Nachtgebet

[45] Die Rosen duften, die Luft weht lind,

Der Flieder am Fenster rauscht,

Die Flechten glättet das junge Kind

Und summet, kichert und lauscht.


Sie lauschet hinab zum grünen See

Und lächelt in's Mondenlicht,

So keusch wie der weiche Blüthenschnee

Ist auch ihr liebes Gesicht.


Und leise wie in der Sommernacht

Der Thau von den Blättern tropft,

Wie die Lerchen zwitschern schlummersacht,

So leise das Herz ihr klopft.


Sie schließt das Fenster und löscht das Licht,

Sinkt vor dem Bett in die Knie,

Ihr lächelndes rothes Mündlein spricht:

»Gegrüßet seist Du, Marie.« ...

Quelle:
Ada Christen: Schatten, Hamburg 1872, S. 45-46.
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