Das verlorene Schwesterlein und die drei Brüder

[421] (Nach einer Volksliedstrophe.)


»O, Söhne mein, o, Söhne drei,

Verschwunden ist, dieweil ihr fern

Im Waffendienst für euren Herrn,

Verschwunden euer Schwesterlein!

Das bringt der Mutter Todespein!

Schafft ihr das Kind nicht wieder bei,

Schafft ihr nicht wieder bei das Kind,

So wein' ich mir die Augen blind!

Zieht aus und sucht das Gretelein!«
[421]

»Ach Schwesterlein, ach Schwesterlein!1

Wie hast du dich so weit hinaus

Verloren von dem Vaterhaus!

Wir Brüder tragen groß Begehr

Und möchten gerne bei dir sein

Und kennen ach! die Wege nicht

Und finden ach! die Stege nicht

Und reiten in die Welt hinein

Und irren fragend im Land umher.


Wie war so sonnenhell dein Haar!

Wie war dein blaues Aug' so klar!

Ein' Rosenknospe war dein Mund,

Und läg' ein Herz zu Tode wund, –

Dein Lächeln macht' es flugs gesund!

Wir suchen dich mit Horn und Hund!

Wir suchen dich in Busch und Dorn,

Wir schauen bang in Bach und Born,

Wir rufen dich mit Hund und Horn.


Sag an, du Zecher hinter'm Krug,

Sag an, du Bauer hinter'm Pflug,

Du Fuhrmann in dem Saumroßzug,

Sag an im Wald, du Kräuterfrau,

Du Türmer hoch am Zinnenbau,

Noch höher, Falk im Ätherblau,

– Du hast die allerschärfste Schau,

Sagt, saht ihr sie denn nirgendwo? –

So werden wir niemals wieder froh!« – –


Lang' ritten sie, landaus, landein,

Und fanden nicht ihr Schwesterlein.

Die ältern Brüder weinten sehr;

Des Jüngsten Aug' blieb tränenleer,[422]

Da schalten ihn die beiden schwer.

Er aber schwieg. – Und einst im Traum

Sang ihm ein Vöglein aus dem Baum:

»Ich weiß: – du liebst sie noch viel mehr:

Schau, was hier gleißt im Sonnenschein!«


Vom Schlaf fuhr auf jung Reinhold da,

Und wie er staunend um sich sah,

Da, an dem Hagedorn, ganz nah,

Da hing ein sonnengolden Haar!

Wie froh sein Herz erschrocken war!

»Wach auf!« rief er, »du Brüderpaar,

Solch Haar wie eitel Sonnenschein

Trägt einzig unser Schwesterlein: –

Hier ging des Wegs das Gretelein!«


»Schau, durch das feuchte Moos ein Pfad,

Das sind die Schrittlein, die sie trat:

So schmalen Fuß hat sie allein!

Hier, vor dem Berg aus schwarzem Stein,

Erlischt die Spur: – hier muß sie sein!«

Doch unwirsch sprach das ältre Paar:

»Du Bruder Träumer! Was nicht gar!

Manch' Mädchen wohl hat solches Haar,

Manch' Mädchen auch solch Füßchen klein.


Wir suchten nun ein volles Jahr. –

Sie ist verloren, das ist klar. –

Wir kehren heim. – Wir geben's auf. –

Die Welt will gehen ihren Lauf;

Wir müssen sorgen für Hab und Haus.«

Und sie ritten aus dem Tann hinaus. –

Doch Reinhold zog sein Schwert und sprach:

»Ich forsche meiner Schwester nach,

Bis dieser Stahl den Berg durchstach.
[423]

Vom Gretlein ich nicht lassen mag, –

Ich suche bis zum jüngsten Tag.«

Da kracht im Berg ein Donnerschlag:

Auf springt das schwarze Felsgestein,

Und sieh, da steht das Gretelein,

So schön, wie es noch niemals war,

Umflutet ganz vom Sonnenhaar:

»Hab Dank! Nun ist der Zauber aus.

O, bring zur Mutter mich nach Haus!«


Da hob jung Reinhold sie aufs Roß

Und führte sie ins Väterschloß

Und rief: »Hei Bauer hinter'm Pflug,

Fuhrmann im Zug und Gast beim Krug,

Hei Türmer hoch am Zinnenbau,

Und Falke du im Himmelsblau –,

– Du hast die allerschärfste Schau: –,

Doch Froh'res ist euch nicht bekannt,

Als der Bruder, der die Schwester fand.«

Fußnoten

1 Diese zweite ist die Strophe des Volksliedes.


Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 421-424.
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