Abend-Lied

[193] Gott, du lässest mich erreichen

Abermahl die Abend-Zeit,

Das ist mir ein neues Zeichen

Deiner Lieb' und Gütigkeit.

Laß itzund mein schlechtes Singen

Durch die trübe Wolcken dringen,

Und sey gegen diese Nacht

Ferner auf mein Heyl bedacht.
[193]

Neige dich zu meinem Bitten,

Stoß nicht diß mein Opffer weg.

Hab' ich gleich offt überschritten

Deiner Wahrheit heil'gen Steg,

So verfluch ich meine Sünden,

Und will mich mit dir verbinden,

Reiß du nur aus meiner Brust

Alle Wurtzel böser Lust.


Herr, es sey mein Leib und Leben,

Und was du mir sonst geschenckt,

Deiner Allmacht übergeben,

Die den Himmel selbst beschränckt.

Laß um mich und um die Meinen

Einen Strahl der Gottheit scheinen,

Der, was deinen Namen trägt,

Als dein Gut zu schätzen pflegt.


Laß mich mildiglich bethauen,

Deines Segens Uberfluß,

Schirme mich für Angst und Grauen,

Wende Schaden und Verdruß,

Brand, und sonst betrübte Fälle.

Zeichne meines Hauses Schwelle,

Daß hier keinen nicht der Schlag

Des Verderbers treffen mag.


Wircke du in meinen Sinnen,

Wohne mir im Schatten bey,

Daß mein schlaffendes Beginnen

Dir auch nicht zu wider sey.

Schaffe, daß ich schon auf Erden

Mag ein solcher Tempel werden,

Der nur dir, und nicht der Welt,

Ewig Licht und Feuer hält.
[194]

Geht, ihr meine müde Glieder,

Geht, und senckt euch in die Ruh,

Und, regt ihr euch morgen wieder,

Schreibt es eurem Schöpffer zu,

Der so treue Wacht gehalten.

Wenn ihr aber müßt erkalten,

Wird des bittern Todes Pein

Doch der Seelen Vortheil seyn.


Quelle:
Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz, Kritische Ausgabe: Gedichte, Tübingen 1982, S. 193-195.
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