nanda und Letty Keßler


Wiedensahl d. 14 September 1870.


Nanda und Letty, meine Lieben!


Viel schönen Dank, daß Ihr geschrieben!


Ich höre mit Zufriedenheit,

Daß Ihr noch Alle munter seid

Und habt seitdem und währenddeßen

Den Onkel Wilhelm nicht vergeßen,

Der dahingegen, wie Ihr wißt,

Euch auch gar sehr gewogen ist.


Vieloftmals denk ich stillerfreut

Der letzten schönen Frühlingszeit;

Wie da die Knospen aufgebrochen,

Die Blumen aus der Erde krochen.

Den Pfirsich= und den Apfelbaum

Sah man vor lauter Blüthen kaum;

Und freudig summt und brummt in ihnen

Das leichtbeschwingte Volk der Bienen,

Die, diesen Herbst vor allen Dingen,

Dem Docter süßen Honig bringen.


Wie schnell wuchs da im Gartenraum

Nanda ihr guter Birnenbaum.

Der wird nun wohl in diesen Tagen

Schon große, gelbe Birnen tragen.


Und auch die Bäumcher, welche heuer

Ganz dicht am östlichen Gemäuer

Die Letty oft und unverdroßen

Mit ihrem Kännchen hat begoßen,

Die sind nun auch wohl schlank und schön

Und können über die Mauer sehn.


Am schönsten aber – wißt Ihr's noch? –

Am allerschönsten war es doch,

Wenn wir die schönen Nachmittäg,

Am Tische dort im Gartenweg,

Den Maiwein in die Gläser goßen

Und ihn dann still und unverdroßen

Mit Freudigkeit hinunterschlürften –

Wenn wir das nur bald wieder dürften!!


Doch das ist leider nun vorbei!

Vorüber ist der schöne Mai!

Längst hat der Sommer angefangen,

Bald kommt der Herbst herangegangen;

Es weht der Wind, der Regen fällt,

Und voll von Krieg ist nun die Welt.


Ja ja! Das ist nicht angenehm!!

Indeß trotz diesem und trotzdem

Gedenk ich doch in dem October

Von meinem Vaterland Hannober

Zurück in Frankfurt an dem Main –

Ihr Kinnercher! – bei Euch zu sein.


Nun lebt recht wohl! Und grüßt mir ja

Zuerst die gute Frau Mama![58]

Grüßt auch die brave Schwester Lina

Und dann den Johann und die Mina,

Und Bruder Hugo und den Harry!

Wenn Ihr sie seht, grüßt auch die Mary!

Und – liebe Nanda, liebe Letty!

Vergeßt mir's nicht! – und grüßt die Betty!


Also adieu! – Es wird schon donkel;

Drum schließt den Brief der gute Onkel!

Doch einmal wird noch eingetunkt –

Seht her! – Jetzt kommt der große Punkt76. An Nanda und Letty Keßler


Euer stets getreuer

Onkel Wilhelm.


N.B.

Eh ich's vergeße! – Sagt, wie schaut's

Denn aus mit der Familie Schnauz?

Sind Schlupp und Tapp und Piff noch immer zu Haus?

Oder sind sie schon in die weite, weite Welt hinaus??

Quelle:
Busch, Wilhelm: Sämtliche Briefe. Band I: Briefe 1841 bis 1892, Hannover 1968, S. 57-59.
Lizenz:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Gedichte (Die Ausgabe von 1844)

Gedichte (Die Ausgabe von 1844)

Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon