[Jetzt greift der Sänger wieder sinnend in die Leier]

[137] Jetzt greift der Sänger wieder sinnend in die Leier,

Es tönt: »Die kurzen Schritte, die mir noch gegeben,

Vollende ich, fast tastend schon, bei dieser Feier,

Ihr könnt sie dann nach jeder Richtung weiterleben.


Im Erdendasein giebt es nie ein ganzes Scheitern,

Ich werdet bald, was ich in Euch nur vorentwickelt,

Noch herrlicher, als ich es ahnen kann, erweitern,

Was thut es drum, wird auch mein Leib von Euch zerstückelt!


Ich danke Euch, Ihr blinden, rasenden Mänaden,

Ihr müßt ja doch in Euch von mir etwas begraben,

Ihr werdet allen wilden Haß gar bald entladen,

Und Eure Söhne werden holde Sonnenknaben!


Was Liebe und was Haß! Ich will der Flamme Wirkung!

Ich weiß, Ihr selber müßt mich wiederum erschaffen,[137]

Bald dring ich abermals in menschliche Bezirkung:

Aus Eurem Wesen wird sich meines jung entraffen!


Im andern Leben fühlen wir die Ursachen der Dinge

Und sehnen dort uns, ihre Folgen zu erblicken,

Doch sind wir hier, so ziehn wir um uns selber Ringe,

Und Kleinlichkeiten können fast den Geist ersticken.


Es will sich die Natur mit mir nicht mehr gedulden,

Ich habe Euch, was meine Seele sah, gegeben,

Nun schein ich Euch dafür auch meinen Leib zu schulden,

Damit sich Tausende von meiner Art erheben.


Ja, wer da suchen wird, sein inneres Licht zu finden,

Der ist mein Sohn, den ich mit Euridiken zeugte:

In dem wird nie die heilige Kindlichkeit verschwinden,

Ob Kummer oder Alter ihn auch niederbeugte.


Was Ewigkeit in sich verschließt kann nie veralten,

Ein Sonnensohn im Grunde nicht zum Greise werden:

Verbrüderte Geschlechter schüren und verwalten

In sich die hehre Gluth von allen Sonnenheerden.


Der Mond war ein Versuch, die Sonne zu versöhnen,

Die Erde wollte ihn der fernen Mutter schenken,

Doch kann des Mondes Licht die Nachte wohl verschönen,

Doch nicht mit Milde Erdgeschicke lenken.


Nun will die Erde einen zweiten Mond gebären,

Doch zeugt ihr inneres Erschüttern nur Propheten,

Die ihren Völkern die Entstehungsliebe lehren

Und Urgebote menschlich unter Euch vertreten.


Im Tropenlande kommt der Erdensohn stets wieder,

Um durch den Geist die Bruchnatur zu überwinden,[138]

Die Thiere selbst verstehen seine Freiheitslieder

Und alle Überhebungen in ihm verschwinden!


An unseren Gestaden kommt er urgespalten,

Den irdischweiblicheren Theil muß ich vertreten,

Der männliche wird sich viel später erst gestalten

Und durch den Geist die Thierheiten in Euch zertreten.


Da wir uns schon, durch das Geschlecht getrennt, erheben,

So müssen wir gemartert und zerfleischt verenden,

Im Land des Bären aber wird das ewige Leben

Die Flammen seiner Gnadenpracht aus Allen spenden!«

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 3, München; Leipzig 1910, S. 137-139.
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