Der Schatz des Toten

[841] Es ist um den Tag, da Maria übers Gebirge ging – Mariä Heimsuchung.

Und es sind heute grad zwölf Wochen übers Jahr, daß der Anderl, der Bub vom Sonnleithnerhof in Au, als vermißt gemeldet wurde.

Nun sitzt die alte Sonnleithnerin in der großen Eßstube und redet von ihm. Von ihrem Sohn, dem Träger ihres Namens, dem Erben des Sonnleithnerhofs!

Und weil heute auch die gesetzliche Frist der Vermißtenmeldung verflossen und die amtliche Todeserklärung erfolgt ist, sind auch die drei Sonnleithnertöchter gekommen: die Lisl, die Afra und die Nanndl.

Warum sie da sind?

Um die Schätze des Anderl zu teilen.

Denn was soll das schöne Geld und das Gewand, die Wäsche und all die anderen Dinge noch länger droben in der verwaisten Kammer liegen und hängen, da man sie doch so gut für den Eheherrn daheim brauchen könnt!

Zum Beispiel die Afra, die älteste Schwester des Anderl. Die sagt's ganz ehrlich: »Mei Mo, der Jakl, hat schier gar koa g'scheits Feiertaggwand nimmer. Wie leicht kunnt eahm da d' Muatta vom Anderl oans geb'n

Und ihre Schwester, die Lisl, meint auch: »I woaß 's net; lieber laßt 's die guat Wasch im Kommodkasten drob'n z'grundgeh'n, d' Muatta, als daß s' oan a Trumm oder zwoa davon geb'n tät!«

Und erst die Nanndl!

Wie die greint und brummt!

»Inseroana derf Tag und Nacht schinakln und arbatn, daß ma sich a kloans bisserl aus die Schuld'n außawerklt, und da droben liegt 's Geld haufaweis' in der Truch und dergrawt! Da kunnt jetz no viel dahinter sein, wann oan d'[841] Muatta mit a paar tausend Markl unter d' Arm greifen tät!«

Es hat also doch jede von den drei Töchtern Grund und Ursach genug gehabt, um heute, nach dem Gottesdienst und der Einkehr beim Schimmelwirt, die alte Sonnleithnerin heimzusuchen.

Und damit die Sache mehr Gewicht erhält, nimmt jede auch gleich ihren gestrengen Eheherrn mit.

Also sitzen sie beisammen und suchen nach einer Einleitung.

»Schee is's gwen heunt in der Kirch!« beginnt die Afra.

»Aber grad b'sunders viel san net zum Beichten ganga«, entgegnet ihr die Lisl, »für dees, daß d' Mariä Hoamsuchung is.«

Doch der Gatte von der Nanndl meint: »No, es is alleweil a scheena Haufa gwen! Und hübsch viel Mannsbilder.«

»Ja, ja. Viel Mannsbilder. A scheena Haufa«, wiederholt da die Alte. »Bloß mei Bua, der Anderl, is net dabei gwen.«

Und halblaut, mehr zu sich selbst gewendet, fährt sie fort:

»Mei, wo mag er jetzt wohl sein, insa Bua?«

Aber ihre Kinder haben's wohl gehört.

Und da kommt sie ihren Töchtern gerade recht mit solchen Reden und Fragen!

»Wo werd er sein?« fährt die Lisl in die Höh. »Daß d' jetzt alleweil no net aufhörst mit dera Fragerei, Muatta!«

Und die Nanndl mischt sich auch gleich drein: »Mei, der liegt doch lang anorts wo eingrab'n da hint im Rußland! Wär viel gscheiter, du tätst a bißl mehra an uns denken als wia an Anderl!« Jawohl! Da hätte die Nanndl auch ganz recht! stimmen ihr die Mannsbilder bei. Man solle die Toten im Frieden lassen und sich lieber um die Lebendigen kümmern! Dem Lebendigen gehört das Recht![842]

Besonders, wenn auf der einen Seite der Überfluß sei und auf der andern der Mangel!

»Oder kannst du vielleicht sag'n, daß 's uns guat geht?« fragt die Afra herausfordernd.

Die Alte zieht an den Zipfeln ihres Kopftuches.

»I sag gar nix. I sag grad so viel und net mehra als: i gib nix her von dem Sach. Weil i net hab'n will, daß der Bua hoamkimmt und es is nix mehr da.«

Das ist freilich keine schöne Antwort für die sechs!

Und die Sonnleithnerin braucht sich nicht zu wundern über das, was nun kommt.

Der Jakl springt erregt in die Höhe: »Was? Du gibst nix her, sagst? – Wo die Gschicht amtli und grichtli und notarisch gmacht is, daß der Anderl tot is?« Und der Michel von der Lisl tut auch nicht viel feiner!

»Nachher willst wohl die Fetzen aufsparn in alle Ewigkeit-Amen? Und unseroana soll derweil nackend in d' Hosen eineschliafa?«

Der von der Nanndl aber ist der gröbste.

Der steht auf und sagt: »Bal sie 's net guatwillig hergibt, nachher müassen mir 's ins halt selber nehma!«

Und er geht wirklich an die Tür!

Aber nicht weiter.

Denn dies ist nicht nach dem Wunsch der anderen.

Ein jeder kennt ja das Gerechtigkeitsgefühl seines Nächsten. Daß der, welcher etwas erwischt, eben alles nimmt.

Und daß die andern dann das Nachsehen haben.

Darum will eben jeder der erste sein, der was erwischt.

Was hilft's nun, daß die Sonnleithnerin zetert und greint, jammert und schreit? Nichts.

Es geht an die Erbteilung. Die Kammertür muß daran glauben, daß hier ein Wille zur Tat ist, und die Kastentür auch.

Und da plötzlich jeder einen sauberen Anzug vonnöten[843] hätt und es jeden nach dem Besitz der anderen Herrlichkeiten gelüstet, so ist es leicht zu verstehen, daß bald bei dem einen, bald bei dem andern die Stiefelstöckel sich nach oben kehren und der Kopf nach unten – daß die Locken der Sonnleithnertöchter in der Kammer herumfliegen und die Silbertaler und Goldstücke auf den Boden rollen, daß aus der sauberen Stube des Anderl ein Kriegsschauplatz wird – ein Greuel der Verwüstung. – – –

Etliche Stunden nach dieser Erbteilung steht die alte Sonnleithnerin leise weinend vor dem Grabhügel ihres seligen Mannes und denkt: »Mei, wennst halt no da wärst. Nachher hätt dees net gschehng kinna. Wenn er halt no lebn tät, der Bua! Moanst net, daß er no lebt, Vata?«... Indem sie so sinniert und langsam eine Zähre um die andere ihr Brusttuch netzt, ertönt aus der Kirche das Beten der Gemeinde. »Der von den Toten auferstanden ist ... Der uns den heiligen Geist gesendet hat ... Der dich, o Jungfrau ...« Der Rosenkranz. –

Da tritt ein Mann durch die Gottesackertür und sucht langsam die Reihen der Gräber durch, bis er plötzlich die Sonnleithnerin erblickt.

Rasch ist er bei ihr: »Muatta!«

»Anderl!«...

Der Bub ist heimgekommen – hoch preiset die Seele der Mutter den Herrn ...

Die Sonnleithnertöchter aber haben vergebens gestritten um der Schätze eines Toten willen ...

Denn er lebt.

Und dem Lebendigen gehört das Recht![844]

Quelle:
Lena Christ: Werke. München 1972, S. 841-845.
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